Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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April 2003
Tooray ayaa lagu dilay
von Lars Blumenroth


„Suleeqa, wach auf!“
Die Stimme ihrer Mutter riss sie augenblicklich aus dem Schlaf. Fast die ganze Nacht hatte sie nicht schlafen können. Der Wind, der den Wüstensand gegen die dünnen Zeltwände geweht hatte, das vereinzelte Blöken der Schafe, der unruhige Schlaf ihrer kleinen Schwester Shukri, das alles hatte sie von ihrer nächtlichen Ruhe abgehalten. Sie hatte pausenlos daran denken müssen, dass nun ihr großer Tag kommen würde, dass sie nun endlich... Und dann war sie schließlich doch noch eingeschlafen, obwohl sie die Hoffnung schon längst aufgegeben hatte.
Ungeschickt kletterte sie über die schlafende Shukri hinweg. Ihr Bauch fühlte sich immer noch gespannt an von dem reichlichen Essen, das sie gestern Abend bekommen hatte. Es war sozusagen ihr Abschiedsessen gewesen. Suleeqa konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals so viel gegessen hatte. Sie rieb sich die Augen und verspürte augenblicklich einen brennenden Durst in der Kehle. Hastig trat sie aus der Schlafstätte nach draußen. Die Wüste war noch nicht erwacht, noch lag alles in morgendliche Finsternis gehüllt. Zakareya, ihr Vater würde erst kurz vor Sonnenaufgang aufstehen. Suleeqa verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, ihren Vater noch mal zu umarmen. Zakareya würde heute ihr Lager verlassen und auf Wassersuche gehen. Das konnte Tage und sogar Wochen dauern.
„Komm, beeil dich!“ Ifrah drückte ihr einen bezaubernden Schal in die Hand. Suleeqa war sprachlos. Noch immer hatte sie das Gefühl halb zu schlafen, noch immer hatte sie Durst. Plötzlich warf ihr Ifrah einen wertvollen Stoff in die Hände. Fast hätte sie vor Überraschung laut aufgeschrieen. Sie wollte ihre Mutter umarmen, sich bedanken, doch dazu blieb keine Zeit, denn Ifrah war bereits wieder im Inneren des Zeltes verschwunden. Verwirrung mischte sich in Suleeqas Freude. Da tauchte ihre Mutter plötzlich wieder aus dem Zelt auf.
„Du stehst ja immer noch herum!“, schnaubte sie. „Wir müssen uns beeilen, Suleeqa. Wir gehen nach Mogadischu.“
Suleeqa blieb bei diesen Worten ihrer Mutter fast das Herz stehen. Mogadischu! Das war unendlich weit weg! Sie hatten Bekannte dort, aber waren selbst noch nie dort gewesen. Und jetzt sollte sie, die zwölfjährige Suleeqa, plötzlich die große Stadt kennen lernen. Sie wusste ja noch nicht mal genau, was eine Stadt überhaupt war!
Eilig warf sie sich den Schal über und rannte zu den Körben mit dem Wasser. Für so eine lange Reise musste man unbedingt Wasser haben. Ihre Mutter hatte sie zwar früh geweckt, aber sie würden dennoch lange brauchen, sie würden durch die sengende Hitze der Mittagssonne gehen müssen.
„Suleeqa! Was machst du da?“, fauchte Ifrah erschrocken.
„Ich trinke, Mama. Wir müssen durch die Sonne, wir müssen Wasser mitnehmen.“
„Nein, lass das. Du darfst nichts trinken!“
Am liebsten hätte Suleeqa sofort gefragt, weshalb sich ihre Mutter so seltsam verhielt. Aber der Tonfall in Ifrahs Stimme ließ dies nicht zu. Suleeqa ließ den Wasserkorb in Ruhe und nahm ihren Hirtenstab.
„Bist du fertig?“
Suleeqa nickte. Sie hatte plötzlich ein beklemmendes Gefühl.
„Dann lass uns losgehen, mein Schatz.“

