Eine alte Grammophonplatte, auf der die Nadel hĂ€ngenblieb. Berlin, Berlin, immer Berlin. Sie saĂen in der Sonne vor der Kaffeebar. Speedy Gonzales und seine Kumpane. So wie diese. Vor der Mauer. Nun, quasi. Sie saĂen nicht auf der Erde, saĂen auf StĂŒhlen und trugen keine Sombreros. Blickten auf die Kirche mit dem Pfarrhaus auf der anderen StraĂenseite, sahen auf Mauern, von denen der Putz bröckelte. Hinter der Kirche lag der Friedhof, und Karl dachte an die VergĂ€nglichkeit.
Sie saĂen vor der Bar. Karl und Manuelas GroĂvater. Manuela gehörte die Bar. Sie war auch schon GroĂmutter, hatte aber noch einen knackigen Hintern. Berlin, so erzĂ€hlte ihr GroĂvater. Berlin war eine schöne Stadt.
âIch weiĂ nicht, wie sie jetzt aussieht, die Stadt, aber wĂ€hrend des Krieges... DrauĂen, vor Berlin, arbeitete ich auf dem Feld, zusammen mit anderen Italienern. Zwangsverpflichtet. Und manchmal bekam ich einen freien Tag und einen Passierschein. Dann fuhr ich in die StadtâŠ. O, sie war sehr schön. Und einmal war ich in Potsdam... .â
Die letzte Frau kam aus der Kirche. Einige standen mit ihren FahrrÀdern auf dem Parkplatz und tauschten Neuigkeiten aus.
âDie haben ein Religionsmodul im Gehirnâ. Karl erinnerte sich. Vor ein paar Jahren hatte sich in einer HauptverkehrsstraĂe von Cosenza ein groĂer Schimmelfleck an einer Mauer gebildet. An der Mauer einer Bar. Wenn man die Phantasie dehnte, hatte er wie Jesus Christus ausgesehen. Und Tage spĂ€ter waren Busladungen von Frauen gekommen, um diesen Fleck anzubeten. Der Mann in der Bar hatte sich die HĂ€nde gerieben, und die Polizei war damit beschĂ€ftigt gewesen, den Verkehr umzuleiten.
Hatten Wissenschaftler nicht im Frontallappen des Gehirns die Stelle gefunden, in der sich ReligiositĂ€t manifestierte? Sie nannten sie âGott-Modulâ. WĂ€hrend der GroĂvater von Berlin erzĂ€hlte, hatte Karl einen Tagtraum:
Mit PrĂ€sident Bush fing alles an. Geheime Labors der National Security Agency bekamen den Auftrag, ihre dummen Roboter endlich mit kĂŒnstlicher Intelligenz und einem Religions-Chip aufzurĂŒsten. Der PrĂ€sident betete zu Gott, dass damit endlich Frieden auf der Welt einkehre.
Wenige Zeit spĂ€ter standen an den EingĂ€ngen der Einkaufszentren stĂ€hlerne KĂ€sten auf RĂ€dern und fragten jeden Konsumenten: âAn was glaubst du?â
âAn die Jungfrau Maria.â Der Laser, den der Roboter hatte, emittierte schöne, blaue Strahlen. Der Katholik verging darin, und der Roboter sagte: âFalsche Antwort.â
Ein anderer antwortete: âAn Allah.â âFalsche Antwort.â
âAn Big Mac.â âFalsche Antwort.â
âDass meine Aktien steigen.â âFalsche Antwort.â
âAn den Heiligen Geist, den Sohn und den Vater.â âFalsche Antwort.â
Ein Grund, PrÀsident Bush in sein unterirdisches Ausweichquartier in Colorado auszufliegen; denn Roboter dieses Typs hÀtten selbst vor dem PrÀsidenten der U.S.A. nicht halt gemacht.
