Der Tod aus der Teekiste
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März 2003
Ich bin der wahre Weinstock!
von Ingrid Fohlmeister


Erinnerungen an Köln 1968

Tak-tak-tak—tatata-tak! Nebel gleiten und fliehen. Bergkup-pen kommen angeschwommen. Jäger rasen den Horizont entlang. Über dem massiven Rücken des stolzen Biscargui erscheinen die Ketten der He111 und der Do17, überqueren das Tal und greifen im Tief-flug an, tak-tatatak-tatatatak, reißen die Erde auf. Ein großar-tiges Schauspiel! Die Offensive hat begonnen!
Viva Espania! Viva Alemania!
Es lebe Christus, der König! Allerseligste Jungfrau, hilf deinen Rittern zum Sieg über den bösen Feind!
Wummm! Lichterloh brennt die Stadt. Rollende Bombenhagel de-cken den Angriffsraum wie einen Teppich. Ja, wahrlich, Wunder werde ich kommen lassen am Himmel oben und Zeichen auf der Erde unten. Blut, Feuer und Qualm. Seht da! Fluchtartig verläßt der rote Feind seine schützenden Gräben, vom Feuer der Tiefflieger verfolgt. Moralische Unterlegenheit bricht sich Bahn! Jagt sie, bis nichts mehr sich regt!
Los Rochos, die Roten!
Endlich! Die Wallfahrtsstadt, die sie zerstörten, ihren Hän-den entrissen! Einem kostbaren Stein gleicht ihr Lichtglanz, wie kristallheller Jaspis. Den Rest gaben ihr unsere Bomben. Den Rest für Rochos, Rote! Und der auf dem Thron sitzt, spricht: Siehe, ich mache alles neu!
Viva Guernica!
Ruhm der glorreichen Legion Condor!
Ehre sei Gott in der Höhe! Ave Maria, Gottesmutter!
Tak-tak-tak-tak-Wummm!
Dr. Wilhelm Nüsslein, Pfarrer der Katholischen Studentenge-meinde an der Berrenrather Straße, schreckte in seinem bequemen Sessel hoch. Das Brevier, in dem er gebetet hatte, war auf den Boden gefallen. Wummm! Nervtötend, dieser Baulärm. Seltsam, einen Augenblick hatte er gedacht, er sei in..., damals, 1937. Er lä-chelte. Doch nein, das waren nur Bagger und Preßlufthämmer... Die Ausschachtungsarbeiten für die neue Kirche schritten rasch voran. Nicht rasch genug für ihn! Sein Lächeln vertiefte sich.
Er sah es schon vor sich, was sie schreiben würden in der ‘Kölnischen Rundschau’, im ‘Kölner Stadtanzeiger’ und vielleicht sogar im ‘Express’, selbst wenn er es ihnen in die Feder diktie-ren müßte... Kontemplatives Gebet in Beton, sakrale Kunst der In-nerlichkeit, die spirituelle Dimension in der Architektur!
Ich bin der wahre Weinstock und ihr seid die Reben.
Ein Bauwerk, erhaben wie ein Baum. Im Dom seines üppigen Ge-ästs würden gregorianische Choräle ihre an- und abschwellenden Melismen entfalten. Ach, dieses Gefühl von immer schon dagewesen und nie enden wollen, solange sie dahinströmen, und das schmerz-liche Ungenügen, sobald sie verklingen!
Denn sie hatten keinen Wein mehr!
Erst, wenn die Kirche stand, würde man von einer Gemeinde sprechen können. Studentenheime, Zentrum, Pfarrerbungalow waren bis jetzt gebaut. Papst-Johannes-Burse hieß der gesamte Komplex. Den Namen hatte er geprägt.
Bursa oder Börse hatte man im Mittelalter die Studentenwohn-heime genannt, weil sie durch Geldsammlungen unterhalten wurden. Aber konnte man den Namen nicht auch verstehen als Versammlung von Gedanken, Gebeten, Visionen, Ideen, ja, als Sammlung aller menschlichen Kräfte wider den bösen Feind?
