Heute hat er mich nach meiner Meinung gefragt.
“Jetzt sag mal du, welcher Grabstein gefällt dir am besten?”
“Ist der für Ihre Frau?”
“Ja, der ist für Röslein.”
Auf dem langen Tisch, den die Enkelkinder den Rittersaaltisch nennen, sind sechs verschiedene Miniatur-Grabsteine aufgestellt, in Reih und Glied. Entwürfe.
Ich überlege.
“Mir persönlich gefällt dieser hier”, sage ich und zeige auf den Grabstein rechts aussen. “Der ist originell, anders als die anderen.”
“Ich finde den hier fast schöner”, sagt er, nimmt beinahe zärtlich den Stein daneben in die Hand. “Wegen den zwei Kreisen, von der Symbolik her ist das doch schön, denn wenn mir was passiert, lange wird es ja nicht mehr dauern, dann wären wir dort wieder zusammen." Er nimmt sein Taschentuch hervor, betrachtet es und denkt einen Gedanken, steckt das Taschentuch unbenutzt wieder in die Hose.
"Es wird ja nicht mehr lange dauern."
“Ja, der ist auch schön”, sage ich unter einem Räuspern, gehe in die Küche, wasche einen Teller, eine Tasse, Messer und Gabel. Die Kerne eines Apfels schwimmen im Spülwasser.
Manchmal vergisst er, wer ich bin. Manchmal denkt er, wir sind verwandt.
Denkt, ich sei die Schwester seiner Schwiegertochter. Dann erkläre ich ihm, dass wir nicht verwandt sind und weshalb ich hier bin.
“Ich bin doch hier, um Ihnen mit dem Haushalt zu helfen, schau, ob Sie was brauchen.”
Dann erinnert er sich wieder an mich.
Und schüttelt den Kopf, weil er es eigentlich nie vergessen hat.
Ich kenne das Muster seiner Tage. Er steht früh auf, isst einen Apfel, eine Banane und Brot mit Marroniaufstrich. Vom Marroniaufstrich müssen immer mindestens drei Gläser in der Vorratskammer sein und eines im Kühlschrank. Manchmal deckt er auch für mich den Tisch und ich räume später den unbenutzten Teller wieder ab.
“Ja, isst du denn nicht?”
“Ich esse doch immer unten in meiner Wohnung.”
“Ach ja, stimmt.”
Aber am nächsten Morgen tischt er wieder für mich auf, sorgfältig, links von ihm. Und isst allein.
Nach dem Frühstück komme ich hoch, geduscht oder noch nicht, er will wissen, ob ich gut geschlafen habe und ich frage ihn dasselbe, während ich ihm in die Schuhe helfe, seinen Gehstock suche. Wir gehen spazieren. Manchmal schickt er mich nochmals in die Wohnung zurück, um nachzuschauen, ob die Kaffeemaschine ausgemacht ist, die Haustüre auch wirklich geschlossen. Ist sie, hab ich selbst abgeschlossen, aber ich gehe trotzdem zurück, versichere mich. Und später ihn.
“Prima”, sagt er dann. Oder “Prima, sagte Lina”, wenn er gut aufgelegt ist, ist er meistens, und ich lache. Eine Sekunde vor ihm.
Auf dem Spaziergang schaut er nach aussen. Ich nach innen. Er zeigt mit dem Stock auf Steine.
“Ein schöner Stein, nicht wahr?”
“Hmmm, ein schöner Stein.”
Und er fragt mich nach den Namen verschiedener Blumen. Rote, weisse, für mich sehen sie alle gleich aus. Es ist Frühling, bemerke ich hin und wieder. Ich muss passen. Wenn ich von etwas keine Ahnung habe, dann von Botanik. Ich kenne auch keine Namen von Bergen. Aber nach den Bergen fragt er mich nicht. Er fragt nach meinen Gedichten, will wissen, ob ich fleissig bin, vorankomme. Ich sage immer Ja. Auch wenn ich seit Tagen nichts geschrieben habe.