Langsam wurde es hell am Horizont. Noch war nichts von der unerträglichen Hitze der Wüstensonne zu spüren, aber Suleeqa wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde. Es beunruhigte sie, dass ihre Mutter nichts sagte. Stumm gingen sie im Eiltempo durch die Einöde. Mehr als einmal schnitt sich Suleeqa die Fußsohle an einem scharfen Stein. Doch sie verbiss sich den Schmerz und klagte nicht. Auch Ifrah schien sich nicht um das unwegsame Gestein zu kümmern. Dann blieb sie endlich stehen.
„Wir sind da.“
„Wo?“
„Hier.“
Suleeqa wusste, dass sie nicht fragen sollte. Eine Frau fragt nicht, eine Frau klagt nicht. Und das sollte sie doch nun ab heute sein: Eine Frau. Also musste sie sich auch dementsprechend benehmen.
Am Horizont wirbelte Staub auf. Gebannt sah Suleeqa auf die Stelle. Eine rasende Wolke drängte sich zwischen Wüstensand und aufgehender Sonne.
„Was ist das?“
Ifrah antwortete nicht. Am liebsten würde sich Suleeqa die Zunge abbeißen. Es war gar nicht so einfach, plötzlich erwachsen zu sein.
Die Staubwolke näherte sich in rasantem Tempo. Angst breitete sich in Suleeqa aus. Aber ihre Mutter stand felsenfest, als wäre sie angewachsen. Sie hatte keine Angst, das sah Suleeqa genau. Ihre Mutter hatte nie Angst. Sie war eine erwachsene Frau.
„Los komm.“ Ifrah zog ihre Tochter hinter sich her und marschierte nun auf die Wolke zu.

Noch nie hatte Suleeqa ein solches Ding gesehen. Es sah einfach nur seltsam und beängstigend aus. Ungeheuerlicher Krach ging von ihm aus und es zog einen dreckigen Schleier aus aufgewirbeltem Sand hinter sich her. Das war ein Auto.
Als das Gefährt schließlich neben ihnen hielt, erkannte Suleeqa voller Erstaunen ihre Tante Naruura.
„Waa salaamantahay.“, grüßte sie nur kurz und deutete nach hinten. Sie kletterten auf die große Ladefläche und sofort setzte sich das Ungetüm wieder in Bewegung und fuhr zurück. Es war äußerst unbequem, aber Suleeqa verstand nun, dass sie viel schneller in Mogadischu sein würden. Beruhigt betrachtete sie die Staubwolke, die der Wagen hinter ihnen aufbaute.

„Wir sind gleich da.“, bemerkte ihre Mutter. Suleeqa hatte es sich auf ihrem Schoß bequem gemacht und ein wenig geschlafen.
„Ich habe Durst.“
„Wir haben kein Wasser mitgenommen.“
„Warum nicht?“
„Frag nicht so viel.“
Suleeqa erinnerte sich wieder daran, dass sie nun ja erwachsen war. Sie setzte sich auf. Die Sonne schien nun steil vom Himmel hinab. Es war heiß. Überall wirbelte Staub. Sie fuhren jetzt zwar langsamer, aber dafür war ihr Gefährt nicht mehr das einzige. In Mogadischu gab es mehr als nur ein Auto. Und es gab Häuser. Das sind Zelte aus Stein und Lehm, erinnerte sie sich an einen Ausspruch ihrer Tante. Naruura wohnte in einem solchen Lager. Und jetzt würde auch sie, Suleeqa, endlich ihre Heimat kennen lernen. Das hatte sie sich schon damals gewünscht, als sie ab und zu von ihrer Cousine Salma Besuch bekam. „Warum kommst du nicht einfach mit nach Mogadischu?“, hatte sie oft gefragt. Aber ihre Eltern hatten es nie erlaubt. „Wer passt denn dann auf unser Vieh auf, Suleeqa?“. Jetzt aber würde sie endlich ihre Cousine besuchen. Jetzt war sie ja eine richtige Frau.

