Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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April 2003
Augen
von Bernd Pol


Ich kann diese Augen nicht vergessen, diese Augen, die ich eigentlich nie wirklich gesehen habe, diese tief dunklen, braunen, fast schwarzen Augen, diese Augen, die nur zu einer, zu dieser ganz besonderen Stimme gehören. Ich kenne die Augen der Frauen hier um Kabul, ich sah sie schon vor mir, wenn ich ihre Stimmen hörte hinter dem teuren Ausgehschleier mit dem Gitter davor, der von innen so anders wirkt als von außen.
Jetzt kommt es nicht mehr darauf an, aber damals, als man mich eingeführt hatte in die Landessitten, damals als ich neu war hier im Land, eine kleine studentische Hilfskraft im Goethe-Institut zu Kabul, damals hatte man uns, meinem Kumpel und mir, einen dieser Schleier übergestülpt, gegen die Voruteile, hieß es, zum besseren Verständnis, um zu verstehen, was vorgeht in diesen Menschen, die wir in den nächsten Wochen beobachten wollten. Einen Nachmittag durch die Räume, die Gänge, den Hof, ja bis auf die Straße hinaus, unter Aufsicht natürlich, damit nichts geschieht, obwohl es noch relativ sicher war auf den Straßen von Kabul, bevor die Taliban kamen, in den langen Pausen zwischen dem Beschuss, der da noch sporadisch von den Bergen herunterkam.
Es war erstaunlich. Was ich mir als Gefängnis vorgestellt hatte, erwies sich als perfektes Versteck. Solange man nicht redete, nur unauffällig ging, beobachtete, die Welt nur auf sich zukommen ließ, blieb man völlig unerkannt, bewegte sich fast ungehindert und das Gitter vor den Augen nahm man bald überhaupt nicht mehr wahr. Die Frauen können hier intensiv flirten aus, hatte man mir vorher gesagt, und nach diesem einen Nachmittag glaubte ich es, gerne und intensiv.
Doch nun ist es schon lange nicht mehr wichtig, ob da ein Schleier ist. Nur die Stimmen zählen jetzt, jene Stimmen, die Bilder entstehen lassen in einem, Bilder von Welten, von Menschen, von Augen. Die alleine sind wirklich noch wichtig, diese dunklen, braunen, fast tief schwarzen Augen, auch wenn man sie nicht unmittelbar sieht, aber spürt, dass sie da sind, dass sie einen sehen, einen ansehen, dass sie mit einem empfinden. Aus dem Tag in den Tag und zuweilen sogar auch durch die Nacht.
In Kabul selbst waren längst nicht mehr alle Frauen derart verschleiert, damals in der letzten Zeit der Kämpfe, als ich anfing mit meinem Semesterferienjob im Goethe-Institut, einfach so, aus reiner Neugier, denn Ahnung hatte ich fast keine von dem Land, von den Sprachen, von den Menschen, zu denen ich hier kommen sollte. Man hatte mich denn auch erst der Bibliothek zugeteilt, der Sprachkenntnisse wegen und weil ich Germanist war im sechsten Semester. Ein langweiliger Job war das, einige Tage lang, doch dann lernte den Sammler kennen, wie ich ihn bei mir taufte, denn ich konnte mir seinen wirklichen Namen nicht merken, der aus der Gegend hier stammte, wenn gleich der Sammler selbst auf mich damals eher deutsch als einheimisch wirkte.
