“Ich werde jetzt drüben in der Bahnhofskneipe ein Bier trinken und dann nach Hause gehen”, murmelte ich vor mich hin.
Obwohl es bereits Mitternacht war, herrschte in der Kneipe Hochbetrieb. Ich sah, dass alle Tische besetzt waren. Nur am Fenster, links in der Ecke, saß an einem Zweiertisch eine Frau allein.
“Entschuldigung, ist hier noch frei?”
Die Frau musterte mich kurz, dann sagte sie freundlich: “Natürlich!”
Erschöpft setzte ich mich und bestellte ein Bier.
“Ist Ihr Sohn auch nach Freiburg gefahren?” fragte sie nach einer Weile.
“Wieso? Wie kommen Sie darauf?” Erstaunt sah ich die Frau an. Mir fiel auf, dass sie warme, grasgrüne Augen hatte. Sie zupfte einen weißen Faden von ihrer hellgrünen Kostümjacke und sagte: “Vorhin auf dem Bahnsteig, da stand ich neben Ihnen. Ich wollte gerade meiner Tochter viel Erfolg wünschen, als ich hörte, wie Sie zu Ihrem Sohn sagten: “Halt die Therapie durch!” Sie schaute in Richtung Tür, als ob sie auf jemand warten würde und lächelte.
“Entschuldigen Sie bitte ... ich bin noch immer durcheinander ... das mit meinem Sohn ... das hat mich so mitgenommen. Hoffentlich hält er durch!”
Und plötzlich verspürte ich den Drang in mir, dieser fremden Frau von dem zu erzählen, was mich so bewegte.
“Wissen Sie, ich war so stolz auf ihn. Aber dann fing er mit den Drogen an. Das hat meine Frau nicht verkraftet, sie ist letztes Jahr gestorben!” Mein Kopf fiel nach vorne und ich seufzte.
Auf einmal spürte ich ihre Hand auf meinem Arm. Erschrocken schaute ich auf, wischte mir über die feuchten Augen und bekam wohl einen hochroten Kopf.
“Sie brauchen sich nicht zu schämen. Ich habe auch einen Kloß im Hals”, sagte sie ganz leise und bestellte rasch bei der jungen Kellnerin, die gerade vorbeitänzelte, noch ein Kännchen Kaffee.
“Achtung, Achtung!” Eine metallische Stimme kam irgendwo aus der Decke.
“Eine Durchsage! Frau Marly Kappka bitte zur Information!”
“Mein Gott! Es ist bestimmt was mit meiner Tochter passiert!” Die Frau sprang auf. Sie wurde kreideweiß.
“Gehen Sie ruhig hin, es ist bestimmt nichts Schlimmes”, sagte ich, als sie zögerte.
Ich war wieder unruhig geworden und zündete mir eine neue Zigarette an. In meinem Magen rumorte es. Ich brauchte einen Schnaps, aber die Kellnerin war nicht zu sehen.
Marly Kappka! Der Name kam mir irgendwie bekannt vor. Hieß nicht meine Freundin so, die ich mal vor vielen Jahren hatte? Ich stützte den Kopf in beide Hände und begann zu grübeln.
Als ich ein Räuspern hörte, schreckte ich auf und merkte erst jetzt, dass die Frau wieder am Tisch saß.
Sie trank einen Schluck Kaffe und sagte dann: “Es war meine Tochter. Sie wollte doch ihr Handy ausprobieren und wunderte sich, dass ich noch nicht zuhause war. Schließlich sagte sie mir noch, dass der junge Mann im Abteil auch in die Klinik fahre.” Sie atmete erleichtert auf. “Jetzt bin ich beruhigt.”
“Soll das heißen, dass beide die gleiche Therapie machen?” Ich wurde noch nervöser und fingerte erneut nach der Zigarettenpackung, die aber leer war.
Die Frau beugte sich zu mir herüber und flüsterte: “Sind vor vierzig Jahren nicht auch zwei Menschen im Nachtzug nach Freiburg gefahren – nur nicht in eine Klinik?” Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
In diesem Augenblick erinnerte ich mich und ich schloss die Augen.