„Das ist euer Haus?“
„Nein, Suleeqa, das ist ein Hospital.“, antwortete Naruura knapp.
„Ein Hospital? Was ist das?“
Ihre Tante achtete nicht mehr auf sie und ging voraus. Ifrah fasste ihre Tochter an der Schulter und schob sie vor sich her auf das Hospital zu. Zum ersten Mal betrat Suleeqa ein Haus.
Unglaublich viele Menschen saßen im ersten Raum. Sie hockten auf dem Boden. Männer, Frauen, Kinder. Manche Kinder weinten. Ein seltsam stechender Geruch stieg in Suleeqas Nase.
„Komm mit.“, forderte ihre Tante sie auf. „Wir müssen zu Doktor Guuleed.“
„Wer ist...?“ Suleeqa verbiss sich ihre Frage und trabte einfach hinter Naruura her. Sie achtete aber peinlich genau darauf, dass ihre Mutter immer dicht hinter ihr war.
Schließlich betraten sie ein Zimmer, in dem sich wohl Doktor Guuleed befand. Er wusch sich die Hände, während Tante Naruura mit ihm zu sprechen begann. Suleeqa gab sich Mühe, etwas von dem Gespräch mitzubekommen, doch sie verstand nicht viel. Es ging um etwas, das man nicht bezahlen könne. Aber Naruura stellte sich Doktor Guuleed in den Weg. Und nun sah Suleeqa, dass der Mann einen weißen Mantel an hatte, auf dem rote Farbe verspritzt war. Blut! Diese Erkenntnis schoss ihr so heftig durch den Kopf, dass sie zurück taumelte. Die Arme ihrer Mutter fingen sie auf.
Dann nickte Doktor Guuleed schließlich und winkte sie zu sich. Suleeqa bewegte sich nicht. Sie hatte Angst vor diesem Doktor Guuleed. Er mochte sie nicht, das sah sie sofort. Ein Doktor Guuleed sah so aus, als ob er niemanden mögen könnte. Und er hatte Blut am Kittel, kein Zweifel!
„In diesen Raum!“, kommandierte er. Tante Naruura folgte Doktor Guuleed und Ifrah schob ihre Tochter hinterher. Dort lag ein Mädchen auf einem hohen Gestell. Sie schlief. Zwei Frauen waren dabei, ihre Beine zu verbinden. Suleeqa hatte furchtbare Angst. Es roch nach Blut und nach einem scharfen Gestank, den sie noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Das konnte nichts natürliches sein.
„Macht die Bare frei!“, befahl Doktor Guuleed. Die beiden Frauen beendeten ihre Arbeit und trugen das Mädchen fort. Dann drehte sich der Mann um und sah Suleeqa an. „Leg dich da drauf!“
Der erste Impuls, der sich in Suleeqa regte, war Flucht. Aber dann drängte Ifrah sie zu diesem Gestell auf dem zuvor noch das Mädchen geschlafen hatte. Sie hatte geschlafen. Wenn sie geschlafen hatte, konnte es auch nicht so schlimm sein, dachte Suleeqa. Außerdem war sie doch jetzt eine Frau. Und eine Frau klagte nicht. Sie hatte noch nie gehört, dass sich ihre Mutter beklagt hätte. Das würde sie auch nicht tun. Suleeqa würde allen zeigen, dass sie seit heute tatsächlich eine echte Frau war.
Entschlossen kletterte sie mit Hilfe von ihrer Mutter auf das Ding, dass Doktor Guuleed Bare nannte. Sie legte sich so hin, wie zuvor das Mädchen dort gelegen hatte. Dann kamen die beiden anderen Frauen wieder hinein. Sie zerrten an Suleeqas neuem Schleier.
„Nein, das ist mein Schleier!“, entfuhr es ihr.
„Den bekommst du zurück.“, antwortete ihre Mutter.
Doktor Guuleed schob plötzlich ihr Hemd nach oben und entblößte ihre Scham. Suleeqa schrie entsetzt auf und riss den Stoff wieder nach unten. Die beiden Frauen hielten sie fest. Plötzlich ergriff Naruura ihre Arme, während die beiden Frauen ihre Beine auseinander zerrten. Suleeqa schrie. Sie versuchte sich mit aller Gewalt zu wehren.
„Halt still!“, sagte da ihre Mutter und fixierte mit ihren Händen den Kopf ihrer Tochter. „Halt still und sei eine Frau!“
„Ich bin eine Frau.“
„Ja, das bist du. Halt still.“
Dann setzte Doktor Guuleed das rostige Operationsmesser an und zerschnitt ihre äußeren Schamlippen. Suleeqa kreischte auf. Wie ein Stromschlag ging der Schmerz durch ihren Körper, der sich kräftig aufbäumte. Doktor Guuleed fuhr routiniert fort. Die alte Klinge durchtrennte mit raschen Bewegungen die empfindliche Haut. Er kümmerte sich nicht um das Geschrei. Die Frauen sorgten dafür, dass der Bewegungsspielraum des Mädchens nicht zu groß wurde. Dann schabte er mit einem reißenden Geräusch die Inneren Schamlippen ab. Der Körper des Mädchens sackte zusammen. Sie war bewusstlos geworden. Doktor Guuleed führte das Instrument weiter fort, um den wichtigsten Teil zu entfernen: Die Klitoris. Schließlich tupfte er das Blut mit einem alten Lappen fort und begann damit, die äußere noch unversehrte Haut zusammenzunähen. Lediglich einen winzigen Abfluss ließ er übrig. Ein Loch von der Größe eines Stecknadelkopfes. Das musste reichen.

