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April 2003
Fernes Land
von Silvia Both


„Batavia“, murmelte die alte Frau. Inge beugte sich näher heran, um sie zu verstehen. Eigentlich hatte sie nie Zeit, um sich mit den alten Leuten zu unterhalten. Ihre Arbeit war immer die gleiche: Betten machen, waschen, füttern. Alles musste ganz genau eingetragen werden. Aber es gab keine Rubrik für „Gespräche“ in ihren Formularen. Dabei mochte sie Frau Dekker. Sie erinnerte sie an ihre eigene Großmutter, die vor einigen Jahren gestorben war. Mit einer trotzigen Bewegung zog sie sich einen Stuhl heran.
„Was meinen Sie mit Batavia, Frau Dekker?“
„Wir waren dort manchmal in den Sommerferien, wenn es in Palembang zu heiß wurde. Die Luft war besser auf Java.“
„Sie haben auf der Insel Java gelebt?“
„Auf Sumatra, in Niederländisch-Indien. Heute heißt es Indonesien.“
„Erzählen Sie doch ein bisschen davon!“
Frau Dekkers Stimme belebte sich: „Es ist schon so lange her, achtzig Jahre bald, dass es mir wirklich vorkommt wie eine Geschichte, die ich erzähle. Dabei habe ich es selbst erlebt. Wie war das noch? Ich war gerade zehn geworden. Ich spielte mit meiner jüngeren Schwester Prül auf der Holzveranda. Die Luft war heiß und drückend. Mama hatte sich hingelegt. Papa war noch nicht von einer Reise zu seiner neuen Kokos-Plantage zurückgekehrt. Etwas raschelte im trockenen Gras. „Wo ist die Katze“, fragte ich, „sie muss wieder Schlangen jagen.“ „Ich weiß nicht“, murmelte Prül ganz vertieft in ihr Spiel mit den neuen Porzellanpuppen aus Deutschland. „Nonnie, schau mal, sie kann die Augen bewegen!“ Dabei schüttelte sie ihre Puppe hin und her, dass die flachsblonden Zöpfe flogen. Meine Puppe stöhnte: „Mir ist so heiß! Darf ich mein Kleid ausziehen?“ Ich zog meiner Puppe sorgfältig das blauweiße Matrosenkleid aus. Darunter fand ich ein weißes Unterhemd und eine lange spitzenumsäumte Unterhose. „Jetzt geht es mir schon viel besser“, ließ ich sie sagen. Unsere Kleidung sah ähnlich aus. Wir trugen helle Einteiler und Strohhüte. Bei meinem kleinen Bruder Wimpie konnte man den Hosenboden hinten aufknöpfen, um die Windel zu wechseln. Seit neuestem brauchte er sie aber nicht mehr. Wo war er denn? Wir sollten doch auf ihn aufpassen. Ich stand auf und schaute über den Vordergarten bis zum Wassergraben, der jetzt ausgetrocknet war. „Prül, wir müssen Wimpie suchen bevor er etwas anstellt.“ Aber hinter dem Haus war er auch nicht. Babu, unsere Kinderfrau, stand in der Waschküche und hing Wäsche auf. Er war doch nicht in den Regenwasserbehälter gefallen? Hinter Babus Rücken kletterte ich auf die Bambusleiter und schaute über den Betonrand. Allzuviel Wasser war nicht mehr darin. Ich konnte bis auf den Grund sehen. In dem Moment entdeckte mich Babu und scheuchte mich wieder herunter. Ich zog Prül mit mir. „Wo wollt ihr hin?“ „Zur Schule, Babu, wir wollen Ball spielen“, behauptete ich schnell. „Bei der Hitze? Na gut, seid rechtzeitig zum Dinner wieder da.“ Auf der Straße fragte mich Prül: „Warum hast du es ihr nicht gesagt?“ „Bist du verrückt? Willst du, dass sie Mama sofort weckt?“ Prül schaute mich unsicher an. „Komm Prül, erst mal suchen wir den Ausreißer. Vielleicht finden wir ihn gleich.“ Die Straße war so staubig, dass unsere Sandalen gelbe Wolken aufwirbelten. Die hohen Palmen über uns gaben kaum Schatten. Der Rasenplatz vor unserer holländischen Schule war leer, noch nicht mal die Jungen spielten hier Fußball. Wimpie schaute ihnen sonst gerne zu. Prül wurde immer ängstlicher: „Nonnie, was ist, wenn er in den Fluss gefallen ist?