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Mai 2003
Bis dass der Tod euch scheidet
von Ingrid Fohlmeister


Mutter ist das, was man ‘erzkatholisch’ nennt. Vater ging zwar, außer zu seiner Trauung und unserer Taufe, nie in die Kirche, hĂŒtete sich aber, ein abfĂ€lliges Wort ĂŒber Mutters Religion zu Ă€ußern. Wir Kinder bekamen von klein auf ihre Buchstabentreue zu den Überlieferungen und Vorschriften der ‘heiligen’ römisch-katholischen Kirche bitter zu spĂŒren. Trotzdem hĂ€tte niemand von uns fĂŒr möglich gehalten, dass sie einmal so weit gehen könnte.
Die ReligiositĂ€t unserer Mutter hatte uns vier Kinder schon frĂŒh in alle Winde versprengt. Insgeheim hatte jeder getrachtet, so frĂŒh wie möglich, und so weit er konnte, fort zu kommen. Meinen Bruder Guntram hatte es sogar bis nach Australien verschlagen. Wir sahen unsere Eltern nur noch bei grĂ¶ĂŸeren FamilienanlĂ€ssen, ihrer goldenen Hochzeit etwa, oder zu ‘runden’ Geburtstagen. Daran konnte auch die Tatsache nichts Ă€ndern, dass Vater an ‘Alzheimer’ erkrankt war. Um so erstaunter waren wir gewesen, als Mutter den Wunsch Ă€ußerte, mit der ganzen Familie Vaters dreiundachtzigsten Geburtstag zu feiern.
“Dann kann euer Vater euch alle noch einmal sehen!”, hatte Mutter am Telefon zu meiner Schwester Gerlinde gesagt. Bei Gerlinde begann eine Alarmglocke zu schrillen.
“Geht es ihm schlecht?”, fragte sie sofort.
“Nein, nein”, versicherte Mutter eilends. “Aber bei ‘Alzheimer’ weiß man ja nie...” Den Rest hatte sie unausgesprochen gelassen, und Gerlinde hatte angenommen, sie spiele darauf an, dass Vater auf der goldenen Hochzeit im letzten Jahr Schwierigkeiten gehabt hatte, uns wiederzuerkennen und unsere Namen zu erinnern.

Das ging mir jetzt wieder durch den Kopf, wĂ€hrend ich mit meinem Bruder Gernot telefonierte. Gerlinde hatte es mir arglos erzĂ€hlt, als wir die Einzelheiten fĂŒr Vaters Geburtstagsfeier besprachen. Sollte Mutter es damals schon geplant haben? Sofort fiel mir auch wieder ihre Reaktion auf der Geburtstagsfeier ein, als ich sie eindringlich bat, sich doch einmal einen Urlaub zu gönnen von dem zunehmend schwierigeren Umgang mit unserem Vater. Ganz in ihrer NĂ€he gab es ein Heim fĂŒr betreutes Wohnen mit der Möglichkeit, KurzzeitgĂ€ste unterzubringen. Ich hatte angeboten, mich um einen Platz fĂŒr Vater zu kĂŒmmern.
“Kommt nicht in Frage”, schnitt sie mir das Wort ab.
“Aber es wĂ€re doch nur vorĂŒbergehend, fĂŒr drei, vier Wochen!”, beharrte ich.
“Euer Vater kommt in kein Heim! Iiich weiß, was ich bei unserer Trauung vor dem Angesicht des Herrn gelobt habe!”
“Ja, ja, Mutter, ‘...in guten wie in schlechten Tagen, bis dass der Tod euch scheidet’, schon gut, schon gut.” Ich war stocksauer und bereute es, gekommen zu sein. Musste sie mir schon wieder meine Scheidung ‘aufs Butterbrot schmieren’, hatte ich noch gedacht.
“Sie ist wild entschlossen, sich operieren zu lassen!”, fuhr Gernot am Telefon fort und holte mich wieder in die Gegenwart zurĂŒck.
“Aber die Ärzte..., und Gerlinde, und deine Frau...”, stotterte ich hilflos. “Was sagen die denn dazu?” Gerlinde und Gernots Frau waren Ärztinnen und bei allen medizinischen Fragen die anerkannten FamilienautoritĂ€ten.
“Das ist es ja”, jammerte er. “Alle raten ab!”
“Das klingt ja nach Vabanquespiel mit Einsatz ihres Lebens!”, rief ich aus.
“Ist es auch! Die Ärzte fĂŒrchten, daß es zum Hirnschlag kommt, wenn sie die Herz-Lungen-Maschine anschließen. Außerdem hat Mutter keine brauchbare Vene, mit der sie die enge Stelle in der Herzkranzarterie ĂŒberbrĂŒcken könnten. Sie mĂŒĂŸten also eine andere Operationsmethode anwenden - frag mich nicht nach Einzelheiten - auf jeden Fall ist die sehr viel komplizierter. Wer weiß, ob Mutter das ĂŒberhaupt noch ĂŒbersteht, in ihrem Alter!”
Nach dem GesprĂ€ch mit Gernot war ich aufgewĂŒhlt. Mehr als alles quĂ€lte mich der Gedanke, was aus Vater werden sollte, wenn... Ich rief Gerlinde an.
“Mutter braucht gar keine Operation!”, sagte sie sofort. “Die Herzbeschwerden sind minimal. Damit lebt sie schon seit zwanzig Jahren. Mit einer medikamentösen Therapie wĂ€re ihr problemlos zu helfen. Eventuell könnte man auch noch die Herzkranzarterien mit einem Ballonkatheter von innen aufdehnen, ohne Operation. Der Katheter wird durch die Armarterie bis ins Herz vorgeschoben und anschließend wieder entfernt. So kann Mutter glatt noch weitere zwanzig Jahre leben. Wer weiß, in was sie sich da verrannt hat...”, meinte sie gedankenvoll.
“Ja, hast du ihr das denn nicht gesagt?”, schrie ich ins Telefon.
“Doch, aber sie glaubt mir nicht, du weißt ja, warum!” Gerlinde lebt allein mit ihrer ungetauften, unehelichen Tochter. In Mutters Augen hat sie damit zweifach gegen Gottes Ordnung verstoßen und jegliche GlaubwĂŒrdigkeit verloren.
“Wir mĂŒssen es jetzt Gernot ĂŒberlassen”, schloß Gerlinde. “Nur ihm kann es noch gelingen, sie umzustimmen.” Gernot ist als einziger von uns gut katholisch verheiratet. Außerdem war er als spĂ€ter Nachkömmling, der zu Mutters Stolz bereits im Alter von vier Jahren zur FrĂŒhkommunion zugelassen wurde, schon immer Mutters Liebling.