Meistens spazieren wir lange ohne ein Wort. Oder ich summe. Irgendwelche Lieder. Manchmal singe ich leise, aber pfeifen tu ich nie. Und ich frage mich dann, was er wohl denkt, jetzt gerade. Ob er an sie denkt, so wie ich an ihn denke. Ob er oft ans Sterben denkt, auf eine ganz andere Art wie ich. Ob er wirklich wissen will, wie diese Blume heisst. Manchmal sind wir so lange still, dass wir gar nicht bemerken, wenn wir wieder zuhause angekommen sind.
Zuhause warten Staubpartikel, die gesaugt werden wollen, bevor sie sichtbar werden. Oder Wäsche steht an. Ich bügle runde und viereckige Tischtücher und bemerke, ich tu das gern. Er sitzt am Schreibtisch neben mir und lernt Italienisch mit Hilfe eines Buches. Lektion Drei. Schon lange Lektion Drei.
“Das geht nicht mehr so schnell, mit dem Lernen.”
Lacht er, lache ich.
Während er sich fremde Wörter einprägt, schaut er aus dem Fenster. Seine Lippen bewegen sich, tonlos.
Der Dampf aus dem Bügeleisen ist laut, irgendwie.
Ich weiss noch nicht genau, wo die Dinge ihren Platz haben. Ich öffne Schränke; Röschen hat kleine Vierecke aus Pappkarton mit wasserfestem Stift beschriftet. ‘Lange Unterhosen’. ‘Kurze Unterhemden’. Ihre Schrift, zärtlich, so würde ich sie nennen, spontan.
Manchmal öffne ich den falschen Kleiderschrank und ich erschrecke ein bisschen, denn ihre Kleider hängen darin, stumm, warten auf einen Sinn. Wenn ich sie anfasse, fühlen sie sich seltsam an. Ich schliesse den Schrank leise, leiser als alle anderen Schränke im Haus.
Die Nachmittage verbringen wir meist in getrennten Stockwerken. Ich schreibe oder tu so als ob. Manchmal höre ich seine Schritte über mir, langsam, schwer unter seinem Fliegengewicht. Gleich höre ich Stimmen aus dem Radio, immer zur vollen Stunde, er will wissen, was auf der Welt geschieht.
Auch Abends. Er in seinem Sessel, ich ein Kissen umarmend auf dem Sofa. Tagesschau. Habe ich früher nie geschaut, die Welt hat mich nie wirklich interessiert. Aber ich höre zu, gucke hin, weil wir danach darüber reden. Ueber den Krieg, über Katastrophen und schütteln unsere Köpfe im Kanon. Bis wir im Dunkeln sitzen und keiner es für nötig hält, das Licht anzumachen. Wir werfen Sätze in die Luft, alle fünf Minuten, ohne einander zu sehen.
“So”, sagt er dann irgendwann.
“So”, sage ich.
Und wir sitzen noch eine Weile.
“So”, sagt er, gähnt.
“So”, sage ich, richte mich auf, strecke mich, stehe beiläufig auf und gehe ihm voraus ins Bad, fülle seine Bettflasche, sie ist rot, meine weiss. Ohne Bettflasche geht gar nichts, da sind wir uns einig und lachen verbündet, als hätten wir das tiefste Geheimnis der Welt aufgedeckt.
“Hilfst du mir noch, bitte.”
Ich ziehe ihm den Pullover über den Kopf, die Hose rutscht beinahe von selbst von den mageren Beinen, fällt lautlos auf den Boden. Während ich ihm ins Pyjama helfe, komme ich mir sonderbar alt vor.
“Prima”, sagt er, bereit für die Nacht. Um zwanzig Uhr dreissig.
“Na dann, bis morgen”, sage ich, gehe auf Zehenspitzen durch die Wohnung. Kaffeemaschine abgeschaltet? Ja. Mache das Licht aus, schliesse von aussen ab. Und finde den Gedanken wieder, den ich vorhin verloren habe, im Bad, als er sich an mir festhielt, während ich ihm die Strümpfe auszog. Irgendwas mit; vielleicht bin ich der letzte Mensch, den er gesehen hat.
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