âAn Vater, Sohn und den Heiligen Geist.â âDanke, Sir.â
âAn Gott.â âDanke, Sir.â
âAls ich jung war,â meinte der GroĂvater von Manuela, âhat mir die KĂ€lte nichts ausgemacht.â
Karl war drauf und dran zu bemerken: âDas hast du schon zehntausend Mal gesagtâ, aber dann wieder, er konnte es nicht. Immer wenn der GroĂvater Karl kommen sah, ging ein Leuchten ĂŒber sein Gesicht. Herrgott nochmal, es war der Zweite Weltkrieg! Die Zeit musste fĂŒr den GroĂvater etwas ganz Besonderes gewesen sein. Und doch hatte er sich wieder in seinem Heimatdorf niedergelassen. Und nun war er, Karl, auch da. FĂŒr immer. Seine Frau, eine Pflanze aus diesem Dorf, hatte sich schon dreizehn Jahre zuvor wieder aus Deutschland nach Italien verzogen, in ihr Dorf, wo bis auf zwei Feste nichts los war: Die Hexe Beffana, die am Abend des sechsten Januar auf dem Platz vor der Kirche in Brand gesetzt wurde, wĂ€hrend die Besitzer der wenigen LĂ€den GlĂŒhwein ausschenkten und Reibekuchen verteilten. Dann gab es das Kirchenfest der St. Anna im Juli, in dem getanzt wurde und junge MĂŒtter des Dorfes Nachthemden und Bademode vorfĂŒhrten.
Komisch, dass es besonders Frauen immer wieder dahin zog, wo sie her kamen. Karl hatte in South Carolina zwei deutsche Frauen gekannt. Eine hatte Heimweh, wurde depressiv und ihr Mann flog mit ihr nach Deutschland zurĂŒck, um dort Arbeit zu suchen. Die andere Frau hatte sich nach Deutschland abgesetzt, weil ihr Mann seine Existenz in Amerika nicht aufgeben wollte. Ihre drei Kinder leben bei ihm. Sie finden Amerika cool und haben da ihre Freunde. Karl verstand sie. Man kann da besser einparken und BriefkĂ€sten sind auf Autofensterhöhe.
Karl war eine âhired gunâ gewesen und als Programmierer von Firma zu Firma getingelt. Amerika. Und seine Gedanken liefen zu der Zeit zurĂŒck, als er den Traum hatte, Psychiater in Kalifornien zu werden. Psychiater in Hollywood. Deutscher Name und weiĂer Bart, das zieht immer, hatte er damals gedacht. Und die tollen Frauen. Er wusste, die Berufsethik hĂ€tte ihm im Weg gestanden, aber dennoch. In seinen Collegekursen hatte er die besten Noten, und Karl hatte damals gemeint, er könne alles erreichen, wenn er nur wolle. Aber die Frau, sie wollte nicht aus ihrem italienischen Dorf. Eine andere nehmen? Regisseur Francis Ford Coppola hatte einmal im Fernsehen gesagt: âDie erste Frau ist immer die beste.â Der musste es wissen, ist er doch mehrere Male verheiratet gewesen.
Bruno und Tonino unterhielten sich ĂŒber ihren Blutdruck. Bruno war vierundsiebzig und Tonino auch nicht viel jĂŒnger. Bruno war Radrennfahrer gewesen. Einmal hatte er Karl sein Magazin gezeigt. Ein alter Traktor, vier Gilera MotorrĂ€der aus vergangener Epoche, eine Vespa und zehn RennrĂ€der, die TrophĂ€en und Fotos. Tonino war Mechaniker und reparierte alles, was im Dorf anfiel.
Bruno und Tonino unterhielten sich ĂŒber ihren Blutdruck. Karl hörte nicht hin. Er kannte sie inzwischen alle: Betablocker, Clonidine, ACE-Inhibitoren, Diuretika. Ein Jahr hatte es gedauert, bis der Arzt die richtige Medikamentenkombination fĂŒr ihn herausgefunden hatte. Dallas. Dort ging es mit dem hohen Blutdruck los, als die Leute ĂŒber seine Schulter guckten, wenn er vor dem Bildschirm saĂ.
FĂŒnf Jahre spĂ€ter sauste der Blutdruck wieder hoch, und immer abends. Da war er schon in Italien. Pensionsschock? Und Karl hatte die Manschette um seinen Arm gelegt, gemessen und gemessen. Dann hatte er es mit der Angst bekommen, denn je mehr er maĂ, desto höher stieg der Blutdruck an.
