Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Alexander Bettin IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
April 2003
Kaltes Feuer
von Alexander Bettin


Warum ich hier im Schlamm liege? Warum ich wie eine Sau verblute, wollen Sie wissen? Nun, in Russland werden ungefähr 50 Menschen im Jahr zu lebenslanger Haft verurteilt. Ich bin… ich war einer von ihnen.

Mein Name ist Alexej W. und ich wurde vor einundzwanzig Jahren in Moskau geboren. Der Morgen an dem ich zur Welt kam, war ein kalter Wintertag, müssen Sie wissen. Nein, der russische Winter ist mit keinem anderen zu vergleichen. Nirgendwo sonst frieren für so lange Zeit die Wasserohre ein, bilden sich so gierig Eiskristalle, wie an russischem Fensterglas.
Meine Mutter war gerade auf dem Weg ins Krankenhaus, als sie die ersten Wehen spürte. Sie brach an der Kreuzung von Podkolokolni Pereulok und Soljanka Uliza im dichten Schneeregen zusammen. Dort befindet sich der Khitrow-Markt, Treffpunkt für Kriminelle und Prostituierte. Vielleicht war es Schicksal, dass mich ein Taschendieb zur Welt brachte und eine Dirne mir die Nabelschnur durchtrennte, ich weiß es nicht. Meine Mutter hat den Platz nicht mehr lebend verlassen. Die schmutzigen Hände hatten ihr für die unfreiwillige Geburt die Kleider ausziehen müssen. Die Kälte und der Blutverlust hatten ihr übriges getan. Es war nicht gerecht, dass sie an diesem Ort sterben musste. Sie gehörte nicht zu denen, die dort Papierblumen, altbackenes Brot und gefälschte Pässe verkaufen. Nein, zu denen gehörte sie wirklich nicht…

Ich erfuhr von alledem mit sechs Jahren. Mein Vater erzählte es mir, ein gebürtiger St. Petersburger, der Moskau nie recht etwas abgewinnen konnte. Es war in einer dieser Stunden, in denen der Wodka seine Zunge löste und er nicht mehr mein Vater war, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er fluchte, stieß mich beiseite, bespuckte das Bildnis Gorbatschows und versuchte am nächsten Morgen den Fleck wieder heraus zu reiben.
Er starb 1993, in den Wirren des zweiten Staatsstreichs, als alles und jeder auf die Barrikaden ging, weil Jelzin das Parlament suspendiert hatte: Vater wurde während eines Spaziergangs, von einem morschen Baum erschlagen.

Was folge, wäre ganz „natürlich“, versicherte mir der fette Hausvorsteher mit seiner verfilzten Haarmähne. Er brachte beim seinem ersten Besuch ein junges Paar vom Land mit, dass eine Wohnung suchte. Vielen „Waisen“ würde es so gehen. Keine Verwandten die einen aufnehmen könnten, und zu jung um allein sein Brot zu verdienen. Fünf Tage später, wurde die Ein-Zimmerwohnung die ich mit meinem Vater bewohnt hatte, geräumt. Das junge Paar vom Land hatte sich für mein zu Hause entschieden, und mich unwissentlich nach Samoskworetschi abgeschoben.

Über dem Gelb des Gebäudes fiel wirbelnder Schnee, dass weiß ich noch heute.
Statt der roten Flagge wehte nun die dreifarbige Nationalflagge in kräftigem weiß, blau und rot auf dem Dach. Die „Jugendfürsorge“ war in einem Kaufmannshaus aus dem 19. Jahrhundert untergebracht. Das Gebäude wirkte wie eine Miniaturfestung, das sich auf eine lange Belagerung vorbereiten würde. Die Fenster waren mit Gardinen verhangen, die Tore fest verschlossen. Erst nach mehrmaligem Rufen ließen sie mich hinein.

Der Verwaltungsbeamte, der für mich zuständig war, trug eine dicke Nickelbrille auf seinem krausen Haupt. Er roch gut, und sein Lächeln hatte irgendetwas angenehmes, freundliches. Er eröffnete mir, dass es hunderte, tausende Fälle, wie mich gäbe und die Behörde nichts für mich tun könnte. Er fuhr sich gierig um den Mund, damals konnte ich die Geste nicht deuten. Verstehen Sie mich, ich war in einer argen Situation, ich wusste nicht wohin ich sollte. Ich nahm seine „Notlösung“, ein paar Nächte bei ihm zu verbringen, an. Er versprach mir eine warme Unterkunft und etwas zu essen.