Ich saß im Zug und plauderte mit einem Mädchen. Marly war groß und schlank und hatte warme, grasgrüne Augen. Als wir beide in Freiburg ausstiegen, war klar, dass wir uns wiedersehen würden. Drei Jahre lang trafen wir uns fast jede Woche, mal in Freiburg, mal in Köln. Doch dann musste ich zur Bundeswehr und wir trafen uns immer seltener. Ein Jahr später lernte ich meine Frau Ulrike kennen. Von Marly hatte ich nie mehr etwas gehört.
Und jetzt saß sie mir gegenüber. Ich merkte, dass ich feuchte Hände bekam und sprang auf.
“Marly! Ich möchte ...”
“Pst!” Marly stand ganz langsam auf und legte ihren Zeigefinger auf meine Lippen. “Sag jetzt nichts! Wir gehen.”
Als wir die schwach beleuchtete Ausgangstreppe herunter gingen, flüsterte ich ihr ins Ohr: “Komm mit mir! Meine Wohnung liegt nur fünf Minuten von hier.”
“Und mein Auto steht direkt neben dem Ausgang”, erwiderte sie und hakte sich bei mir unter.
“Was wird denn dein Mann sagen, wenn du ... mit mir ... und dann um diese Zeit ...?” Mir war gar nicht wohl bei dieser Frage.
“Ich lebe allein und nun steig ein!” antwortete sie und öffnete die Wagentür.
“Trinken wir einen Sekt zusammen?” fragte sie, als wir uns in dem kleinen, aber gemütlichen Wohnzimmer gegenüber saßen.
“Ich habe das Gefühl, dass heute ein Licht in mein Schattendasein gefallen ist”, sagte ich nachdenklich, nachdem wir das erste Glas Sekt getrunken hatten.
“Na, na!” lachte sie, “so schlimm wird es in den letzten siebzig Jahren doch wohl nicht gewesen sein, du hattest doch ...”
Mit einer Handbewegung unterbrach ich sie. “Erst erzählst du mir aber deine Geschichte. Die ist bestimmt viel interessanter, als mein eintöniges Beamtendasein.”
Marly stand auf, ging im Zimmer auf und ab und sprach so leise, dass ich mich anstrengen musste, sie zu erstehen.
“Kurz, nachdem wir uns damals aus den Augen verloren hatten, lernte ich einen Mexikaner kennen. Als ich dann schwanger wurde, verschwand er heimlich nach Amerika. Ich arbeitete bis zu meiner Pensionierung vor zwei Jahren als Sekretärin und war nur für meine Tochter da.”
Sie machte eine Pause und holte aus der Schrankwand ein eingerahmtes Bild von ihrer Tochter.
“Es war nicht immer ganz leicht in all den Jahren mit Jenny. Sie hat das Temperament und den dicken Kopf von ihrem Vater”, meinte sie etwas wehmütig. “Der schrecklichste Tag in meinem Leben aber war letztes Jahr Weihnachten, als sie mir gestand, Drogen zu nehmen. Und jetzt hoffe ich, genauso wie du, dass meine Tochter und dein Sohn die Therapie auch durchhalten.”
Plötzlich lachte sie laut auf, eilte in den Flur und kam, einen kleinen Zettel in der Hand schwenkend, auf mich zu. “Weißt du, was mir vorhin auf dem Bahnsteig passiert ist?”
Ich schüttelte den Kopf und sah sie fragend an.
“Ich stand also mit Jenny auf dem Bahnsteig und wir warteten auf den Zug. Mit einmal bläst mir der Wind ein Stück Papier vor die Füße. Neugierig wie ich nun einmal bin, hebe ich den Fetzen auf und was lese ich da? > Heute werde ich dich wiedersehen <.
Sie lächelte. “Ich glaube, das war mal ein Liebesbrief.”
Sie setzte sich wieder und fragte nach einer Weile: “Glaubst du eigentlich an Zufälle?” “Normalerweise nicht, aber es gibt Situationen, da weiß man nicht ...”
“Warum das Schicksal uns noch einmal zusammengeführt hat”, unterbrach sie mich.
“Aber vierzig Jahre sind eine lange Zeit und deshalb müssen wir Geduld haben, ehe wir ...” Sie stockte und wischte sich eine Träne ab.
“Vielleicht doch noch ein gemeinsames Leben beginnen, meinst du, nicht wahr?” ergänzte ich und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
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