Ganz schön bissig ...
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Mai 2003
Ein letzter Sonnenstrahl
von Ingeborg Restat


‚Zuerst sterben die Träume, wenn man begreifen muss, dass man nicht mehr nur älter, sondern nun alt wird. Man spürt, wie die Kräfte nachlassen, die Vergesslichkeit zunimmt. Dann beginnt man die Jahre zu zählen, die einem vielleicht noch bleiben, sieht die Zukunft zusammenschrumpfen. Was hat man jetzt noch zu erwarten, worauf soll man sich freuen? Man mag nicht mehr vorwärts blicken, denn der Tod braucht seine Ursache und nicht jedem ist es vergönnt, aus dem vollen Leben über Nacht im Bett einzuschlafen. Aber wenn es einem immer gut ginge, wer wollte dann schon sterben?’, so sinnierte Wilma Bergstein. Sie saß am Tisch in ihrer gemütlichen Wohnung und hielt den Brief mit der Todesanzeige von Marlies, einer Freundin aus jungen Jahren, in den Händen. Wann waren deren letzte Träume gestorben? Wilma wusste, das Alter hatte längst seine Spuren bei ihr hinterlassen, da hatte sie noch immer Anerkennung in der Öffentlichkeit für ihre Bilder erwartet. Wann hatte sie die Hoffnung darauf verloren? Lange bevor ihre Erkrankung sie zwang in ein Pflegeheim zu gehen? Wie sehr hatte sie unter dieser Krankheit leiden müssen, ehe sie nun sterben durfte. Für sie war es gut so, dass es nun zu Ende war, aber für Wilma war wieder ein Mensch mehr verschwunden, der zu ihrem Leben gehörte. Es wurden immer weniger. Nachdem sie ihren Mann verloren hatte, tat nun der Verlust jedes Einzelnen, auch des entferntesten Verwandten oder Nachbarn weh. Auch das ist der Preis dafür, wenn man sehr alt wird, dann bleibt man am Ende übrig und ist allein.
Ihr achtzigster Geburtstag war nicht mehr fern. Aber, verdammt, sie fühlte sich nicht so. Sie ging noch aufrecht, nicht gebeugt, war an allem interessiert, dachte nicht an ein Altersheim, sondern wohnte noch immer da, wo sie lange Jahre mit ihrem Mann verbracht hatte. Es berührte sie eigenartig, wenn Menschen zu ihr sagten: „Sie sind aber noch rüstig“ oder verwundert: „... und Sie fahren immer noch Auto?“ ‚Warum machen sie mich so alt, wenn ich mich doch so nicht fühle?’, fragte sie sich. Am liebsten hätte sie zu ihnen gesagt: „Schaut nicht auf meine Falten und meine weißen Haare, schaut mir in die Augen und hört auf meine Worte. Ich stecke nur hier drin, in diesem Körper, der nicht mehr so mitmacht, wie ich möchte. Der wird alt, nicht ich! Ich bin so, wie ich immer war. Alt werden ist nicht nur eine Frage der Jahre.“
Es bedrückte sie, dass sie nicht mehr so planen konnte wie früher, dass sie sich nicht mehr eine neue Katze nehmen konnte, denn ihre Jahre würden ja nicht mehr für ein Katzenleben reichen. Was sollte dann aus dem Tier werden? Darum war der Verlust ihrer Minka vor kurzem auch so besonders schmerzhaft für sie gewesen.
Still, sehr still war es um sie geworden. Sie legte die Todesanzeige aus der Hand und ging ans Fenster. Dicke Wolken verhängten den Himmel, es war trübe ohne Regen. Oft stand sie hier und sah hinaus zu den vorbeieilenden Menschen, in das pulsierende Leben da draußen. Für ihre Katze Minka war sie noch wichtig gewesen, aber für wen jetzt? Nicht für die da draußen, auch sonst für niemand und nichts. Sie war nicht mehr gefragt, wie auch die Bilder von Marlies nicht mehr gefragt waren. Jugend zählt, sonst nichts!
Da wurde ihr Blick von einer jungen Frau angezogen, die oft vorüberging. An ihrer Hand sprang fröhlich ein kleines Mädchen die Straße entlang. Es war ein lebhaftes Kind, das viel lachte. Wilma freute sich jedes Mal, wenn sie die beiden sah. Schön wäre es, wenn sie jetzt so eine Tochter und Enkeltochter hätte, überlegte sie. Aber dann: ‚Ach nein, das wären ja bestimmt schon Enkeltochter und Urenkelin. Man zählt die Jahre und begreift es doch nicht. Man muss es nehmen, wie es ist, und immer das Beste daraus machen.’