So war der erste Teil des Namens auch keineswegs als Huldi-gung für Papst Johannes XXIII. gemeint, wie die meisten Leute glaubten. Dieser unselige Papst, der so leichtfertig dem Moder-nismus die Schleusen geöffnet hatte! Oh nein, seinen Vorgänger gleichen Namens hatte er im Sinn, der vor 650 Jahren die ‘Spiri-tualen’ hinrichten ließ, jene Freigeister des Franziskanerordens, die, von Gleichheit und radikaler Armut faselnd, die Kraft des beschaulichen Gebetes fehl leiteten, um damit eine antiklerikale Massenbewegung auszulösen.
Auch jetzt war wieder eine schlimme Zeit. Den Aufwind nach dem Dutschke-Aufruhr vor einem Monat nutzend, hatten linke Kräfte einen Sternmarsch auf Bonn gegen die Notstandsgesetze organi-siert. Hunderttausende waren auf die rote Propaganda hereingefal-len! Das Schlimmste aber war, daß 500 Pfarrer die Roten durch ih-re Unterschrift öffentlich unterstützt hatten! Das war bereits der Notstand - geistiger und geistlicher Notstand!
Es war an der Zeit, daß die Papst-Johannes-Burse ihre Kirche bekam. Vorläufig, allerdings, war da nur ein Loch - und es gab Anfeindungen...
Er fühlte ein Augenpaar auf sich ruhen.
‘Auch du, Mutter, wirst bald Einzug halten können!’ Wie er sie liebte! Die länglichen Wangen, die königliche Stirn...
Die Marienstatue an der Wand war eine Kopie der schwarzen Madonna aus St. Maria in der Kupfergasse. Das dunkle Holz des O-riginals färbe sich vor Kummer noch dunkler, hieß es, wenn die Kölner sündigten. Ihr Haupt war gekrönt von einer dreistöckigen Tiara und umkränzt mit einem goldenen Sternenreigen. Bald würde sie sehr stolz auf ihn sein!
‘Und was ist mit dem Geld, Wilhelm?’ Irrte er sich oder lag ein ironischer Zug um ihre knospenden Lippen?
Murrend mischten sich andere Stimmen ein.
‘Die Obdachlosenarbeit der Gemeinde mußte mangels Geld ein-gestellt werden!’
Wie konnte man Menschen Obdach gewähren, wenn Gott selbst heimatlos und herumgestoßen war?
Geld, immer nur Geld!
Hastig schlug er wieder sein Brevier auf. Der Römerbrief des Apostel Paulus war heute dran: Der Geist ist willig, aber das Fleisch... Schwül war die Nachmittagssonne, dabei war es erst Mitte Mai! Unmöglich, die Gedanken auf dem dornigen Pfad des Bre-viergebets zu halten. Immer wieder tauchten sie ab ins schattige Dunkel der Erinnerungen.
Nicht immer standen die schönsten Altäre in Kirchen und Ka-thedralen. Wie erhebend war eine Messe unter Gottes freiem Him-mel, eine Messe vor geschmücktem Feldaltar!
Seid gegrüßt, ihr Kämpfer, die ihr uns von dem roten Joch befreit! Der Erzbischof schreitet die Reihen ab.
Für Gott und General Franco bis zum letzten Atemzug!
Degen mit der Fahne gekreuzt!
Da kommen sie im Geschwindschritt, mit armlangem Abstand von Mann zu Mann, die ganze männliche Blüte des spanischen Volkes, tapfer, opferbereit und treu!
Da kommen sie dichtauf marschiert, Tempo 114! Im geschlosse-nen Marschblock, die Söhne Deutschlands, die Auslese der Besten für den Sieg des neuen Geistes in Europa, die Freiwilligen der Legion Condor!
Da kommen sie geritten auf herrlichen Pferden, leicht und elegant. Die braunen Gesichter wie aus Erz gegossen. Weiße Turba-ne, blinkende Säbel! Marokkos Elitetruppen. Auch ihr, Söhne Al-lahs aus Afrikas maurischer Wüste, zum christlichen Kreuzzug ge-gen die Roten! War unter den Weisen, die dem Kind in der Krippe huldigten, nicht auch ein Brauner?
Wer es fassen kann, der fasse es!
Das Brevier fiel erneut zu Boden. Nüsslein zuckte zusammen. Wo war er gewesen? Ach ja, die ‘Moros’.