âSie sind obsessiv, das sagt mir gar nichtsâ, hatte der Kardiologe gesagt. Karl hatte ihm seine Aufzeichungen mit dem Blutdruck fĂŒr das letzte halbe Jahr vorgelegt. Dann gab es den Befund der AugenĂ€rztin ĂŒber Karls Retinas. Der hatte ihn dann ĂŒberzeugt.
Hoher Blutdruck. Wieso? Genetische Disposition, hatte der Kardiologe gemeint und Karl zum GrĂŒbeln angeregt.
Waren sein Hippocampus und die Amygdala zu klein? SchlieĂlich hatten Forscher bei misshandelten Kindern eine Verkleinerung und damit eine erhöhte Reizbarkeit des limbischen Systemes im Gehirn festgestellt. Nicht dass Karl misshandelt worden wĂ€re, aber das stĂ€ndige Rein-in-den-Keller bei Bombenalarm ĂŒber fĂŒnf Jahre hinweg, da musste doch was hĂ€ngengeblieben sein, und Karl dachte an die Kinder in PalĂ€stina.
Chronischer Stress? Zuerst war es Hobby und spĂ€ter Arbeit. War gut bezahlt worden, der Job. Doch dann wurden die Programmiersprachen immer einfacher und Karl konnte nicht mehr sagen: âO, das dauert aber lĂ€ngerâ und in aller Ruhe seine Programme schreiben. Denn je einfacher die Sprache, desto gröĂer waren Konkurrenz und Stress. Und irgendwann sagte er sich: Jetzt ist Schluss. Da war er sechzig Jahre alt.
Genetische Disposition? Seine Mutter hatte einige Jahre AngstanfĂ€lle gehabt. Hatte Karl diese Gene auch? Seine Mutter. Sechundachtzig Jahre alt und sie fĂŒhlte sich noch ganz wohl. Abgesehen von den kleinen ZwischenfĂ€llen, wo sie plötzlich auf der StraĂe umkippte und aufs Gesicht fiel. Dann wurde sie von einem netten Menschen nach Hause gebracht und lief ein paar Tage mit Pflastern rum. Karls Gedanken formten sich zu einem weiteren Tagtraum:
âHerr Doktor ich habe Schmerzen in der Brust, was kann ich dagegen tun?â
âTja. Ihr EKG gibt nichts her. Sind gereizte Nerven.â
âCostochondritis, Herr Doktor?â
âHm, ja, kommt wohl durch Ihr Blutdruckmittel. Ich schreibe Ihnen Nimesulide in Pulverform auf. Nehmen Sie morgens und abends eine TĂŒte, deren Inhalt Sie in Wasser auflösen.â
Eine Woche spĂ€ter: âHerr Doktor, seitdem ich das Nimesulide nehme, ist mein Blutdruck angestiegen.â
âTja. Retention. Das Medikament hĂ€lt die Salze in Ihrem Körper zurĂŒck. Sie sollten die Dosis Ihres Blutdruckmittels um eine halbe Tablette erhöhen.â
âAber dann bekomme ich doch wieder Schmerzen in der Brust.â
âNun, nehmen Sie morgens und abends zwei TĂŒten Nimesulide statt einer.â
âDann steigt mein Blutdruck doch wieder an.ââŠ
Als einer der Patienten im Wartezimmer nach einer Stunde vorsichtig die TĂŒr zur Praxis öffnete und hineinlugte, machte er die TĂŒr schnell wieder zu und ging kopfschĂŒttelnd zu seinem Platz zurĂŒck.
