Der Tod aus der Teekiste
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Mai 2003
Wer ist Norma?
von Lars Blumenroth


„Schon wieder diese Tabletten?“
Die Schwester sah sie mitleidig an.
„Wie immer Norma, wie immer.“
„Wie immer also?“
„Ja, genau. Wie immer.“
„Diese scheiß Tabletten bringen mich irgendwann...“
„Nein das tun sie nicht, Norma. Die sind gut für ihre Ruhe. Die bringen sie nicht um.“
„Das haben sie schon längst getan, Schätzchen, schon längst.“
„Wie immer.“ seufzte die Schwester.
„Ja, wie immer. Jede Nacht aufs Neue.“
Die Schwester verzog ihr Gesicht noch eine Spur mehr, um ihr grenzenloses Mitgefühl zu demonstrieren.
„Sie schlafen also schlecht, Norma?“
„Nein, ich sterbe.“
„Soll ich ihnen ein zusätzliches Schlafmittel geben?“
„Nein, ich sterbe...“
„Das wirkt wahre Wunder.“
„...sonst wieder.“
„Bitte was?“
„Wie immer, jede Nacht.“
„Ich verspreche ihnen, dass sie diesen Traum nicht mehr haben, wenn ich ihnen...“
„Nein, wie immer.“
Die Schwester war ratlos. Sie hatte keine Lust auf solche Mätzchen. Norma war eine anstrengende Patientin. Manchmal hatte sie regelrecht Psychospielchen parat.
„Ich bin tot ich bin tot ich bin tot ich bin tot..:“
„Norma!“
Das war einer dieser Anfälle. Der Schwester wurde heiß im Gesicht. Sie hatte Angst.
„Ich bin gestorben, Schwester, bitte rufen sie einen Arzt.“
Norma sah die Schwester mit leicht umnebelten Blick an.
„Nein, Norma, sie sind nicht tot.“ presste die Schwester heraus. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück.
„Doch!“ schrie Norma plötzlich.
Der Schwester war mulmig zumute. Am liebsten würde sie einfach davonlaufen. Aber Norma war die wertvollste Patientin.
„Ich bin tot!“
Monatlich gingen hohe Summen für ihre Verwahrung auf das Konto der Anstalt ein. Das hatte die Schwester so gehört.
„Ich bin tot, Schwester. Wo ist der Arzt? Wo bleibt der scheiß Arzt?“
„Norma, sie sind nicht tot. Sie phantasieren.“
„Ich und phantasieren! Pah!“
Norma sah die Schwester unmittelbar an. Ihr Blick war nun vollkommen klar. Die Schwester schluckte. Das mulmige Gefühl weitete sich aus.
„Wissen sie, ich komme mir vor... als hätte ich nur eine Reise gemacht.“
„Eine Reise?“
„Ja, und mein Körper ist plötzlich so wahnsinnig alt.“
„Sie werden ja morgen auch sechsundsiebzig, Norma.“
„Ach wirklich?“
„Ja, morgen ist der 1. Juni.“
„Am 5. August bin ich tot.“
Die Schwester dachte, dass dies gut sein könne. Vielleicht hoffte sie es sogar ein wenig. Nie wieder Norma, das war schon ein sehr verlockender Gedanke.
„Schwester?“
„Ja, Norma?“
Norma hatte angefangen zu weinen. Die Schwester bekam ein schlechtes Gewissen.
„Fast vierzig Jahre...“
Die Schwester streichelte ihr sanft über den Kopf.
„Nicht, mein Haar!“ Norma sah sie erschrocken an. „Wie sehe ich überhaupt aus, Schwester?“
„Soll ich einen Spiegel holen?“
„Ja, bitte, meine Frisur...“
Die Schwester verließ das Zimmer.
„Ob es wohl eine Feier gibt, morgen?“
Norma sah auf ihre Beine.
„Ich brauche ein schönes Kleid. Ich kann doch nicht in diesen Sachen...“
Die Schwester kam mit einem kleinen Handspiegel wieder herein. Eigentlich hätte sie sich Zeit gelassen, aber Norma tat ihr plötzlich Leid.