Auch sie hatte ihren ‘Moro’. Er blickte zur Marienstatue. Auf dem kleinen Altar darunter stand ein Neger aus Ebenholz mit grünen Pluderhosen und weißem Turban, in der Hand ein Räucherfaß. Nüsslein sprang auf, kramte aus der Hosentasche eine Münze hervor und steckte sie dem Neger zwischen die aufgeworfenen knallroten Lippen. Sofort begann er zu nicken, setzte das Weihrauchfaß in pendelnde Bewegung, und es ertönte eine Spieluhr:
Meerstern, ich dich grüße, oho Ma-ha-ri-hi-a-ha, hilf!
Jetzt kam der beste Teil des Tages. Er trat an die Anrichte auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Feierlich öffnete er die silbernen Türflügel eines tabernakelartigen Aufsatzes. Die Tür war eine detailgetreue Nachbildung der Kirchentür des Schlos-ses von Valere. Der Corpus Christi war nicht ans Kreuz genagelt, sondern hing an einem Weinstock inmitten einer Fülle saftge-schwellter Trauben.
Nüsslein holte eine mit Rotwein gefüllte Karaffe hervor und einen goldenen Kelch. Beides stellte er auf ein Tischchen neben dem Sessel, auf dem außer dem Telefon schon ein Aschenbecher und eine silberne Zigarrendose standen. Nun würde sich zeigen, ob er den Tropfen als Meßwein gebrauchen konnte.
Vorsichtig goß er den Kelch halb voll, ließ den Wein kreisen und hob das Gefäß unter seine rüsselförmige Nase. Was für eine Blume, was für ein Bukett - ein achtundvierziger ‘Chateau Pet-rus’! Ein kleines Vermögen hatte er für die Kiste mit sechs Fla-schen zahlen müssen. Aber es war ein Spottpreis verglichen mit ihrem Wert. Nur seinem Geschick war es zu verdanken, daß er sie so wohlfeil auf der Auktion erstanden hatte! Für Christus war keine Mühe zu viel!
Er schürzte seine fleischige Oberlippe, und nahm, den Kopf vorgereckt, laut schlürfend einen Schluck. Das Telefon schrillte. Unwillig stellte er den Pokal ab und nahm den Hörer.
„Studentenpfarrer Dr. Nüsslein!“
„Prälat Dr. Hannsel, Dominus vobiscum!“
„Et cum spiritu tuum!“, antwortete Nüsslein ergeben. Das würde dauern, bis er das Schwatzmaul wieder los war!
„Ja, ja der Geist... Gerade darum wollte ich mit Ihnen spre-chen! Der Geist des zweiten Vatikanum macht uns ja allen zu schaffen... Gewisse Worte könnten, von den falschen Leuten in die falschen Ohren gesungen, als marxistische Parolen mißverstanden werden. ‘Solidarität mit den Unterdrückten’ etwa, oder gar ‘ge-meinsames Priestertum aller Gläubigen’. Dieses unselige Konzil! Von vielen fuhren die unreinen Geister unter großem Geschrei aus... Offen gesagt, ich wollte Sie warnen...“
„Warnen?“ - Diese Schlafmütze ihn warnen?
„Der Erzfeind geht wieder einmal um wie ein brüllender Löwe. Es soll in Ihrer Gemeinde einen Arbeitskreis geben, der gewisse Dinge vorbereitet. Sehr unangenehme Dinge...“
„Die Opposition gegen den Kirchbau haben wir im Griff. Die Grundsteinlegung im festlichen Rahmen mit gebührender öffentli-cher Aufmerksamkeit gefeiert, das macht die paar Schreier mund-tot. Wir werden einen Chor gründen, dann sind alle beschäftigt. Ein Heim für Studentenehepaare, ein Kindergarten für studierende Mütter - lächerlich! Es gibt so gut wie keine verheirateten Stu-denten, und schon gar keine studierenden Mütter, jedenfalls keine katholischen...“
„Nein, nein, mein Lieber. Von ‘Demokratie in der Gemeinde’ ist die Rede. Von Gemeindeverfassung, Sprecherwahl, Kontrolle der Gemeindefinanzen und - halten Sie sich fest - sogar von Pfarrer-wahl! Ich sage Ihnen, da schwappen die schlammigen Wasser der Studentenrevolte über auf unsere Heilige Mutter Kirche!“
„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!“, stieß Nüsslein tonlos hervor. Das war ein Schlag in die Magengrube! Was machten seine Leute eigentlich, wieso war er nicht informiert?
