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Mai 2003
Das Foto
von Silvia Both


Ich sehe das Bild auf meinem Nachttisch. Zwei Menschen an einem Meeresstrand, ein Mann und eine Frau. Mit bloßen Füßen stehen sie im feuchten Sand und lächeln. Wer sind diese beiden? Kenne ich sie? Ist es vielleicht mein Sohn mit seiner Frau? Ich weiß nicht, ob ich einen Sohn habe. Die Frau könnte auch meine Tochter sein.

„Frau Becker, wie geht es Ihnen heute?“

„Ach, ich habe Sie gar nicht kommen gehört. Wissen Sie, in meinem Alter, da machen die Ohren nicht mehr so mit.“

„Das macht doch nichts, Frau Becker, ich kann ja lauter sprechen. Ich bin die Anja. Jetzt messe ich erst mal Ihre Temperatur.“

Sie hilft mir mit dem Thermometer. Fiebermessen. Bin ich krank?

„Bin ich krank, Anja?“

„Nein, Frau Becker, Sie wohnen hier. Das ist die Seniorenwohnanlage Mozart.“

„Ach ja, Mozart, so schöne Musik! Die Zauberflöte ...“

Ich höre jemanden singen. Auf der Bühne steht er bunt bekleidet, sieht wie ein Paradiesvogel aus. Er hüpft hin und her. Der Vogelfänger bin ich ja ...

„Möchten Sie noch etwas Tee haben, Frau Becker? Ihre Tasse ist leer.“

„Gerne, Frau ...“

„Anja, ich bin die Anja. So, hier ist Ihr Tee. Jetzt muss ich weiter. Auf Wiedersehen, Frau Becker!“

„Auf Wiedersehen, Frau ...“

Wo bin ich hier? Ich muss krank sein. Das Bett, der Nachttisch, so sieht es in einem Krankenhaus aus. Hoffentlich werde ich bald wieder gesund und kann nach Hause gehen. Ich könnte schon mal den Koffer packen. Das Foto gefällt mir. Die Leute auf dem Foto sehen so glücklich aus, sie lächeln. Wen kann ich denn ...?

„Guten Tag, Frau Becker! Ich bin die Gisela! Ich habe Ihnen Ihr Mittagessen mitgebracht.“

„Was gibt es?“

„Hühnersuppe. Möchten Sie die Suppe selber essen?“

Da ist der Teller. Direkt vor mir. Es dampft. Jetzt habe ich den Namen der Suppe vergessen. Meine Hand zittert.

„Ich verschütte alles, Frau ...“

„Gisela. Ich helfe Ihnen mit dem Löffel. Na bitte, so geht es doch.“

Schön warm. Gut die Suppe. Ich werde der Kellnerin ein Trinkgeld geben.

„Jetzt muss ich weiter, Frau Becker. Einen schönen Tag noch!“

„Ihnen auch, Frau ...“

Weg ist sie. Immer auf dem Sprung, die jungen Leute. Wo ist denn mein Kleid? Ich muss aufstehen, ich kann doch nicht den ganzen Tag im Bett herumliegen. Aber da ist ein Gitter um mein Bett. Was soll denn das? Ich bin doch kein Kleinkind. Da fällt mir ein Name ein, Ida. Ida ist meine Tochter, sie hat ein weißes Gitterbett. Ich muss aufstehen und Ida zum Kindergarten bringen. Da kommt jemand.

„Hallo Mutti!“

„Hallo! Das sind ja schöne Blumen. Und so viele Farben.“

„Alle Farben, die sie hatten. Ich bin Ida, Mutter.“

„Ja, Ida, meine Tochter. Ich muss dich zum Kindergarten bringen.“

„Das lass man lieber bleiben, ich bin schon fünfundsechzig, Mutter. Hast du dich an früher erinnert? Der Kindergarten hat mir gefallen, aber dann mussten wir weg aus der Stadt. Wir wurden nach Bayern evakuiert. Kannst du dich noch an den Krieg erinnern?“

Die freundliche Dame erzählt mir etwas. Sie hat ein schlimmes Schicksal hinter sich, Krieg, Bomben, Flucht. Die Arme. Ich möchte ihr etwas Schönes zeigen.

„Da ist ein Foto auf dem Nachttisch. Schauen Sie, die beiden lächeln.“

Das Foto gefällt ihr auch. Sie umarmt mich, schaut mit mir auf das Bild. Der junge Mann hat auch seinen Arm um die Schulter des Mädchens gelegt. Die Wellen erreichen sie, umspülen ihre Füße im Sand. Der Sand bricht weg und die Füße sinken ganz leicht ein ...

„Das bist du, Mutter, mit Vater an der Nordsee.“




(c) Silvia Both

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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