Einige Wochen lang hörte ich nichts und hoffte, Mutter habe es sich ĂŒberlegt. Trotzdem ließ mir die Sache keine Ruhe. Mutter ist zehn Jahre jĂŒnger als Vater und noch sehr unternehmungslustig. Durch Vaters Krankheit ist sie stĂ€ndig an ihn gefesselt, da er sich außerhalb der eigenen vier WĂ€nde nicht mehr orientieren kann. Das Reisen hatten sie aus diesem Grund vor einigen Jahren aufgeben mĂŒssen. Mutter musste sich vorkommen wie lebendig begraben. Dass sie sich aber auch gar nicht helfen lassen wollte... Immer diese Opferhaltung! Verdammte, menschenfeindliche Religion... Da klingelte eines Abends das Telefon. Gernot war am Apparat.
“Mutter ist im Krankenhaus”, sagte er. “Die ‘letzte Ölung’ hat sie schon empfangen. Morgen frĂŒh wird sie operiert...”
“Und Vater...”, fiel ich ihm ins Wort.
“Mutter hat ihn einweisen lassen...”
“Wieso einweisen...”
“In die Psychiatrie, per Gerichtsbeschluß. Sie hat uns ĂŒberrumpelt!”
“Kann ihn denn da keiner rausholen?”
“Hab’ ich schon versucht, ist aber nicht so einfach.”
Ich war verzweifelt. Am Wochenende wollte ich Vater besuchen. Gerlinde war ahnungslos in Urlaub gefahren. Keiner wusste genau, wohin. Gernot musste auf eine dringende Dienstreise ins Ausland, und Guntram lebte ja in Australien.
Das Wochenende war noch sechs Tage hin. Wie mochte es Vater ergehen unter lauter Irren? Man musste zwar viel Geduld haben, wenn man mit ihm sprach, und alles mehrfach wiederholen. Aber verrĂŒckt war er doch nicht! Sich anziehen und essen konnte er auch noch alleine. Körperlich war er sogar noch ganz schön fit... Nur, dass er oft nicht wußte, wo er war, und wen er vor sich hatte...

Samstagmittag stand ich endlich vor dem hohen Gitterzaun der Klinik. Ich ging die kahle, weiß getĂŒnchte Fassade entlang zum Eingang. Im Park schlurften ein paar einsame Gestalten in Anstaltskleidung umher. Vater war nicht darunter. Ich wurde in das Besuchszimmer des Chefarztes gebeten. WĂ€hrend ich einer lĂ€ngeren ErklĂ€rung lauschte, blickte ich aus dem vergitterten Fenster. Nervös wollte ich den Stuhl verrĂŒcken und musste feststellen, daß er am Fußboden festgeschraubt war.
“...ist er trotz aller nur erdenklichen Maßnahmen heute frĂŒh verstorben”, endete der Chefarzt und sah mich an.

Ich weiß nicht mehr, wie ich die lange Fahrt nach Hause ĂŒberstanden habe. Die zwei Tage, bis ich Gernot wieder erreichen konnte, lasteten wie ein Alptraum auf mir.
“Weiß Mutter es schon?” fragte er als erstes. “Nein, ich wusste ja nicht, ob sie..., ist sie denn schon...”
“Sie hat es ĂŒberstanden. Es geht ihr den UmstĂ€nden entsprechend gut. Sie ist schon in der Kurklinik.”
Noch am selben Abend trafen wir uns an der Klinik. Aus den offenen Fenstern drang Operetten-Musik. Zwischen den Blumenrabatten flanierten elegant gekleidete Damen und Herren. Mutter residierte in einem hĂŒbsch eingerichteten Doppelzimmer, im Kreise ihrer Freundinnen. Sie nahm alles ĂŒberraschend ruhig auf, zu ruhig fĂŒr mein GefĂŒhl.
“Und wie willst du das vor deinem Herrn verantworten?” WĂŒtend schĂŒttelte ich sie. Gernot riss mich zurĂŒck.
“Wieso ich?” Sie sah mich aus eisgrauen Augen an. “ER hat Hand an sich gelegt und damit Gott versucht. Betet fĂŒr seine Seele!”

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