„Hier, schauen sie Norma.“
„Oh, ich bin ja schon so verflucht alt.“ murmelte Norma. „Und meine Haare! Grau!“
„Was hatten sie denn erwartet?“
„Ich war blond, Schwester, blond! Nicht wirklich, aber... blondiert, sie wissen schon.“
„Das ist aber schon ein Weilchen her Norma.“
„Es muss gestern gewesen sein, oder vorgestern.“
Die Schwester lachte auf. Norma meinte es aber ernst. Sie sah die Schwester an und schüttelte ungläubig ihren Kopf.
„Gestern.“ wiederholte sie nochmal nachdrücklich.
„Norma, sie sind seit über neununddreißig Jahren hier. Sie sind garantiert nicht von heute auf morgen gealtert.“
„Nein.“
„Sie sind verwirrt.“
„Nein.“
Die Schwester seufzte.
„Es ist wie eine Zeitreise.“
„Bitte was?“
„Eine Reise. Sie schlafen im Zug ein und wenn sie aufwachen, merken sie, dass sie nicht ausgestiegen sind.“
„Wir sind aber nicht im Zug, Norma.“
„Schwester, ich will wieder zurück.“
Die Augen der alten Frau füllten sich wieder mit Tränen.
„Schwester, das hier ist doch ein Traum nicht wahr?“
„Nein, sie träumen nicht Norma. Aber hier ist es so schön, als wären sie in einem Traum, oder nicht?“
„Kein Traum?“ Ihr Blick war wieder abwesend. „Kein scheiß Traum?“ Sie zitterte. Sie schluchzte einmal. „Ich will zurück!“
„Sofort Norma, ich richte das Bett eben her.“
Die Schwester trat an das Bett heran und bereitete es vor.
„Ich will zurück nach Früher. Ich will nicht schlafen, keine Tabletten. Ich will aussteigen.“
„Ihr Bett ist fertig, Norma.“ Die Schwester legte eine Hand auf ihre Schulter. „Kommen sie.“
„Ich will nicht schlafen!“
„Das wird ihnen aber gut tun.“
Die Schwester hievte die alte Frau ins Bett. Sie war so leicht, so klein, so zerbrechlich.
„Werden die Männer wiederkommen?“
„Meinen sie die Ärzte?“
„Das waren keine Ärzte, nicht wahr?“
„Doch das waren Ärzte, sehr gute sogar.“
„Sie hatten aber keine weißen Kittel. Ärzte haben doch weiße Kittel, Schwester?“
„Ja das haben sie. Nehmen sie bitte ihre Tabletten.“
„Keine Tabletten bitte.“ Norma sah die Schwester flehend an. „Keine Tabletten.“
„Doch, das muss sein!“
„Dann will ich aber das Telefon!“
„Ja, bekommen sie.“
Die Schwester legte Norma den Hörer in die Hand. Das war eine ihrer Eigenarten. Sie durfte erst einschlafen, wenn sie den Hörer in der Hand hatte. Anrufen tat sie nie.
Kurze Zeit später war Norma weg. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Atem ging ruhig. Den Telefonhörer hielt sie aber eisern fest, als wäre es eine Rettung. Die Schwester schüttelte den Kopf. Was mochte bloß in dieser Frau vorgehen? Was hatte sie wohl erlebt, die kleine, zerbrechliche Norma?
Als die Schwester in den Pausenraum kam, lief der Fernseher, ihr einziger Zeitvertreib während der langen Nachtstunden.
„... starb im Alter von sechsunddreißig Jahren. Die Umstände ihres mysteriösen Todes sind bis heute nicht geklärt. Gerüchte um eine Verschwörung halten sich hartnäckig. Morgen, am 1. Juni, wäre sie sechsundsiebzig geworden. Anlässlich...“
Die Schwester schaltete den Fernseher ab. Sie wollte über nichts nachdenken müssen. Dann summte sie gedankenverloren „diamonds are a girls best friend“

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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