Erna sitzt auf der Bank und schaut nachdenklich auf die riesige Baustelle vor ihr. „Wohnen im Grünen“, hatten sie gesagt. Auch ihre Tochter war ganz begeistert und konnte nicht schnell genug die Antragsformulare beschaffen. „Wohnen im Grünen“, sagte auch der Verkäufer der Immobilienfirma und hatte es sehr eilig die Kaufverträge unterzeichnen zu lassen. Auch die Stadt war begeistert. „Wohnen im Grünen“ ist die Lösung um das ewige Versorgungsproblem mit den Alten aus der Welt zu schaffen, propagierte sie auf jedem Bürgerforum. „Wohnen im Grünen“ liest die Alte auf einer großen Tafel vor dem Betonbau ihr gegenüber.
Seit einem Monat wohnt sie jetzt hier. Im Grünen, wie gesagt. Lkw mit Erdaushub donnern jeden Tag am weiten Portal des „Heimes für betreutes Wohnen" vorbei. Da, wo früher rote Mohnblumen wuchsen und Schafe gemächlich die wilden Wiesen abweideten, türmen sich Erdhaufen neben tiefen Baugruben. Auch eine Zeile mit Reihenhäusern steht schon da. Wie man sagt, wird es auch große Mehrfamilienhäuser mit Sozialwohnungen geben. Mit Russen und so, sie wissen schon. Erna überlegt, ob sie noch etwas von ihrem Russisch kann. Während des Krieges hatten sie auf ihrem Hof im Nachbardorf zwei Kriegsgefangene aus der Ukraine, als Arbeitshilfen auf dem Feld. Auch die wohnten im Grünen, direkt neben dem Hühnerstall. Das eine oder andere Wort fällt ihr schon noch ein. „Sdrawstwujte!", „Guten Tag!" oder „Doswidanja!", „Auf Wiedersehen!". Sie war schon immer höflich, da kann keiner was sagen.
Ratter, ratter, ratter, der Presslufthammer klopft das angefangene Straßenstück, welches in die Baustelle führt, wieder auf. In ihrem Ohren klingt der monotone Klang wie Musik. „Ba, ba, ba, ba! Ba, ba, ba, ba!“, summt sie Beethovens Sinfonie vor sich her. Ohne Hörgerät lebt es sich doch viel leichter. Unruhig schiebt sie ihren recht breiten Hintern auf den Eisenstäben der neuzeitlichen Bank hin und her. Schön sind die Zimmer schon und durch die Fenster kann man auch noch die jetzt weit entfernten Wiesen und Felder erkennen. Vorausgesetzt man hat klugerweise ein Apartment ab dem dritten Stockwerk gewählt. Auch Fahrstuhl und behindertengerechte Bauweise wurden beachtet. Keine Absätze und Hindernisse für die Rollstühle und kleinen Wägelchen der gehbehinderten Einwohner waren vorhanden. Vorbildlich!
Erna rollt sich ihren Wagen bis dicht vor die gichtgeplagten Knie heran. Mit einer Hand stützt sie sich auf die kalten Eisenstangen der Bank, mit der Anderen zieht sie sich am Griff des Gefährtes nach oben. Es ist schon ein Kreuz mit diesen Beinen. Ein vorbeifahrender Pkw drückt ihren Rocksaum im Zugwind nach oben. Noch einer, die alte Frau streift den Saum wieder nach unten.
„Wohnen im Grünen", Erna schaut interessiert nach vorn. Die kleine Kreuzung vor ihr ist mit Fahrzeugen voll gestellt. Keiner weiß augenscheinlich wer zuerst fahren soll und vor allem wie. Dahinter vier, fünf Geschäfte. Die dort abgestellten Pkw machen es unmöglich die verordneten Vorfahrtsregeln noch zu beachten. Damit sind wohl einige der einheimischen Fahrer überfordert. Jahrelang gab es hier keinen Verkehr, auch keine Geschäfte, zum Leidwesen der Anwohner. Heute sieht das anders aus;
zum Leidwesen der Anwohner die damit wohl noch nicht zurechtkommen.
Erna überlegt, wie sie am Besten über die Straße kommt. Das einladende Portal zu ihrem neuen Heim liegt auf der anderen Seite der Straße. Sie muss neben der viel befahrenen Betonfläche noch zwei hohe Bürgersteigabsätze überwinden. Rückwärts setzt sie den ersten Fuß auf die Chaussee, zieht den Zweiten vorsichtig nach. Der Wagen kommt als Letztes dran. Kopfschüttelnd schaut ein Passant von Gegenüber zu. Nein, kein Russe, die waren noch nicht da. Der erste Autofahrer hupt ungeduldig, bleibt aber vor ihr stehen. Von der Gegenrichtung kommt, nach Auflösung des Kreuzungs-Rätsels der nächste Lkw. Gelangweilt schaut ihr der Fahrer von oben zu.
Erna schiebt das Wägelchen über die Straße und erklimmt in umgekehrte Reihenfolge den nächsten Bürgersteig. Der vorbeifahrende Lkw schiebt noch eine Staubwolke nach.
Als Erna ihr Zimmer erreicht, schaut sie wieder durch das Fenster im fünften Stock. In der Ferne leuchten die Felder in der Sonne und grüne Wiesen markieren den Rand der Stadt. „Wohnen im Grünen, wie recht sie doch alle haben!“, dachte sie noch, bevor sie den Fernseher einschaltet.