Sexlibris
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Wo ist die Grenze zwischen Pornografie und Erotik? Die 30 scharfen Geschichten in diesem Buch wandeln auf dem schmalen Grat.
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Mai 2003
Sonntag
von Fran Henz


Die neue Dauerwelle steht mir gut. Dieses Mal habe ich mir auch eine Tönung gegönnt, aber nicht das lächerliche Blauviolett, das die alten Schachteln hier tragen, sondern leuchtendes Silberweiß. Wie Jean Harlow in ihren besten Tagen.

Der Friseur ist unten im Erdgeschoß, genauso wie eine Buchhandlung, eine Arztpraxis und ein Kosmetiksalon. Sehr praktisch. „Mühlengrund“ heißt das Ganze und in den Prospekten beim Eingang steht „Seniorenresidenz“. Und das ist es auch. Eine Residenz, meine ich.

Die Geschäfte sind um einen riesigen, Tag und Nacht sprudelnden Springbrunnen aus rosagrauen Marmorblöcken gruppiert, der den Besucher des „Mühlengrundes“ mit sanftem Murmeln begrüßt. Mit wuchernden Grünpflanzen ausgestattete Nischen laden zum Verweilen an Regentagen ein, an den sonnigen Tagen der warmen Jahreszeit bieten Tische und Bänke im Freien reichlich Gelegenheit zum geselligen Beisammensein, steht im Prospekt.

Von meinem Balkon aus habe ich einen Blick über den Park bis hinunter zu einem künstlich angelegten Teich, dort gibt es sogar Enten. Füttern darf man sie nicht, weil sie sonst das Wasser zu sehr versch... mutzen. Hat der Direktor gesagt und ein Schild aufstellen lassen. Weit weg schimmern die Glasfassaden der Wolkenkratzer in der City.

Die Pendeluhr, eines jener Dinge, die ich aus meiner alten Wohnung mitgenommen habe, schlägt zehn. Ich stütze mich auf die Kommode und gehe langsam zurück ins Wohnzimmer. 9 Schritte bis zum Tisch. Dort habe ich vier Kuverts für meine Enkel bereit gelegt. In jedem sind 20 Euro. Nicht viel, aber die Kinder, allesamt Studenten, können jeden Pfennig, nein Cent heißt das jetzt – Lena, so merk dir das doch endlich! - gebrauchen. Ich würde ihnen ja gerne mehr gegeben, aber bis auf 200 Euro, das ist mein persönliches Taschengeld, kriegt der „Mühlengrund“ meine gesamte Rente. Zusätzlich müssen noch Hilde und Manfred einen Teil ihres Einkommens beisteuern, damit ihre Mutter hier den Lebensabend verbringen darf.

7 Schritte vom Tisch bis zur Balkontüre. Ich hantle mich entlang der Rückenlehen und mache langsam einen Schritt nach dem anderen. Die Beine. Sie jammern bei jeder Bewegung. Aber das ist auch mein einziges Problem. Ich hab noch alle Zähne, was Ärzte nie glauben wollen, bevor sie daran gerüttelt haben. Zum Lesen brauche ich zwar eine Brille, aber sonst sind meine Augen scharf, so wie mein Verstand, kein Anzeichen von grauem Star. Davor habe ich früher immer Angst gehabt – nichts mehr sehen können, nichts mehr Lesen können. So wie Lieselotte von gegenüber. Seit drei Jahren ist alles nur mehr ein weißer Nebel für sie und aus lauter Angst lässt sie sich auch nicht operieren. Ich lese ihr aus der Tageszeitung vor und nehme sie an der Hand, wenn wir zum Frühstück oder zum Mittagessen in den großen Speisesaal marschieren. Marschieren ist vielleicht nicht das richtige Wort.