Als Suleeqa aufwachte, lag sie in einem Raum mit etlichen anderen Kindern. Ihr Körper schwitzte. Ihre Beine waren fest zusammen gewickelt. Der Kopf tat ihr weh und als sie sich aufrichten wollte, wurde ihr schwindelig. Dann blickte sie an sich herab und sah den weißen Stoff, der ihre Beine zusammen hielt. Erst jetzt tauchte der dumpfe Schmerz aus ihrem Unterleib langsam auf und steigerte sich bis zur Unerträglichkeit. Sie wusste nicht, was passiert war. Sie wusste nicht, wo sie sich überhaupt befand. Der schneidende Schmerz an ihrer Scheide zerstörte jegliche Erinnerung.

Später wachte sie wieder auf. Nun lag sie vor einem Haus unter einem Baum. Große Schweißperlen tropften von ihrer Stirn in den Staub. Sie unterdrückte den Drang zu schreien. Plötzlich trat ihre Cousine Salma aus dem Haus und kam auf sie zu. Sie hielt eine Schale mit Kamelmilch in den Händen.
„Hier, trink.“
Suleeqa mühte ihren Oberkörper auf. Zwischen ihren Beinen zog ein ziehender Schmerz auf. Sie brach mit einem qualvollen Aufschrei zurück.
„Du darfst dich nicht so schnell bewegen, Suleeqa.“
„Man hat meine Beine zusammen genäht!“
Salma lachte. „Nein, du dummes Ding. Deine Beine müssen nur zusammen bleiben, damit du besser heilen kannst.“
Suleeqa weinte jetzt hemmungslos. „Warum?“
„Du bist jetzt eine Frau!“ Salma strahlte sie an. „Ich lasse dir die Schale hier. Aber trink nicht so viel, damit du nicht pinkeln musst.“ Dann ging Salam wieder ins Haus zurück.
Suleeqa war verwirrt. Sie war doch schon vorher eine Frau gewesen, oder nicht?

Abends erwachte Suleeqa wieder aus ihren Fieberträumen. Im Dämmerlicht sah sie Ashwaaq, die Schwägerin ihrer Mutter, wie sie sich unweit vom Haus hinhockte. Suleeqa wunderte sich, weshalb Ashwaaq dort so unendlich lang verweilte. Selbst für ein großes Geschäft hätte man nicht die Hälfte der Zeit gebraucht. Als die Schwägerin ihrer Mutter endlich wieder im Haus war, richtete sich Suleeqa wieder auf. Diesmal sehr viel langsamer. An ihrem Geschlecht breitete sich ein Ziehen und Brennen aus, dass es ihr ein buntes Feuerwerk auf die Netzhaut zauberte. Aber sie hielt durch. Nach schier endloser Zeit schaffte sie es, die Milch zu trinken, die ihre Cousine für sie stehen gelassen hat. Es war eine unglaubliche Befriedigung endlich wieder etwas trinken zu können. Erschöpft ließ sie sich wieder in den Staub sinken. Aus dem Haus hörte sie Gesang.
Und dann meldete sich schließlich ihre Blase.

Als Ifrah am nächsten Tag aus dem Haus trat, war sie von Stolz erfüllt. Suleeqa hatte den Wandel zur Frau hinter sich. Die enormen Kosten für die Beschneidung würden die Familie zwar noch lange belasten, aber bereits in zwei Wochen würden sie wieder ihr Nomadenleben aufnehmen. Und Zakareya würde voller Stolz seine Tochter empfangen. Suleeqa war bereits jetzt äußerst umworben. Ihr Vater würde ganz sicher einige Kamele für ihre Hochzeit bekommen.
Mit diesen Gedanken trat die Mutter an ihre Tochter heran.
„Suleeqa, wach auf!“
Doch Suleeqa rührte sich nicht. Der Urin hatte sich in der Nacht den Weg nach draußen freigesprengt. Sie war verblutet.
Tooray ayaa lagu dilay - sie wurde mit dem Messer umgebracht.

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