Dimitri, so hieß er, hatte eine geräumige Neubauwohnung in Kitaigorod, im Süden Moskaus. Gleich nach Dienstschluss, fuhren wir zu ihm. Den ersten Tag, ließ er mich in Ruhe. Er hatte zu arbeiten. Am zweiten Tag nahm er sich frei, er sagte er sei krank, hustete und band sich einen Schal um den Hals. Ab diesem Zeitpunkt beobachtete er mich und provozierte jeglichen körperlichen Kontakt. Er legte, während ich Fern sah, den Arm um meine Schulter, rieb mich nach dem Duschen trocken und fönte mir die Haare. Am dritten Tag, beim Frühstück, wurde er gewalttätig. Ich hatte mir gerade ein Brötchen mit Konfitüre geschmiert, da küsste mich Dimitri. Ich spürte seine Zunge tief in meinem Hals, das nächste an das ich mich noch erinnern kann, war, dass er vom Küchentisch aufstand, und mir versuchte die Hose, dich ich trug, herunterzureißen. Ich versuchte ihn wegstoßen, doch er war stärker als ich. Ich kann mich nur noch an seinen gierigen Blick erinnern. In meiner Not griff ich, nach etwas, ich wusste nicht was es war. Ich spürte nur einen harten, länglichen Holzgriff – das Brotmesser. Wenige Sekunden später lag er tot, mit einem Messer im Körper, auf dem Küchenfußboden.

An den Prozess kann ich mich nicht mehr erinnern. Es waren zu viele Gesichter, die ich nicht kannte. Menschen die eine fremde Sprache benutzten:“ Paragraph 11, Absatz 45, Paragraph 23, Absatz 67, Paragraph 110, Absatz 2100, Einspruch, Eid, ich schwöre…
Das Urteil fiel einstimmig aus: Mord. Die Strafe: lebenslange Haft.

Man brachte mich 800 Kilometer von Moskau entfernt, in die Sümpfe von Wologda. Auf die Gefängnisinsel, die im Volksmund „Die Insel des kalten Feuers“ genannt wird. Es ist das erste russische Gefängnis für Mehrfachmörder, auf einer Insel, nur durch einen schmalen Holzsteg vom Land getrennt. Alle Wachleute tragen Maschinenpistolen, es gibt auch einige Bluthunde, doch seit Moskau die europäische Charta unterschrieben hat, gibt es keine Folter mehr, und die Läufe der Waffen ruhen in ewiger Verbannung mit den Inhaftierten. Ich bekam eine Einzelzelle, mein neuer Name war „Nr. 348“.

Wann ich zum ersten Mal den Plan hatte, zu fliehen, weiß ich nicht mehr. Es muss ungefähr nach einem Monat Haft in dieser Hölle gewesen sein. Nicht, dass sie mich falsch verstehen, sie schlugen uns nicht, quälten nicht, sie sprachen nicht mal mit uns. Doch gerade das war es, diese Verbannung, diese nicht enden wollende Monotonie. Jeden Morgen um Acht und jeden Abend um sechs Uhr Essen. Einen Teller durch eine kleine Klappe in der Zellentür. Jeden Nachmittag um kurz nach drei Uhr einen Spaziergang an der frischen Luft – in einem 2 mal 4 Meter großen Verschlag, fünf Schritte zur jeweiligen Wand, hin, zurück, hin, zurück. Man wurde zu Automaten degradiert, die immer wieder das gleiche System abzurufen hatten. Am Anfang tröstete ich mit einer simplen Rechnung: 21 + 25 = 46. Immer wieder ging ich dieses Rechenexempel durch. Ich bin einundzwanzig Jahre, plus 25 Jahre Haft, bin ich mit 46 Jahren frei, werde ich meine Schuld abgebüßt haben. Frei, frei, frei.

Doch es war nur eine Illusion der ich mich hingegeben hatte. Eines Tages traf ich einen Mann im Verschlag. Ich war wieder dabei meine üblichen Runden zu drehen. Fünf Schritte hin, fünf Schritte zurück, fünf Schritte hin, fünf Schritte zurück. Nebenbei ging ich immer wieder meine Rechnung durch, ich sagte sie laut vor mich hin, als der Alte mich ansprach. „Was für ein Zeug quasselst du da, Junge?“, fragte er mich erstaunt in seinem starken Moskowiter Akzent. Ich hielt inne. „21 + 25 = 46, fünfundzwanzig Jahre Haft und ich bin mit 46 Jahren draußen“, entgegnete ich ihm. Ich begegnete ihm mit wirrem Blick, lächelte ihn an, als er mir dann mitteilte: “Du wirst hier nie wieder rauskommen, Junge“.
„Aber das kann nicht wahr sein, das ist nicht wahr“.
„Die lassen keinen Mörder raus, nie lassen sie einen gehen, nie ist einer hier wieder raus gekommen“.

Ab diesem Punkt hatte ich einen Plan gefasst, der mich nicht mehr los ließ. Ich würde der „Insel des kalten Feuers“ entkommen, koste es, was es wolle.

Das ist… das war meine Geschichte. Das verrostete Gitter, das drei Meter hoch, über dem Boden thronte und in einer stürmischen Nacht herunter gebrochen war; die drei Meter hohe Mauer, die ich hätte erklimmen müssen, zählen nicht mehr. Die Wachleute haben meine Flucht vereitelt. Auch der Name „Insel des kalten Feuers“ zählt nicht mehr. Die Waffen ruhen nicht, und in uns allen brennt das Feuer der Freiheit. So wie es die namenlosen Nummern auf den Holzkreuzen getan haben, auf dem Gefängnisfriedhof, auf den sie mich jetzt tragen. Ein Wärter hat mir den Puls gefühlt. Er meint ich wäre tot.

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
Dieser Text enthält 8473 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.