„Genau, mein Lieber!“ Das Telefon erschien Nüsslein gestört, so entfernt klang Hannsels Stimme. „Ich dachte mir, daß Sie viel-leicht Hilfe brauchen...“
Das brachte ihn wieder zu sich. Hilfe von einem Jesuiten? Lächerlich! Vor fünfunddreißig Jahren, als der Bolschewik mit nie dagewesener Frechheit gegen Spanien vorgegangen war - immerhin das Mutterland des Jesuitenordens - als die spanischen Bischöfe mit Unterstützung des Papstes zum ‘heiligen Kreuzzug für die vollständige Wiederherstellung der kirchlichen Rechte’ aufriefen, hatten andere die Kohlen aus dem Feuer holen müssen. Eine rote Regierung hatte genügt, um diesen famosen Orden in Untätigkeit erstarren zu lassen! Memmen! Wenn damals nicht eine unerschrocke-ne Persönlichkeit, ein begnadeter Mensch, aufgestanden wäre und Gottes Werk - Opus Dei - zu seinem eigenen gemacht hätte... Oh nein, er wußte, wo er Hilfe finden würde!
„Unsere Hilfe ist im Herrn!“ Er wollte schon auflegen, aber da sagte Hannsel etwas, das ihn aufhorchen ließ.
„Sagt Ihnen der Name Iris Volmer was? Sie ist Cusanerin, wohnt bei Ihnen im Studentenheim. Sie soll was mit der Sache zu tun haben. Auf dem nächsten Bildungsseminar des Cusanuswerkes könnte ich ihr unauffällig auf den Zahn fühlen lassen.“
„Eine Frau...“, entfuhr es Nüsslein
„Ja, eine Frau! Wie Sie sich erinnern werden, war ich dage-gen, als das Cusanuswerk einen weiblichen Zweig bekommen sollte. Aber man hat nicht auf mich gehört. Seitdem haben wir nichts als Scherereien!“
So war das also. Die bischöfliche Hochbegabtenförderung ‘Cu-sanuswerk’ infizierte seine Gemeinde mit dem Virus der Unbotmä-ßigkeit und des Hochmuts, um nicht zu sagen, des Verrats, und er sollte es ausbaden!
„Natterngezücht!“
„Ich werde Sie also auf dem Laufenden halten!“, schloß Hann-sel. Nüsslein schnaubte. Sobald er aufgelegt hatte, ergriff er den Kelch und stürzte den Inhalt in einem Zuge hinunter. Sofort goß er nach, diesmal bis obenhin. Mit fliegenden Fingern holte er aus der Zigarrendose eine seiner geliebten Havanna-Zigarren, die er sonst so umsichtig behandelte wie rohe Eier. Ganz ohne Zeremo-nien setzte er sie in Brand und paffte hastig. Gewohnheitsmäßig versuchte er, das entstehende Aschehäubchen so lange wie möglich auf dem Zigarrenende zu balancieren. An seinen besten Tagen war es ihm schon gelungen, die Hälfte der Zigarre aufzurauchen, ohne auch nur ein Flöckchen zu verlieren. Heute jedoch stob die Asche in alle Richtungen.
Erneut hob er den Telefonhörer ab, wählte zwei Ziffern und wartete bis die Verbindung hergestellt war.
„Pax!“, bellte er hinein.
„...in aeternam!“ erklang die erwartete Antwort. Sofort leg-te er wieder auf, erhob sich, öffnete die Eingangstür des Bunga-lows und ließ sie angelehnt offen stehen. Ins Zimmer zurückge-kehrt, leerte er den Weinpokal wie ein Verdurstender und tigerte, Rauchwölkchen ausstoßend, immer um den Eßtisch herum. Verdammt! Wo blieb das Fußvolk? Hinter ihm klimperte es leise. Er fuhr auf dem Absatz herum.
„Müssen Sie sich immer so anschleichen?“

Es war Bruder Färber, der Leiter der Studentenheime. Seine auf dem Rücken gefalteten Hände spielten wie immer mit einem rie-sigen Schlüsselbund. Einen Augenblick sah es aus, als wolle sich Nüsslein, der ihn um Haupteslänge überragte, auf ihn stürzen. Aus seinen Augen blitzte Mordlust, bevor sie wieder wie Vulkanseen in tiefen, erloschenen Kratern zu liegen schienen.