âDer arme Doktor,â meinte er. âWisst ihr, was der Patient da drinnen gefragt hat? â Er hat gefragt: âUnd wie bekomme ich nun den Inhalt von zweitausend TĂŒten Nimesulide in mein Wasserglas?ââ
Die Frauen, die aus der Kirche gekommen waren, hatten sich in alle Winde zerstreut. Nicht mehr flink wie die Windhunde, aber zĂ€h wie Leder, so wie Karls Mutter. Sie hatte ihre Wohnung in Hamburg. Alte Frauen unter und ĂŒber sich. Ohne MĂ€nner. Die waren tot. Die Frauen halfen sich gegenseitig, hatten sich mit altersbedingen ZustĂ€nden abgefunden. Karl hörte sie: âJa, nö, ja ja. Ja, aber das geht doch nicht. Das können Sie doch nicht machen. Aber ja doch. Das habe ich auch schon gemacht. Ja nö. Doch, ja ja.â
Karl hatte eine Zeit lang geglaubt, jeder könne nach den Sternen greifen, wenn er nur wolle. In Amerika kommen solche Gedanken. Er erinnerte sich an sein Research Paper, an seine Arbeit, die fĂŒr den Psychologie-Lehrgang. âHomöostasis ist die Grundlage fĂŒr einen höheren Bewusstseinsstandâ. Im Grunde einfach. Homöostasis, das Gleichgewicht, hier das seelisch-körperliche, von dem aus der Mensch nach neuen Ufern strebte. Neu erlernte FĂ€higkeiten und Erkenntnisse wĂŒrden in das Bewusstsein integriert und ein neues Gleichgewicht auf höherer Plattform erreicht. Und Karl schrieb, so mĂŒsse es sein in unserer komplexen Welt. Dann kamen ihm Zweifel, als er in der Zeitung ĂŒber eine Frau las, die im Rathaus von Bay City FahrstuhlfĂŒhrerin wurde. Der Fahrstuhl fuhr nur bis in den ersten Stock. Höher war das Rathaus nicht. Doch fĂŒr die Leute, die noch nie einen Fahrstuhl von innen gesehen hatten und nicht wussten, wozu die Knöpfe dienten, wurde die FahrstuhlfĂŒhrerin angestellt. Die meinte, sie fĂŒhle sich so glĂŒcklich in ihrem neuen Job, weil sie dadurch so viel Kontakt zu Menschen habe. Als Karl das gelesen hatte, war ihm die Kinnlade runter gefallen und er hatte gedacht: âDie Frau will auf ihrem Level bleiben. Soll ich meine Arbeit wegwerfen? Mir ein anderes Thema suchen?â Er hatte es verdrĂ€ngt und seine Recherchen fortgesetzt.
Die Dow Memorial Library. Schneeflocken, die unter der Parkplatzbeleuchtung tanzten, Studenten, die sich an den Tischen im leisen GesprĂ€ch Notizen machten, wĂ€hrend er den BĂŒcherstapel mit Werken von Erikson, Tart, Jung, Glucksberg und Adler durcharbeitete. Jeden Tag hĂ€tte er sich dort aufhalten können, von Giganten lernen, sich am Ende auf ihre Schultern zu stĂŒtzen, um ĂŒber ihre Köpfe hinweg zu blicken. Und nun saĂ er vor der italienischen Kaffeebar.
âUnd einmal war ich im Tierpark. O, so viele TiereâŠ.â
Karl sah zu seinem Fahrrad hinĂŒber, mit dem er gekommen war. Er wĂŒrde noch ein wenig in der Gegend herumfahren. Er wusste, auf einem der Feldwege wĂŒrden zwei alte MĂ€nner sein. Jeden Tag standen sie vor ihren HĂ€usern. Wie zwei Fischreiher, die stumm ĂŒber den Acker blickten. Wenn Karl mit seinem Fahrrad vorbei fuhr, sahen sie hinter ihm her. Sie redeten kaum ein Wort miteinander. Das ist es wohl, dachte Karl, wenn sie ihre Gedanken flottieren lassen. Gedanken? Was wohl in ihren Köpfen vor sich ging? Menschen, die auf dem Acker arbeiteten, waren abends so mĂŒde, dass sie sich, wenn ĂŒberhaupt, höchstens zu einem Plausch aufrafften. BĂŒcher fanden sich selten in ihren Wohnungen. Nun waren sie in Pension, blickten ĂŒbers Land.
Karl wĂŒrde die Strasse entlang Richtung Bar fahren und einen alten Mann vor sich hin dĂ€mmernd in seinem Garten sitzen sehen. Im MĂ€rz legte seine Frau ihm eine Wolldecke auf die Beine.
Zehn Meter von der Kirche entfernt reckte sich der Turm mit der Uhr in den Himmel. Nicht so hoch, dass man die Uhr nicht noch hÀtte erkennen können. Der Turm hatte einen Wetterhahn, der funktionierte immer. Der Kirchturmuhr fehlte diese VerlÀsslichkeit.
