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Mai 2003
ZeitauswÀrts
von Sabine Imhof


Heute hat er mich nach meiner Meinung gefragt.
“Jetzt sag mal du, welcher Grabstein gefĂ€llt dir am besten?”
“Ist der fĂŒr Ihre Frau?”
“Ja, der ist fĂŒr Röslein.”
Auf dem langen Tisch, den die Enkelkinder den Rittersaaltisch nennen, sind sechs verschiedene Miniatur-Grabsteine aufgestellt, in Reih und Glied. EntwĂŒrfe.
Ich ĂŒberlege.
“Mir persönlich gefĂ€llt dieser hier”, sage ich und zeige auf den Grabstein rechts aussen. “Der ist originell, anders als die anderen.”
“Ich finde den hier fast schöner”, sagt er, nimmt beinahe zĂ€rtlich den Stein daneben in die Hand. “Wegen den zwei Kreisen, von der Symbolik her ist das doch schön, denn wenn mir was passiert, lange wird es ja nicht mehr dauern, dann wĂ€ren wir dort wieder zusammen." Er nimmt sein Taschentuch hervor, betrachtet es und denkt einen Gedanken, steckt das Taschentuch unbenutzt wieder in die Hose.
"Es wird ja nicht mehr lange dauern."
“Ja, der ist auch schön”, sage ich unter einem RĂ€uspern, gehe in die KĂŒche, wasche einen Teller, eine Tasse, Messer und Gabel. Die Kerne eines Apfels schwimmen im SpĂŒlwasser.

Manchmal vergisst er, wer ich bin. Manchmal denkt er, wir sind verwandt.
Denkt, ich sei die Schwester seiner Schwiegertochter. Dann erklÀre ich ihm, dass wir nicht verwandt sind und weshalb ich hier bin.
“Ich bin doch hier, um Ihnen mit dem Haushalt zu helfen, schau, ob Sie was brauchen.”
Dann erinnert er sich wieder an mich.
Und schĂŒttelt den Kopf, weil er es eigentlich nie vergessen hat.

Ich kenne das Muster seiner Tage. Er steht frĂŒh auf, isst einen Apfel, eine Banane und Brot mit Marroniaufstrich. Vom Marroniaufstrich mĂŒssen immer mindestens drei GlĂ€ser in der Vorratskammer sein und eines im KĂŒhlschrank. Manchmal deckt er auch fĂŒr mich den Tisch und ich rĂ€ume spĂ€ter den unbenutzten Teller wieder ab.
“Ja, isst du denn nicht?”
“Ich esse doch immer unten in meiner Wohnung.”
“Ach ja, stimmt.”
Aber am nĂ€chsten Morgen tischt er wieder fĂŒr mich auf, sorgfĂ€ltig, links von ihm. Und isst allein.

Nach dem FrĂŒhstĂŒck komme ich hoch, geduscht oder noch nicht, er will wissen, ob ich gut geschlafen habe und ich frage ihn dasselbe, wĂ€hrend ich ihm in die Schuhe helfe, seinen Gehstock suche. Wir gehen spazieren. Manchmal schickt er mich nochmals in die Wohnung zurĂŒck, um nachzuschauen, ob die Kaffeemaschine ausgemacht ist, die HaustĂŒre auch wirklich geschlossen. Ist sie, hab ich selbst abgeschlossen, aber ich gehe trotzdem zurĂŒck, versichere mich. Und spĂ€ter ihn.
“Prima”, sagt er dann. Oder “Prima, sagte Lina”, wenn er gut aufgelegt ist, ist er meistens, und ich lache. Eine Sekunde vor ihm.

Auf dem Spaziergang schaut er nach aussen. Ich nach innen. Er zeigt mit dem Stock auf Steine.
“Ein schöner Stein, nicht wahr?”
“Hmmm, ein schöner Stein.”
Und er fragt mich nach den Namen verschiedener Blumen. Rote, weisse, fĂŒr mich sehen sie alle gleich aus. Es ist FrĂŒhling, bemerke ich hin und wieder. Ich muss passen. Wenn ich von etwas keine Ahnung habe, dann von Botanik. Ich kenne auch keine Namen von Bergen. Aber nach den Bergen fragt er mich nicht. Er fragt nach meinen Gedichten, will wissen, ob ich fleissig bin, vorankomme. Ich sage immer Ja. Auch wenn ich seit Tagen nichts geschrieben habe.