Er war tatsächlich ein Sammler, einer der letzten, der auf die Dörfer ging, Geschäfte mit Kleinigkeiten machte und vor allem Geschichten in sein Diktiergerät einfing, die er dann in einer Kammer im Institut in uralte Schreibmaschinen übertrug, erst in den heimischen Dialekt und gleich danach in sein eher holpriges Deutsch, denn er war das Schreiben im Grunde nicht gewohnt. Seine Sache war es, mit den Leuten zu sprechen, zuzuhören, ihre Stimmen mitzunehmen in seinem kleinen Diktiergerät, das er offen an einer wertvollen Kordel um den Hals trug, denn das gehörte sich so und die Kordel hatte ihm ein wichtiger Ältester einmal geschenkt, vor Jahren, seitdem diente sie ihm als Aushängeschild und Merkmal, denn die Farben der Wolle- und Silberfäden, aus denen sie geknüpft war, hatten geheime Bedeutung unter den Menschen, zu denen er ging.
Ich hatte ihm eine Geschichte aus dem Stegreif in besser klingendes Deutsch übertragen und ihn beeindruckt, weil der Sinn dabei nicht nur erhalten blieb, sondern noch deutlicher wurde, was, wie er sagte, überhaupt nicht selbstverständlich war, sondern zeigen würde, wie gut ich bereits die Menschen verstand. Das überraschte mich sehr, hatte ich doch damals wirklich noch gar keine Ahnung von dem Land, außer ein paar Reiseberichten und den Bildern in den Fernsehnachrichten, wenn wieder einmal von Kämpfen die Rede gewesen war. Dann sei es eben ganz besondere Begabung, konstatierte er und ging zur Verwaltung, um mich ihm für seine nächsten Touren als Begleiter zuteilen zu lassen.
Reine Bürokratie, das, und doch, wieviel wäre wohl vollständig anders gelaufen, hätten die Verantwortlichen damals aus welchen Gründen auch immer nicht zugestimmt? Man ließ mich einen Stapel Papiere unterschreiben, in denen ich sie aus jeglicher Haftung ausschloss, denn es galt schon als lebensgefährlich, zu weit über die Stadtgrenzen hinaus zu fahren, wenn man nicht gerade Journalist war oder Händler oder sonst jemand mit guten Beziehungen. Ein Ring von Banden belagerte in jener Zeit die Stadt, man musste bekannt sein und Glück haben, um möglichst wenig gerupft hindurch zu kommen.
Der Sammler hatte wohl beides und noch einige Fähigkeiten mehr, denn man winkte uns ohne weiteres an den Straßensperren durch mit unserem klapprigen Landrover, auf dem hinten die Ladefläche voll bepackt war mit Gepäckstücken und Einheimischen, die sich von uns zu ihren Dörfern kutschieren lassen wollten. Vielleicht half ihm auch seine Diktiergerätekordel ein wenig, denn er rückte sie vor jeder Sperre sorgfältig neu zurecht und sorgte dafür, dass sie auch im Schatten hinter dem Steuer noch gut zur Geltung kam, wenn er sich hinüberbeugte zu den jeweiligen Bewaffneten und irgendwelche schmuddeligen Papiere zusammen mit ein paar Geldscheinen, wie ich vermutete, hinausreichte. Er sagte nicht viel und gebot mir vor Beginn der Fahrt, auf alle Fälle zu schweigen, auch unterwegs nicht zu reden, denn es sollte mir von Anfang an gewohnt werden, so wenig wie möglich aufzufallen bei den Menschen da draußen.
Es muss mir ganz gut gelungen sein, dieses Verbergen, denn kaum einer beachtete mich, an den Straßensperren nicht und auch keiner der Passagiere, die sich auf ihrem Gepäck durch die Schlaglöcher schütteln ließen, stoisch im Staub auch während der wenigen Pausen, in denen sie mit dem Sammler Zigaretten teilten und irgendwelche Getränke, von denen ich nicht mal zu kosten bekam. Ich hielt mich beiseite und fiel nicht auf, meist blieb ich ohnehin im Wagen sitzen, ließ nur die Beine aus der Tür hängen, horchte ein wenig auf die fremden Laute, um mich wenigstens vom Gefühl her ein wenig in die Sprache hineinzufinden.