âWar mal wieder stehen geblieben,â meinte Karl und sie beobachteten, wie der groĂe Zeiger den kleinen jagte, um die Zeit wieder aufzuholen.
âZeit, was fĂŒr ein PhĂ€nomenâ, dachte Karl. Alle halbe Jahre, wenn er aus Amerika nach Italien geflogen war, um seine Frau zu besuchen, ging er anschlieĂend in die Bar, und er dachte, die Zeit sei stehen geblieben. Die gleichen Gesichter. Piccinone sah sich im Fernsehen ein Radrennen an. Aldo, Corrado, Luigi und Enrico spielten Karten. Magda oder Manuela hinter dem Tresen. Hier Ă€ndert sich rein gar nichts, hatte er gedacht, und er hatte Unrecht. Wenn immer das Totenglöcklein bimmelte, war jemand gestorben.
âWenn ich in Berlin war, bin ich manchmal mit der U-Bahn gefahren.â Manuelas GroĂvater kam wieder in Fahrt. âDas war fĂŒr mich ein Abenteuer. Ich konnte ja kein DeutschâŠ.â
Warum lÀuft die Zeit so schnell, wenn man alt ist?
âLohnt gar nicht, aufzustehen,â sagte Karl manchmal zu seiner Frau. âDie Zeit lĂ€uft so schnell, da können wir doch gleich im Bett bleiben.â
Einige machen sich schon mit vierzig Gedanken, wie sie den Tod ĂŒberlisten konnten. Karl dachte an Futuristen wie Ray Kurzweil. Der hatte das Buch âThe age of spiritual machinesâ geschrieben. Wann war es noch, wenn wir unser Bewusstsein in in Computernetz laden können?, fragte sich Karl und dachte nach. 2099. Das wars. Das Gehirn wĂŒrde abgetastet und das Bewusstsein ins Computernetz geladen. Kurzweil hatte sich Gedanken gemacht, wie er die Zeit bis dahin ĂŒberbrĂŒcken konnte. Erst einmal gesund leben. Karl tat es auch. Doch seine Frau haute ihm immer zwei Steaks auf den Teller, wĂ€hrend sie nur eines aĂ. Karl kratzte sich am Kopf. PerfiditĂ€t weiblicher Gene? Was meinte Richard Dawkins? âWir sind Ăberlebensmaschinen â Robotvehikel, nur mit dem einen Ziel programmiert, selbstsĂŒchtige MolekĂŒle, die wir als Gene kennen, zu erhalten.â
Das leuchtete Karl ein. Unser Verhalten wird von Genen und Umwelt gesteuert. Nur warum haute ihm seine Frau immer zwei Steaks auf den Teller, wĂ€hrend sie nur ein Steak aĂ? Und Karl erinnerte sich. Der vier Milliarden Jahre Krieg. Sexueller Antagonismus. XX-Chromosome, XY-Chromosome. Weibliche und mĂ€nnliche Gene konkurrierten miteinander. Seit vier Milliarden Jahren. Und auch heute. In Eintagsfliegen, Schmetterlingen, Menschen. Frauen hatten XX, MĂ€nner XY. Karl erschauerte. Ob wir von Berlin redeten, ein gutes Buch lasen oder uns ĂŒber Radrennen unterhielten. Er wusste, Genen war das vollkommen schnurz. Kein Wunder, dass Frauen lĂ€nger lebten. Sie aĂen weniger. XX-Chromosomen sorgten dafĂŒr und versuchten MĂ€nnern auf perfide Weise das Leben zu verkĂŒrzen, indem sie die Frauen beeinflussten, ihren MĂ€nnern mehr auf den Teller zu packen. Das XY-Chromosom der MĂ€nner wehrte sich. Es schmuggelte ein paar Gene in den weiblichen Fötus. Wenn der sich ĂŒber die Jahre in eine alte Frau verwandelte, stimulierten sie ihr Gottmodul, dass sie zu jedem nichtigen AnlaĂ in Angst ausbrechen, Schutz in der Kirche suchen und ihrem Mann jede Woche eine Messe lesen lieĂ. Doch war es dann zu spĂ€t. Er war tot.