Zeit hatte sie jetzt, viel Zeit. Es zog sie hinaus. Sie nahm den Beutel mit dem alten Brot, das sich angesammelt hatte, und lief zu einem See in einem kleinen Wald am Ende der Straße, um die Enten zu füttern. Entweder sie kam hierher oder sie ging auf den Friedhof zu dem Grab ihres Mannes. Das waren ihre Wege. Wohin sollte sie sonst gehen? Allein ziellos herumrennen?
Laut quakend kamen die Enten zum Ufer geschwommen; sie kannten sie schon. Auch sie wusste inzwischen, welches eine zurückhaltende Ente oder welches der ewig zänkischen Erpel war. Gedankenverloren stand sie am Ufer und streute Brocken um Brocken ins Wasser, immer darauf bedacht, dass auch jede Ente etwas abbekam. Ja, sie schimpfte oder sprach mit ihnen sogar – na und? Es machte ihr Freude, darauf kam es an.
Das war schon ein lautes Plantschen, Geschnatter und Gequake der sich um das Futter streitenden Enten. Aber war da nicht noch etwas anderes zu hören? Wilma lauschte. Weinte ein Kind? Nein, sie musste sich irren. Leise rauschte nur der Wind in den Bäumen des kleinen Waldes. Sie warf weiter eine Hand voll Brocken ins Wasser und schaute zu, wie es den Enten schmeckte. Doch plötzlich - was war das? – eine kleine Hand schob sich zaghaft in ihre Hand. Sie sah hinunter auf einen blonden Schopf und darunter blickte aus hellen, verweinten Augen ein kleines Mädchen zu ihr hoch. Es war das Kind der jungen Frau, sie erkannte es sofort. Es schluchzte noch einmal auf und sagte: „Ich will zu meiner Mami. Bringst du mich?“
„Ja, aber ... wie kommst du hierher?“
„Ich wollte zu Mami, wo sie arbeitet.“
„Du hast dich verlaufen?“
„Weiß nicht.“
„Wie heißt du?“
„Maxi“
„Und weiter?“
„Weiß nicht.“
„Was mach ich jetzt mit dir? Komm, ich wisch dir erst mal die Tränen ab.“ Leben kam in Wilma, das Kind brauchte ihre Hilfe. Sie zog ein Taschentuch heraus, beugte sich hinunter, wischte der Kleinen über das Gesicht und ließ sie kräftig hineinschneuzen.
Vertrauensvoll hielt die Kleine still.
Wilma kramte in ihren Taschen. „Willst du einen Bonbon?“
Die Kleine nickte.
Hoffentlich hatte sie heute einen mit. Ja, sie fand einen. Sie wickelte ihn aus und gab ihn ihr.
Da glitt ein erstes Lächeln über das Gesicht des Kindes. Wilma spürte, sie fühlte sich bei ihr geborgen. Das machte sie glücklich. Schnell leerte sie den Beutel, warf den Enten die letzten Brocken hin, nahm das Kind an die Hand und ging mit ihm zurück. „Ich weiß, dass du bei mir in der Nähe wohnst. Vielleicht findest du von mir aus nach Hause“, sagte sie.

Aber das Kind war wohl doch noch zu klein dazu. Was nun? Zur Polizei? Nein, das machte dem Kind vielleicht nur Angst. Irgendwo hier in der Nähe musste die Kleine doch mit ihrer Mutter wohnen. Geschäfte, natürlich, vielleicht war sie im Supermarkt bekannt, aber nein, besser beim Bäcker oder Fleischer.
Ohne Scheu und ohne Zögern ging Maxi mit ihr. Ja, und die Bäckersfrau wusste Bescheid, es war gar nicht weit von Wilma entfernt, nur die Straße um die Ecke herum. Fröhlich sprang Maxi auf das Haus zu, aber die Mutter war von der Arbeit noch nicht zurück. Was nun?
Wilma ging noch einmal zur Bäckersfrau, erbat sich Papier, Schreibstift und Klebeband, schrieb eine Nachricht für die Mutter, wo sie ihre Tochter finden konnte, und klebte das dann an die Wohnungstür. Sie hatte für Maxi noch eine Zuckerschnecke gekauft, besorgte noch Bananen und nahm sie mit zu sich nach Hause.