Aufreizend langsam schlenderte Färber zum Muttergottesaltar hinüber und schob dem Nickneger eine Münze zwischen die Lippen. Sofort mischte sich Weihrauchgeruch zum Duft der Havannazigarre und die Spieluhr setzte fort, wo sie aufgehört hatte:
Gottesmutter, süße, oho Ma-ha-ri-hi-a-ha, hilf!
Im offenen Hemdkragen über dem hellbraunen Pullover und der ausgebeulten dunkelbraunen Hose machte er eine unauffällige Fi-gur. Und in der Tat war es seine hervorragende Eigenschaft, gleichsam mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Doch Nüsslein wuß-te, daß sich hinter den wasserhellen Unschuldsaugen eine wiesel-flinke Neugier verbarg. Und unter der unscheinbaren Kleidung ver-muteten die wenigsten den durchtrainierten Körper, den er so gut kannte, mit Muskeln wie gespannte Federn und Sehnen wie Peit-schenschnüre. Immer noch wie damals... Wie weh ist mir um dich, mein Bruder! Du warst mir so lieb!
Kennen gelernt hatten sie sich in Spanien.
„Möge es unserem Führer mit Gottes Hilfe gelingen, dieses ungeheuer schwere Werk der Abwehr in unerschütterlicher Festig-keit und treuester Mitwirkung aller Volksgenossen zu vollbrin-gen!“ Wie gut Nüsslein die Worte des Hirtenbriefs vom 30. August 1936 im Gedächtnis haften geblieben waren. Frisch gebackener Abi-turient war er gewesen, als Kardinal Schulte sie von der Kanzel des Kölner Doms verkündete. Auf Geheiß des Kardinalstaatssekre-tärs Pacelli persönlich, bald schon Papst Pius XII., unterrichte-ten die deutschen Bischöfe an diesem warmen Augustsonntag ihre Herde vom Anmarsch des Bolschewismus in Spanien, dem Totengräber der religiösen Kultur.
Vergebens barmte seine Mutter. War er nicht Volksmissionar? Mitglied des Herz-Jesu-Vereins? Auf zum Bekenntnistag gegen rote Barrikaden, zur Wallfahrt aller, die guten Willens waren, dem ge-schändeten spanischen Volk zu Hilfe zu eilen! Unterstützt viel-leicht von der einen oder anderen detonierenden Höllenmaschine, nur zur Abschreckung...
Drei Monate später war er in Sevilla gelandet, als Freiwil-liger der Legion Condor, mußte aber der Stadt sofort den Rücken kehren. Die Luftnachrichtentruppe zog Fernsprechleitungen durch die gebirgigen Einöden der Sierra Morena und der Sierra de Gre-dos, während einsetzender Winterregen schmale Rinnsale in tosende Gebirgsbäche verwandelte. In Zweiergruppen wateten sie durch Schlamm und Geröll. Er und Färber waren in einer Gruppe gewesen.
„Zu Hause feiern sie Weihnachten“, hatte Färber eines Tages, unerwartet wehmütig, gesagt, als sie sich in ihrem Funkwagen der durchnäßten Klamotten entledigten. Danach stöpselte er wie ver-rückt an seinem selbst gebastelten Radioapparat und plötzlich klang es ganz leise durch die nächtliche Schwärze der Sierra:
„Alle Jahre wieder...“
In dieser Nacht hatte Färber ihn zum ersten Mal umarmt, und er war erschrocken gewesen über die Wut seines eigenen Verlan-gens. Drei Monaten später ging es nach Norden. Endlich den Roten gegenüberstehen. Auge in Auge! In Bilbao, dem Herzen des Basken-landes. Doch wieder blieben sie in den Bergen. Die Front erlebten sie nur aus der Ferne. Wütendes Trommelfeuer. Peitschende MG-Salven, durch Echos von den Bergen schauerlich vervielfältigt...
Wie haßten sie den bolschewistischen Todfeind, der mit sata-nischen Kräften Widerstand leistete! Der, nur der, war schuld an dem, was da draußen geschah! Schuld an Angst, Scham und Abscheu, auch in Nüssleins Verhältnis zu Färber, auch wenn sie diesem eine überraschend erregende Note gaben. Als Angst, Scham und Abscheu sich in Gleichgültigkeit wandelten, unter der Verzweiflung lauer-te, erreichte sie ein seltsamer Rundbrief. Einen Tag nach der Vernichtung von Teruel, am 9.Januar 1938, gab ihnen die ‘Carta Circular’ des spanischen Priesters Josemaría Escrivá, genannt ‘El Padre’ die Orientierung zurück.