Karl sah sich um. Konnte er sich mit jemandem darĂŒber unterhalten? Wieso hatte das niemand untersucht? Keiner kannte diese Theorie. Ignorantes Volk. Sollte er mit denen, die vor der Bar saĂen, ĂŒber Dawkins reden? In einer Bauern- und Handwerkerkultur machte das keinen Sinn.
Karl versuchte so wenig wie möglich zu essen, wenn seine Frau es nicht mit bekam. Auch Ray Kurzweil mied die Schlemmerei. Wissenschaftler hatten die Lebenspanne von Hefe, Fruchtfliegen, WĂŒrmern, Fischen, Spinnen, MĂ€usen und Hamstern verlĂ€ngert, in dem sie deren Nahrung einschrĂ€nkten. War das nichts? Und der Kurzweil hielt dort nicht an. Der Vertrag mit der Alcor LebensverlĂ€ngerungsstiftung war schon unterschrieben. Vollkörper Suspension fĂŒr einhundertzwanzigtausend Dollar. Sollte er doch irgendwann einmal sterben, wĂŒrde sein Körper eingefroren und dann aufgetaut, wenn sie mit der BewusstseinsĂŒbertragung so weit waren.
âVielleicht klappt es ja nicht,â hatte Kurzweil gemeint. âAber wenn ich es nicht versuche, bleibe ich auf jeden Fall tot.â
âIch hatte einen Passierschein. Den habe ich dem Schutzmann gezeigt, und dann las er die Adresse, wo ich hin musste. Der war freundlich. Er hat mir aufgemalt, wie ich zu gehen hatte⊠.â
Karl sagte nichts. Dann blieb auch Manuelas GroĂvater stumm. Niemand sagte etwas. Die MĂ€nner, die sich vorher ĂŒber ihren Blutdruck unterhalten hatten, waren mit dem Fahrrad auf dem Nachhauseweg. FĂŒr Karl wurde es auch Zeit. Seine Frau wartete mit dem FrĂŒhstĂŒck auf ihn. Sie wĂŒrde zwei Brötchen auf seinen Teller legen, er eines zur Seite schieben. Karl dachte an das Alcor Institut und den Mann mit der Wolldecke auf den Beinen, und er hatte wieder einen Tagtraum:
Der Mann war sehr alt, als er mit seiner Frau bei Alcor in Scottsdale, Arizona eintraf. Sie hatten eine Reisetasche mit, obwohl es eine Reise in die Zukunft war. Die FormalitĂ€ten waren erledigt. War die Wissenschaft so weit, dass sie Individuen verjĂŒngen konnte, sollte das Paar aufgeweckt werden.
Er friert so leicht, dachte die Frau, als sie sah, wie ihr Mann eingeschlÀfert und in den BehÀlter mit dem Helium gelegt wurde. Zu Hause hatte sie ihm immer eine Wolldecke auf die Beine gelegt. Als die Techniker einmal wegsahen, öffnete sie Reisetasche und HeliumbehÀlter. Sie holte die Wolldecke hervor, stopfte sie zu ihrem Mann und klappte den Deckel wieder zu.
âSie haben dreihundert Jahre ĂŒberdauert, gnĂ€dige Frau. Wir können Sie verjĂŒngen. Kommen Sie,â strahlte der Mann im weiĂen Kittel, zog sie aus dem Heliumsarg und ging mit ihr zu dem anderen BehĂ€lter. âSie wollen doch sicher dabei sein, wenn wir Ihren Mann aufwecken. Ăffnen Sie.â
Gleich konnte sie ihren geliebten Mann in ihre Arme schlieĂen. Nach dreihundert Jahren, und sie riss den Deckel hoch. Der Schrei blieb ihr im Halse stecken. Der Mann im weiĂen Kittel zog eine Wolldecke aus der glibberigen Masse.
âEin Grad wĂ€rmer, und der Körper löst sich auf,â meinte er bedauernd. âDoch die Wolldecke ist noch gut erhalten.â
âSo, ich muss jetzt los,â meinte Frank, sagte âciaoâ, lieĂ Manuelas GroĂvater hinter sich und fuhr mit dem Rad nach Haus.
Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr Dieser Text enthält 23632 Zeichen.