Das Abendessen wird aufs Zimmer, Appartement nennen es die Betreuer, gebracht.
Ich sitze dann in einem großen, gemütlichen Fernsehsessel, den man mit einer Fernbedienung in jede beliebige Position bringen kann, schau mir die Tagesschau oder eine Wiederholung von Derrick an. Manchmal schlafe ich dabei ein. Aber das macht nichts, der Sessel ist so gemütlich, darin kann man die ganze Nacht verbringen. Der Sessel ist ein Geschenk von meinem lieben Manfred. Der Junge war schon immer um mich besorgt. Nicht so wie Hilde. Hilde hat gestern angerufen, und ihren Besuch abgesagt. Das Auto ist kaputt. Sagt sie.

Im Gegensatz zu den anderen Bewohnern mache ich mittags kein Nickerchen, deshalb schlafe ich nachts auch gut und brauche keine Tabletten dafür, sowie Christine und Bärbel und Veronika. Der Frauenüberschuss in der Residenz ist gewaltig, auf 96 Frauen kommen elf Männer, acht von ihnen leben alleine, drei sind verheiratet und bewohnen die Doppelappartements.

Endlich bin ich bei der Balkontüre angekommen und schiebe sie auf. Ich lasse mich auf den dort wartenden Sessel fallen, strecke die Beine aus und blickte zufrieden hinunter in den Park. Ein Jammer, dass Viktor das nicht erleben darf, er hat immer von einem Balkon geträumt oder von einem kleinen Garten. Aber das war nicht möglich, damals nach dem Krieg und auch später nicht. Wir sind nicht arm gewesen, aber reich auch nicht. Auto, Fernseher, Urlaub – kein Problem, aber für ein Häuschen im Grünen blieb nie genug Geld und das sah Viktor nach langen Diskussionen auch ein. Außerdem macht ein Garten und ein Haus ganz schön Arbeit, sicher mehr als eine 80 m2 Wohnung, doch das brauchte Viktor ja nicht zu wissen.

Auf dem Nebenbalkon hustet Erika. Die arme Seele. Immer wartet sie darauf, dass jemand sie besuchen kommt, erzählt von ihren vier Kindern, den neun Enkeln und ihrer drei Monate alten Urenkelin, die sie noch nie gesehen hat. Ich versuche, so leise wie möglich zu atmen, damit sie nicht hört, dass ich da bin. Das Letzte, was ich jetzt will, ist mit endlosen, uninteressanten Geschichten voll gequatscht zu werden.

Ich bekomme jeden Sonntag Besuch. Ja, obwohl ich schon fast ein halbes Jahr hier bin, kommt mich jede Woche jemand besuchen. Nicht nur zum Muttertag. Oder zu Weihnachten. Natürlich bemerke ich die neidischen Blicke, die mir in der Empfangshalle folgen, wenn ich mich mit den Kindern dort treffe. Die Blicke dieser ausrangierten, senilen Vogelscheuchen, die nichts anderes mehr tun als sich gegenseitig belauern, ihre Leiden aufzählen und ihre Pillen vergleichen.

Eigentlich gehöre ich nicht hierher. Aus reiner Gefälligkeit habe ich zugestimmt, außerdem hatten Hilde und Manfred Recht, 80 m2 sauber zu halten ist mühsam in meinem Alter, und ganz alleine zu wohnen, die reinste Verschwendung. Noch dazu wo Alex, der nächstes Jahr sein Betriebswirtschaftstudium abschließen wird, für sich und seine Freundin eine Wohnung braucht. Natürlich hatte ich dafür Verständnis. Bin ja kein starrsinniger alter Mann, der nur in der Vergangenheit lebt. So wie Alfons aus dem zweiten Stock.

Seit ich hier bin, brauche ich mich um nichts mehr zu kümmern, brauche nicht mehr kochen, putzen oder einen unwilligen Hausmeister bemühen, wenn eine Glühbirne kaputt ist. Die Pendeluhr schlägt elf. Die Kinder sollten langsam kommen, sonst sind die besten Plätze in meinem Lieblingsrestaurant besetzt. Wahrscheinlich stecken sie wieder einmal im Stau.

Die Lesebrille und das Buch, das ich gestern angefangen habe, liegen auf der Wohnzimmercouch. Mist. 6 Schritte bis dorthin. Ich ziehe mich hoch und halte mich ein paar Augenblicke am Balkongeländer fest, bevor ich mich an der Glastüre abstütze, dann an der Lehne eines Sessels und schließlich am Armteil der Couch. Ich greife nach der Brille, schieb’ sie auf meine Stirn und nehme das Buch. Dann wieder die 6 Schritte zurück.