Abtötung und Gebet. Unterwerfung und Selbstverleugnung. Das war die Formel zur Einheit des mystischen Leibes, zur Unio Mysti-ca. Denn sie waren berufen! Gottes großes Abenteuer erwartete sie. Die, die sich verpflichteten, in bedingungsloser Liebe zu ‘El Padre’ und zu Opus Dei, seinem Werk, Gottes geheimem Werk.
Bald schon beteten sie die geheimen Gebete, die mit dem Bo-denkuß und dem Wort Serviam begannen. Über den Krieg sprachen sie niemals mehr. Es war, als gäbe es ihn gar nicht. Sie gelobten, keusch zu leben, und flehten zur Allerseligsten Jungfrau, wenn sie gefehlt hatten. Und fühlten sie sich wieder rein, fielen sie einander erleichtert in die Arme und genossen erneut die Wonnen der Selbsterniedrigung...
Einmal in der Woche, samstags, verlangte die Regel die kör-perliche Züchtigung mit der Geißel. Sie geißelten sich gegensei-tig, damit es auch wirklich weh tat. Oh, diese schmerzvolle Süße, wenn sich die neunschwänzige Geißel in den Rücken fraß!
Am 29. März 1939 war der letzte Widerstand der Roten gebro-chen. In Madrid und allen anderen großen Städten begannen die Siegesfeiern, die Truppenparaden, die Dankgottesdienste.
„Indem wir unser Herz zu Gott erheben, freuen wir uns mit Ew. Exzellenz über den von der katholischen Kirche so ersehnten Sieg!“ beglückwünschte Eugenio Pacelli, gerade gekrönter Papst Pius XII., Generalissimo Franco.
Im Juni verlieh Hitler den Kämpfern der Legion Condor beim ‘Appell des Sieges’ in Berlin das Spanienkreuz. Danach war Nüss-lein seiner Berufung wahren gefolgt. Wo, das war geheim...
Sieben Jahre später, Anfang 1946, war er als Priester in das zerstörte Köln zurückgekehrt, um die Studentenseelsorge wieder-aufzubauen. Zur Seite hatte man ihm einen alten Bekannten ge-stellt, Färber, ‘Bruder’ Färber mittlerweile. Auch Färbers zwi-schenzeitlicher Aufenthalt war geheim... Opus Dei hatte sie wie-der zusammengeführt. Ihre Beichtgeständnisse von damals waren al-so im Herzen des Werkes bewahrt worden...
„Stimmt es, daß in der Gemeinde Forderungen nach Pfarrerwahl laut geworden sind?“, begann Nüsslein, der auf einen der Stühle am Eßtisch gesunken war und neuerlich dem Weine zusprach.
„Damit war zu rechnen.“ Färber wippte auf den Zehenballen und beobachtete ihn.
„Ich habe Sie nicht nach Ihren Berechnungen gefragt, son-dern...“ Er versuchte Färber zu fixieren, aber etwas war mit sei-nen Augen geschehen. Er sah nicht mehr scharf.
„Es kursieren bereits Kandidatenlisten.“
„Waaas? Diese Unseligen! Ein Plebiszit! Hah! Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt, spricht der Herr. Der Pfarrer ist Gesandter Gottes. Überbringer der heiligen Bot-schaft...“
„...Verwalter der ewigen Wahrheit. Der Weinstock, dessen le-bensspendendes Naß die Durstigen tränkt.“,fuhr Färber fort.
„Ganz recht!“ Nüsslein sah ihn unsicher an. „Wieso erfahre ich nicht, was vorgeht?“ Er konnte nicht verhindern, daß seine Stimme in einen weinerlichen Tonfall abglitt.
„Die schönen Sprüche galten auch für Pfarrer Höflich oder etwa nicht? Da macht sich mancher Gedanken, wenn der Gesandte Gottes so einfach geschaßt werden kann!“
„Höflich hat gegen den Zölibat verstoßen!“
„Gegen den Zölibat!“,sagte Färber anzüglich. „Er hat es bestritten. Und wenn schon! Sind wir nicht alle Sünder?“
Das stimmte zweifellos, aber Höflich war ein Sünder, der be-liebt war bei den Studenten... Kein Wunder, wenn man sich derma-ßen anbiederte, studentische Slogans nachbetete und mit denen so-gar BIER trank... So einer mußte weg!