Meistens spazieren wir lange ohne ein Wort. Oder ich summe. Irgendwelche Lieder. Manchmal singe ich leise, aber pfeifen tu ich nie. Und ich frage mich dann, was er wohl denkt, jetzt gerade. Ob er an sie denkt, so wie ich an ihn denke. Ob er oft ans Sterben denkt, auf eine ganz andere Art wie ich. Ob er wirklich wissen will, wie diese Blume heisst. Manchmal sind wir so lange still, dass wir gar nicht bemerken, wenn wir wieder zuhause angekommen sind.

Zuhause warten Staubpartikel, die gesaugt werden wollen, bevor sie sichtbar werden. Oder WĂ€sche steht an. Ich bĂŒgle runde und viereckige TischtĂŒcher und bemerke, ich tu das gern. Er sitzt am Schreibtisch neben mir und lernt Italienisch mit Hilfe eines Buches. Lektion Drei. Schon lange Lektion Drei.
“Das geht nicht mehr so schnell, mit dem Lernen.”
Lacht er, lache ich.
WÀhrend er sich fremde Wörter einprÀgt, schaut er aus dem Fenster. Seine Lippen bewegen sich, tonlos.
Der Dampf aus dem BĂŒgeleisen ist laut, irgendwie.
Ich weiss noch nicht genau, wo die Dinge ihren Platz haben. Ich öffne SchrĂ€nke; Röschen hat kleine Vierecke aus Pappkarton mit wasserfestem Stift beschriftet. ‘Lange Unterhosen’. ‘Kurze Unterhemden’. Ihre Schrift, zĂ€rtlich, so wĂŒrde ich sie nennen, spontan.
Manchmal öffne ich den falschen Kleiderschrank und ich erschrecke ein bisschen, denn ihre Kleider hĂ€ngen darin, stumm, warten auf einen Sinn. Wenn ich sie anfasse, fĂŒhlen sie sich seltsam an. Ich schliesse den Schrank leise, leiser als alle anderen SchrĂ€nke im Haus.

Die Nachmittage verbringen wir meist in getrennten Stockwerken. Ich schreibe oder tu so als ob. Manchmal höre ich seine Schritte ĂŒber mir, langsam, schwer unter seinem Fliegengewicht. Gleich höre ich Stimmen aus dem Radio, immer zur vollen Stunde, er will wissen, was auf der Welt geschieht.

Auch Abends. Er in seinem Sessel, ich ein Kissen umarmend auf dem Sofa. Tagesschau. Habe ich frĂŒher nie geschaut, die Welt hat mich nie wirklich interessiert. Aber ich höre zu, gucke hin, weil wir danach darĂŒber reden. Ueber den Krieg, ĂŒber Katastrophen und schĂŒtteln unsere Köpfe im Kanon. Bis wir im Dunkeln sitzen und keiner es fĂŒr nötig hĂ€lt, das Licht anzumachen. Wir werfen SĂ€tze in die Luft, alle fĂŒnf Minuten, ohne einander zu sehen.
“So”, sagt er dann irgendwann.
“So”, sage ich.
Und wir sitzen noch eine Weile.
“So”, sagt er, gĂ€hnt.
“So”, sage ich, richte mich auf, strecke mich, stehe beilĂ€ufig auf und gehe ihm voraus ins Bad, fĂŒlle seine Bettflasche, sie ist rot, meine weiss. Ohne Bettflasche geht gar nichts, da sind wir uns einig und lachen verbĂŒndet, als hĂ€tten wir das tiefste Geheimnis der Welt aufgedeckt.
“Hilfst du mir noch, bitte.”
Ich ziehe ihm den Pullover ĂŒber den Kopf, die Hose rutscht beinahe von selbst von den mageren Beinen, fĂ€llt lautlos auf den Boden. WĂ€hrend ich ihm ins Pyjama helfe, komme ich mir sonderbar alt vor.
“Prima”, sagt er, bereit fĂŒr die Nacht. Um zwanzig Uhr dreissig.
“Na dann, bis morgen”, sage ich, gehe auf Zehenspitzen durch die Wohnung. Kaffeemaschine abgeschaltet? Ja. Mache das Licht aus, schliesse von aussen ab. Und finde den Gedanken wieder, den ich vorhin verloren habe, im Bad, als er sich an mir festhielt, wĂ€hrend ich ihm die StrĂŒmpfe auszog. Irgendwas mit; vielleicht bin ich der letzte Mensch, den er gesehen hat.

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