Denn deshalb sollte ich mit. Ich müsse die Sprache kennen lernen, hatte der Sammler gesagt, nicht verstehen, nur vom Klang, vom Gefühl her verstehen, dann würde das Übertragen noch besser gelingen. Verstehen selbst jedoch wäre noch lange nicht nötig. Die Worte kennen, das hindere nur.
Vielleicht hatte er Recht. Die Worte kenne ich selbst heute noch nicht. Rechtes Zuhören fällt mir jetzt ohnehin schwer. Aber ich begreife den Sinn durch den Klang, durch die innere Geste dessen, der spricht. Derer, die spricht, denn die ist mir immer wichtiger geworden in diesen Jahren, auch wenn sie auf immer unerreichbar fern bleiben wird, und dennoch jeden Tag immer wieder so nah.
Das war von Anfang an so, am ersten Abend schon, als wir das Dorf erreicht hatten, ein paar Hütten in einer Senke, wo ein schmaler Fluss sich um den Bergrücken zog. Ganz grün, war es dort, zu meiner Überraschung, weil ich bis dahin nur den ewigen Staub in Kabul kannte und die kahl erscheinenden Berge in der Ferne darum und die Fernsehbilder aus den wenigen Reiseberichten, die bestenfalls verstreute graugrüne Büsche in steppigen Ebenen zeigten. Wie eine Oase erschien das deshalb, wohin diese Fahrt uns gebracht hatte, saftiges Grass, dichte, schattige Bäume, Wasser unter dem Berg, wie ein Paradies kam mir das vor.
Jemand kam und hatte Streit mit dem Sammler, worüber, weiß ich nicht, doch dann brachte man uns in ein Haus und bewirtete uns, wie es sich Gästen geziemt. Später, viel später erst brachte ich heraus, dass es des Sammlers eigene Familie war, die uns da aufnahm und dass sein Bruder sich mit ihm gestritten hatte, wie er es immer tat, wenn er kam, und dass sie sich versöhnt hatten, wie sie es immer taten, wenn der Sammler erst die Geschenke auspackte, die er in den Wochen für alle zusammengetragen hatte. Darauf jedoch hatte ich da am ersten Abend schon gar nicht mehr acht, denn da hatte mich bereits diese Stimme verzaubert, diese tiefe, beinahe gurrende Stimme einer jungen Frau, die uns aus ihrem teuren, verzierten Schleier heraus bewirtete und von der nichts da war, als ihre sanften, fließenden Bewegungen, ihre schmalen Hände und ihre tiefe, gurrende Stimme, die wie aus dem Dunkel kam und mir Augen hinter das Schleiergitter zauberte, tief braune, fast schwarze Augen, die mich von da an nie wieder verließen.
Ich habe den Schleier nie wieder gesehen. Der Angriff traf uns mitten in der Nacht. So erklärte man mir später mit Mühe, ich selbst habe keine Erinnerung daran. Es sollen Banditen gewesen sein und sie hatten gar nicht das Dorf gemeint, sondern die Straße und den Berghang dahinter, wo sich andere Truppen verschanzt hatten, wer, weiß ich nicht, ich verstehe die eigenen Worte nicht mehr.
Sie waren auf so etwas vorbereitet, kannten Wege zur Flucht aus dem Kampfgeschehen heraus in die Berge. Und sie nahmen mich mit, so schwer ich auch getroffen war, denn der Sammler hatte bestanden darauf und die Frau mit der tiefen, gurrenden Stimme, die mir jetzt alles erzählt, immer wieder, mit den Händen, wenn sie mir das Essen reichte oder durch die Kinder, abends, wenn sie mir heimhelfen aus dem Schatten unter meinem Baum beim Fluss, wo ich den Tag sitze, ein schwer verbrannter, blinder Bettler, der im Tag nur noch auf seine Schmerzen lauscht und auf das Wasser, das ein wenig gurrt in seinem Plätschern und Augen hervorzaubert hinter dem Schleier, der jetzt auf immer alles bedeckt.

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