“ Ihr Sorge steckte mich an. Trotz der brütenden Hitze rannten wir zum Flussufer der Musi, etwa einen Kilometer weit. Verschwitzt und mit stechenden Seiten erreichten wir es. Weiter links sah ich die Anlegestelle für die Dampfschiffe. Nichts. Wir gingen zu den Flusshütten, die alle auf Stelzen im Wasser standen und mit Stegen verbunden waren. Es waren kaum Erwachsene zu sehen, nur einige malaiische Kinder plantschten im Wasser. Ich sah ihnen neidisch zu, weil es uns streng verboten war. Ein Junge in unserem Alter winkte uns, der Sohn unserer Babu. „Rami, hast du Wimpie gesehen“, schrie ich ihm zu. Er schwamm heran. „Nein, aber ich kann mich ja mal umsehen.“ „Das wäre nett, Rami, wenn wir ihn nicht finden, gibt es bestimmt Ärger. Außerdem ...“ Besorgt schauten wir in die gelbbraunen Fluten,die träge vorbeiflossen. Rami watete ans Ufer. Mit einer geübten Bewegung ergriff er ein Tuch und schlang es sich schnell um die Hüften. „Kommt, wir suchen erst mal die Straßen um euer Haus ab.“ Die Wolkenmassen über uns bauten immer größere Gebirge auf. Der Regen ließ bestimmt nicht mehr lange auf sich warten. Hoffentlich fanden wir Wimpie bald. Wir suchten und suchten. Schauten hinter alle Büsche in unserer Straße und unter die Häuser, die wegen der vielen Tiere alle auf Stelzen standen, immer auf der Hut vor Schlangen oder Ratten. Schließlich näherten wir uns dem leerstehenden Haus am Ende der Straße. Dahinter lagen nur noch Felder, die bis zum Dschungel reichten. Plötzlich hörte ich ein Fauchen. Ein Tiger! Manchmal kamen sie sogar bis an den Stadtrand. Und dann Wimpies Stimme: „Hallo!“ Er stand vor dem Haus und hüpfte auf und ab. „Ein Tiger!“ rief er und zeigte in den verwilderten Garten. Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm aber in diesem Moment raste ich auf meinen kleinen Bruder zu, packte ihn an der Hand und zerrte ihn weg. Aber statt sich über meine Hilfe zu freuen leistete er erbitterten Widerstand. „Nein, Nonnie, ich will den Tiger sehen.“ Schon hatte ich Prül und Rami erreicht, da stoppte mich eine laute Stimme. „Halt, junge Dame, bleiben Sie stehen. Der Tiger ist nicht gefährlich in seinem Käfig.“ Ein großer, dünner Mann mit einem Tropenhelm, kam zu uns gelaufen. Wimpie riss sich los.“Das ist Klaus“, sagte er, „er hat mir die Tiere gezeigt.“ Tiere? Dann kam noch ein zweiter Mann dazu, ebenfalls mit Tropenhelm, aber klein und dick. „Noch mehr Besucher unseres Zoos? Das scheint sich ja langsam herumzusprechen. Wir heißen übrigens Wilhelm und Klaus Müller und sind auf der Suche nach Tieren für unsere deutschen Zoos.“ Deutsche in Palembang! Mama würde sich freuen. „Na, dann kommt mal mit.“ Neugierig schauten wir uns hinter dem Haus um. Dort standen jetzt große Käfige. Die meisten waren noch leer. Wir sahen einen jungen Tiger, ein Orang-Utan-Pärchen, verschiedene Bären und kleinere Affen. Am besten gefiel mir der Tiger. Er ging unablässig hin und her. Seine Flanken zitterten. Manchmal fauchte er und schüttelte seinen Kopf. Schließlich bedankten wir uns bei den beiden und kehrten nach Hause zurück. Ein lauter Donner ließ uns zusammenzucken. Mit aller Kraft, die ein tropisches Gewitter zu bieten hat, öffnete sich der tiefschwarze Himmel und ließ den heißersehnten Regen auf uns herabstürzen. Im Nu waren wir klatschnass. Als die Mama auf der Veranda erschien tanzten wir vor dem Haus im warmen Regen.“
Frau Dekker griff nach ihrem Wasserglas.
„Da haben sie ja eine schöne Kindheit erlebt“, meinte Inge.
„Ja. Bis 1925 lebten wir dort, dann starb mein holländischer Vater und wir fuhren nach Hamburg, in die Heimat meiner Mutter. Eine große Umstellung für uns.“
Frau Dekker atmete tief ein und wieder aus. „Und wissen Sie, wohin ich am Anfang immer mit der Straßenbahn gefahren bin? Zu Hagenbecks Tierpark, zum Tigergehege.“
„War dort etwa der Tiger aus Palembang?“
„Ja. Er war groß geworden. Lief immer noch hin und her und schüttelte seinen stolzen Kopf. Manchmal blickte er mich an, als ob er mich erkennen würde.“

Silvia Both

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