„Er hat Ärgernis gegeben, und es steht geschrieben: Wenn dir dein rechtes Auge zum Ärgernis wird, so reiß es aus...“
„Und jetzt haben wir eine höchst unbequeme Vakanz. Bei Höf-lich wußten wir, woran wir waren. Wir hatten ihn dauernd unter Beobachtung... Wer weiß, was uns jetzt ins Haus steht!“
Vor der Tür polterte es.

„Wenn man vom Teufel spricht...“
Bruder Färber trat zur Seite und Friedhelm Kautz kam zum Vorschein. Jedenfalls konnte niemand anderer ein derart dämliches Grinsen mit halboffenem Maul vom einen abstehenden Ohr zum ande-ren zustande bringen. Und voll war er offenbar auch schon wieder. Wie man sich nur so besaufen konnte! Nüsslein ließ einen Schluck köstlichen Wein über seine Zunge rollen.
Kautz schlingerte hinüber zum Muttergottesaltar und fummelte am Nickneger herum.
Lilie ohnegleichen, oho Ma-ha-ri-hi-a-ha, hilf!
Endlich! Er hatte es geschafft. Ein neuer Schwall Weihrauch waberte durch den Raum.
„Kennen Sie Iris Vollmer?“, fragte Nüsslein.
„Flotte Biene, eh?“
„Schnauze!“, zischte Färber.
„Jawoll, Herr Haupt...,Bruder Färber!“ Kautz versuchte sich zu straffen, was ihm aber nicht gelang.
„Ist auf der letzten Gemeindeversammlung über Demokratisie-rung diskutiert worden?“ Nüsslein sah mit düsterem Gesichtsaus-druck auf die nackte Spitze seiner Zigarre.
„Nä, da han’ ich opjepaß wie ene Schießhund!“
„Wie meinen Sie das?“
„Se han doch selbst jesaat, dat ich de Jemeindeversammlung oplöse soll, wenn et brenzlich wät.“
„Aber doch nur, wenn Beschlüsse gefaßt werden sollen! Dann kann man mit Recht darauf hinweisen, daß von den mehr als drei-tausend katholischen Studenten in Köln nur ein Bruchteil anwe-send, und Beschlußfähigkeit somit nicht gegeben ist“, sagte Nüss-lein würdevoll. „Aber man muß doch über alles REDEN können!“ Miß-billigend schüttelte er den Kopf.
„Und dann? Was passierte, nachdem die Versammlung aufgelöst war?“, schnarrte Färber und packte Kautz am Kragen.
„Die han dann ‘ne Aabeitskreis jemaat un jesaat, dat ich ge-hen soll, weil... dat wär nur wat für Interessierte.“
„Und Sie haben keine Ahnung, worüber die geredet haben?"
„Doch!“, strahlte Kautz. „Moment... Dat wor esu ne juristi-sche Krimskrams..., so’n Mandaat, impe... imperiale? Nääh dat wor et nit...“
„Das imperative Mandat! Oh, Gott!“, stöhnte Nüsslein auf.
„Stimmpt wat nit?“
„Dummkopf!“ Färber ließ Kautz so plötzlich los, daß dieser nach vorne taumelte und sich gerade noch an einer Stuhllehne festhalten konnte. „Die bereiten eine Gemeindeverfassung vor, Sie Idiot! Wissen Sie, was das heißt?“
Kautz schüttelte immer noch grinsend den Kopf.
„Die wollen WÄHLEN!“, fauchte Nüsslein an Färbers Stelle. Seine Augen waren nur noch schmale Schlitze. „Gemeindevertreter wollen die wählen! Kapiert? Dann sind Sie weg vom Fenster. Weg! Weg! Weg!“ Er machte mit der Rechten eine fegende Handbewegung und stieß den Kelch um, der bis zur Tischkante weiterrollte, wo er ihn unbeholfen auffing. Da er fast leer war, fielen nur ein paar Tropfen auf den Teppich.