Nicht eine Sekunde zögerte Maxi mitzugehen. Es war, als hätte man sie nie vor Fremden gewarnt, als würden sie sich schon immer kennen. Neugierig lief sie durch die Räume, freute sich über das Bild von Minka, wollte alles von ihr wissen. Sie lachte über die Streiche der Katze.
Lachen – wie lange hatte es das in dieser Wohnung nicht mehr gegeben. Auch Wilma lachte. Und geschäftig lief sie umher, bereitete für Maxi einen Milch-Kakao, sah ihr zu, wie es ihr schmeckte, kniete sich mühsam nieder und holte ganz hinten aus einem Schrank die Kiste hervor, die sie früher immer für kleine Gäste bereit gehalten hatte. Maxi jauchzte, als sie hineinsah. Für sie war es eine Schatztruhe. Ob es der kleine Bär war, die alte Puppe mit vergilbten Kleidern, eine winzige Eisenbahn, alte Perlen, Spielkarten oder der Frosch, der springen konnte, wenn man ihm auf den Rücken drückte, alles fand ihre Begeisterung. Wilma vergaß ganz die Zeit dabei.
Sie schrak zusammen, als es klingelte. Die junge Frau stand vor der Tür. Sie kam nicht dazu, etwas zu sagen, Maxi rannte gleich auf sie zu. „Mami, Mami, was es hier alles gibt. Sieh mal!“ Und schon zog sie ihre Mutter ins Zimmer.
Doch die Mutter wollte erst wissen: „Maxina, warum bist du weggelaufen? Britta sollte doch bei dir sein, bis ich nach Hause komme.“
„Aber sie wollte was holen und ist nicht wiedergekommen.“
„Sie ist wiedergekommen. Hat sich Sorgen gemacht und dich überall gesucht. Warum konntest du nicht warten?“
„Wenn es doch so lange gedauert hat“, antwortete Maxi und forderte ungeduldig. „Mami, nu’ sieh doch mal, was hier alles ist!“ Und die Mutter musste alles einzeln bewundern.
Erst als Maxi sich mühte alte Perlen auf eine Schnur zu ziehen und ganz vertieft darin war, konnte Wilma mit der jungen Frau sprechen. Sie erfuhr, dass Britta ein Mädchen aus der Nachbarschaft war, was nur auf Maxi aufpassen sollte, weil die Freundin, die sich bisher immer um Maxi gekümmert hatte, mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus lag. „Wenn ich nur schon einen Kindergartenplatz für Maxi hätte. Jetzt weiß ich gar nicht, was ich machen soll, wenn auf dieses Mädchen kein Verlass ist. Ich muss doch arbeiten gehen, wir leben allein. Bin ja froh, diese Stelle zu haben. Ist ja immer nur ein paar Stunden am Vormittag oder Nachmittag“, klagte die junge Frau.
Unruhe erfasste Wilma. Ihre Gedanken überstürzten sich. Sollte sie? Aber war sie nicht zu alt für die Verantwortung? „Ich habe Zeit, würde Ihnen gerne helfen, wenn ... ja, wenn ich Ihnen nicht zu alt bin“, bot sie vorsichtig an.
Die junge Frau lachte. „Zu alt? Omis sind nun einmal nicht jung, aber zu allen Zeiten haben sie noch immer auf ihre Enkel aufpassen können. Wollen Sie das wirklich tun? Ich wäre Ihnen sehr dankbar.“
Da gab es keine Frage mehr. Glücklich ging Maxi mit ihrer Mutter mit, stolz trug sie eine Kette aus alten Perlen um den Hals. „Und morgen mache ich noch eine für dich“, versprach sie.
Wilma stand am Fenster und sah ihnen nach. Maxi drehte sich immer wieder um und winkte ihr zu, so lange, bis sie um die Ecke der Straße verschwanden.
Sie räumte alles wieder in die Kiste zurück, stellte diese aber nicht mehr weg, sie wurde noch gebraucht. ‚Ich muss in einen Spielwarenladen gehen, schauen, was ich für Maxi noch zum Spielen kaufen kann, ein Malbuch vielleicht, dann kann ich morgen mit ihr malen’, dachte sie.
Morgen, sie freute sich auf morgen. Wie ein Sonnenstrahl war Maxi in ihr Leben gekommen und hatte ihm noch einmal einen Sinn gegeben. Es war noch Zeit, vielleicht viel Zeit. Wer weiß das schon? Noch war nicht alles vorbei.

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