Nach dem vierten Kapitel läuten die Mittagsglocken und mein Magen knurrt. Ich hätte das Handy, das mir Hilde letzte Weihnachten schenken wollte, doch annehmen sollen. Dann könnte ich die Kinder anrufen. Aber die kleinen piepsenden Knöpfe und die komplizierte Bedienungsanleitung, das war mir zuviel. So muss ich hinunter zur Rezeption gehen, um telefonieren zu können.

Seufzend mache ich mich auf den Weg. 14 Schritte von Balkon bis zur Eingangstüre. Dazwischen noch ins Bad. Nicht, dass ich inkontinent wäre, aber sicher ist sicher. Mir passiert garantiert kein peinliches Missgeschick. So wie Annette.

28 Schritte von der Eingangstüre zum Lift. 22 Schritte vom Lift zum Empfangspult.
Das junge Mädchen tippt meine Zimmernummer in den Computer und reicht mir das Telefon. Erst jetzt fällt mir ein, dass ich das Adressbüchlein mit den Telefonnummern auf meinem Zimmer vergessen habe. Also kann ich nur Hilde und Manfred am Festnetz anrufen, die Handynummern weiß ich nicht auswendig. Bei Hilde meldet sich niemand, bei Manfred der Anrufbeantworter, aber bevor ich mich überwinden kann, etwas auf das Band zu sprechen, schnappt das Gerät ab.

Unschlüssig halte ich das Telefon in der Hand und gebe es dann dem Mädchen zurück. „Ich bin im Speisesaal, wenn jemand für mich kommt, Fräulein“, sage ich. Die Kleine nickt. „Gerne Frau ...“, sie blickt auf den Bildschirm, „... Frau Bayer.“

Im Speisesaal setze ich mich auf einen Zweiertisch an der Wand. Mir ist nicht nach Konversation. Eine kleine Speisekarte mit den Tagesgerichten steht neben einer Vase mit einer Nelke. Das Essen ist wirklich gut hier und reichlich. Ich wähle Champignoncremesuppe, Kalbsragout mit Spätzle und eine Biskuitrolle. Zahlreiche Tische sind frei. Sonntags werden viele Bewohner von ihren Angehörigen zum Mittagessen abgeholt. Nun, vielleicht habe ich falsch verstanden, und die Kinder wollten erst zur Nachmittagsjause kommen.

Um zwei bin ich wieder in meinem Appartement. Ich setze mich auf meinen Fernsehsessel und bringe ihn mit der Fernbedienung in waagrechte Stellung. Ein Heinz Rühmann Film wird gesendet, ich kenne ihn, aber der Titel fällt mir nicht ein und ich versuche, mich zu erinnern. Bei der Schlussmelodie wache ich auf. Es ist vier Uhr und ich sehe mir einen Bericht über die Galapagosinseln an. Lesen würde ich lieber, aber das Buch und die Brille liegen noch auf dem Balkon und ich will nicht aufstehen und hinübergehen.

Um halb sieben wird das Abendessen gebracht. Kalter Braten, ein hart gekochtes Ei, zwei Tomaten, ein Päckchen, Butter, Brot und Vanillepudding. Ich habe keinen Hunger. Ich gehe ich ins Bad, wasche mich und ziehe mein Nachthemd an. Im Wohnzimmer sehe ich die vier Kuverts auf dem Tisch liegen, die Verkörperung der nackten, kalten Wahrheit. Niemand war gekommen und niemand würde kommen.

Ich nehme die Kuverts, gehe die vier Schritte zur Kommode, öffne eine Lade und lege sie hinein. Die Lade quietscht nicht, als ich sie schließe. Sie ist neu, so wie alles in diesem Zimmer. Alles, bis auf mich. Und die Pendeluhr.

Ich drehe mich um. 6 Schritte bis zum Bett. Viel zu viele Schritte bis zum nächsten Morgen.


© Fran Henz

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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