„Oder glauben Sie etwa, daß die Gemeinde Sie wählen würde?“, spottete Bruder Färber. „Nein, nein, mein Lieber! Dann gibt’s keine Aufwandsentschädigungen mehr, keine Arbeitsessen auf Ge-meindekosten, keine Probereisen, keine Freikarten, alles gestri-chen! Schluß mit Saus und Braus! Die ganze Herrlichkeit zum Teu-fel! Geht das in dein Spatzenhirn, du Null?“
„War Iris Volmer dabei?“, ächzte Nüsslein.
„Antworte, Mann!“ Färber schüttelte Kautz.
„Ähja.“
„Also doch!“ Nüssleins Oberkörper fuhr hoch. „Dahinter steckt Höflich, diese Schlange...“, röchelte er. Erneut wollte er den Kelch füllen. Seine Hand mit der Karaffe schlug jedoch so ge-waltsam hin und her, daß er es aufgab. Stattdessen setzte er die Karaffe an den Mund und trank stöhnend den Rest aus. Schweiß perlte von seiner Stirn.
Jemand räusperte sich.

Volker Steffen, der Verwalter, übersah die Lage sofort. Er hob die leere Karaffe hoch und stellte sie bedächtig auf den Tisch zurück.
„Die Ausgaben für Meßwein sind zu hoch!“
„Wer wagt das zu beurteilen?“, brüllte Nüsslein ihn an. Er-schreckt machte Steffen einen Satz.
„Sie verlangen den Finanzbericht vom letzten Semester und den Plan für dieses!“
„Wer...“ Nüssleins Stimme verfiel in kaum hörbares heiseres Krächzen. Färber und selbst Kautz hielten den Atem an.
„Die Gemeinde. Sie haben einen provisorischen Gemeinderat gebildet...“
„Verfluchte Hybris!“, brach es aus Nüsslein hervor.
„Schenk ein!“ Er hielt Steffen den Kelch unter die Nase. In der Hoffnung ihn zu beruhigen, stakste dieser jedoch zum Mutter-gottesaltar, um den Nickneger anzuwerfen. Aber das Geldstück blieb stecken. Steffen verpaßte dem Neger einen Schlag auf den Hinterkopf. Nichts rührte sich.
„Da, ihr Gesicht!“ Angstvoll wies Nüsslein auf das Antlitz der Madonna, das mit der schwindenden Nachmittagssonne einige Schattierungen dunkler geworden war. „Wir haben sie beleidigt! Wein, mehr Wein!“
„Verzeihung, aber...!“ Steffen war nicht gewillt, noch eine Flasche des teueren Meßweins zu opfern.
„Kein aber! Gieß nach! Schnell!“ Nüssleins Gesicht war asch-fahl geworden und die Partie um die Augen bleifarben. Darin schwammen die Augen wie Kohlestückchen.
Da gab Steffen auf. Er verschwand in die Küche, tauchte gleich darauf mit einer geöffneten Flasche ‘Chateau Petrus’ wie-der auf und schenkte ein. Nüsslein erhob den Kelch zur Muttergot-tesstatue.
„Mein Blu-Blut, das für alle vergossen wird, zur Verge-gebung der Sünden!“, lallte er mit feuchten Augen. Doch die Däm-merung im Zimmer schritt unerbittlich voran. Wenige Minuten spä-ter war das Antlitz der Madonna ganz in Schatten getaucht.
„Eli, Eli, lema sabachtani!“, schrie Nüsslein auf und stürz-te vom Stuhl. Im Fallen riß er die Tischdecke mit, die ihn unter sich begrub. Karaffe, Flasche und Kelch kegelten darüber, und der vergossene Wein tränkte alles blutrot.
„Sauerei!“ Bruder Färber sprang elastisch zur Seite. Er packte den verblüfften Kautz, wuchtete ihn aus dem Sessel und verschwand mit ihm durch die Tür. „Sieh zu, wie du fertig wirst!“
Unter der Decke wimmerte es. „Verlassen, alle haben mich verlassen... Sie verleugnen mich...!“ Das Wimmern ging in Schluchzen über. Steffen lupfte vorsichtig einen Zipfel der De-cke. Nüsslein lag in Embryostellung. Was sollte er bloß tun? Ehe er sich entschließen konnte, knallte die Haustür ins Schloß. Durch die Erschütterung enthemmt, legte der Nickneger los.
Ma-ha-ri-a, hi-hilf u-huns allen aus u-hunsre-her tiefen Not!
Endlich war der Groschen gefallen.

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