Bis dass der Tod euch scheidet von Ingrid Fohlmeister
Mutter ist das, was man âerzkatholischâ nennt. Vater ging zwar, auĂer zu seiner Trauung und unserer Taufe, nie in die Kirche, hĂŒtete sich aber, ein abfĂ€lliges Wort ĂŒber Mutters Religion zu Ă€uĂern. Wir Kinder bekamen von klein auf ihre Buchstabentreue zu den Ăberlieferungen und Vorschriften der âheiligenâ römisch-katholischen Kirche bitter zu spĂŒren. Trotzdem hĂ€tte niemand von uns fĂŒr möglich gehalten, dass sie einmal so weit gehen könnte.
Die ReligiositĂ€t unserer Mutter hatte uns vier Kinder schon frĂŒh in alle Winde versprengt. Insgeheim hatte jeder getrachtet, so frĂŒh wie möglich, und so weit er konnte, fort zu kommen. Meinen Bruder Guntram hatte es sogar bis nach Australien verschlagen. Wir sahen unsere Eltern nur noch bei gröĂeren FamilienanlĂ€ssen, ihrer goldenen Hochzeit etwa, oder zu ârundenâ Geburtstagen. Daran konnte auch die Tatsache nichts Ă€ndern, dass Vater an âAlzheimerâ erkrankt war. Um so erstaunter waren wir gewesen, als Mutter den Wunsch Ă€uĂerte, mit der ganzen Familie Vaters dreiundachtzigsten Geburtstag zu feiern.
âDann kann euer Vater euch alle noch einmal sehen!â, hatte Mutter am Telefon zu meiner Schwester Gerlinde gesagt. Bei Gerlinde begann eine Alarmglocke zu schrillen.
âGeht es ihm schlecht?â, fragte sie sofort.
âNein, neinâ, versicherte Mutter eilends. âAber bei âAlzheimerâ weiĂ man ja nie...â Den Rest hatte sie unausgesprochen gelassen, und Gerlinde hatte angenommen, sie spiele darauf an, dass Vater auf der goldenen Hochzeit im letzten Jahr Schwierigkeiten gehabt hatte, uns wiederzuerkennen und unsere Namen zu erinnern.
Das ging mir jetzt wieder durch den Kopf, wĂ€hrend ich mit meinem Bruder Gernot telefonierte. Gerlinde hatte es mir arglos erzĂ€hlt, als wir die Einzelheiten fĂŒr Vaters Geburtstagsfeier besprachen. Sollte Mutter es damals schon geplant haben? Sofort fiel mir auch wieder ihre Reaktion auf der Geburtstagsfeier ein, als ich sie eindringlich bat, sich doch einmal einen Urlaub zu gönnen von dem zunehmend schwierigeren Umgang mit unserem Vater. Ganz in ihrer NĂ€he gab es ein Heim fĂŒr betreutes Wohnen mit der Möglichkeit, KurzzeitgĂ€ste unterzubringen. Ich hatte angeboten, mich um einen Platz fĂŒr Vater zu kĂŒmmern.
âKommt nicht in Frageâ, schnitt sie mir das Wort ab.
âAber es wĂ€re doch nur vorĂŒbergehend, fĂŒr drei, vier Wochen!â, beharrte ich.
âEuer Vater kommt in kein Heim! Iiich weiĂ, was ich bei unserer Trauung vor dem Angesicht des Herrn gelobt habe!â
âJa, ja, Mutter, â...in guten wie in schlechten Tagen, bis dass der Tod euch scheidetâ, schon gut, schon gut.â Ich war stocksauer und bereute es, gekommen zu sein. Musste sie mir schon wieder meine Scheidung âaufs Butterbrot schmierenâ, hatte ich noch gedacht.
âSie ist wild entschlossen, sich operieren zu lassen!â, fuhr Gernot am Telefon fort und holte mich wieder in die Gegenwart zurĂŒck.
âAber die Ărzte..., und Gerlinde, und deine Frau...â, stotterte ich hilflos. âWas sagen die denn dazu?â Gerlinde und Gernots Frau waren Ărztinnen und bei allen medizinischen Fragen die anerkannten FamilienautoritĂ€ten.
âDas ist es jaâ, jammerte er. âAlle raten ab!â
âDas klingt ja nach Vabanquespiel mit Einsatz ihres Lebens!â, rief ich aus.
âIst es auch! Die Ărzte fĂŒrchten, daĂ es zum Hirnschlag kommt, wenn sie die Herz-Lungen-Maschine anschlieĂen. AuĂerdem hat Mutter keine brauchbare Vene, mit der sie die enge Stelle in der Herzkranzarterie ĂŒberbrĂŒcken könnten. Sie mĂŒĂten also eine andere Operationsmethode anwenden - frag mich nicht nach Einzelheiten - auf jeden Fall ist die sehr viel komplizierter. Wer weiĂ, ob Mutter das ĂŒberhaupt noch ĂŒbersteht, in ihrem Alter!â
Nach dem GesprĂ€ch mit Gernot war ich aufgewĂŒhlt. Mehr als alles quĂ€lte mich der Gedanke, was aus Vater werden sollte, wenn... Ich rief Gerlinde an.
âMutter braucht gar keine Operation!â, sagte sie sofort. âDie Herzbeschwerden sind minimal. Damit lebt sie schon seit zwanzig Jahren. Mit einer medikamentösen Therapie wĂ€re ihr problemlos zu helfen. Eventuell könnte man auch noch die Herzkranzarterien mit einem Ballonkatheter von innen aufdehnen, ohne Operation. Der Katheter wird durch die Armarterie bis ins Herz vorgeschoben und anschlieĂend wieder entfernt. So kann Mutter glatt noch weitere zwanzig Jahre leben. Wer weiĂ, in was sie sich da verrannt hat...â, meinte sie gedankenvoll.
âJa, hast du ihr das denn nicht gesagt?â, schrie ich ins Telefon.
âDoch, aber sie glaubt mir nicht, du weiĂt ja, warum!â Gerlinde lebt allein mit ihrer ungetauften, unehelichen Tochter. In Mutters Augen hat sie damit zweifach gegen Gottes Ordnung verstoĂen und jegliche GlaubwĂŒrdigkeit verloren.
âWir mĂŒssen es jetzt Gernot ĂŒberlassenâ, schloĂ Gerlinde. âNur ihm kann es noch gelingen, sie umzustimmen.â Gernot ist als einziger von uns gut katholisch verheiratet. AuĂerdem war er als spĂ€ter Nachkömmling, der zu Mutters Stolz bereits im Alter von vier Jahren zur FrĂŒhkommunion zugelassen wurde, schon immer Mutters Liebling.
Einige Wochen lang hörte ich nichts und hoffte, Mutter habe es sich ĂŒberlegt. Trotzdem lieĂ mir die Sache keine Ruhe. Mutter ist zehn Jahre jĂŒnger als Vater und noch sehr unternehmungslustig. Durch Vaters Krankheit ist sie stĂ€ndig an ihn gefesselt, da er sich auĂerhalb der eigenen vier WĂ€nde nicht mehr orientieren kann. Das Reisen hatten sie aus diesem Grund vor einigen Jahren aufgeben mĂŒssen. Mutter musste sich vorkommen wie lebendig begraben. Dass sie sich aber auch gar nicht helfen lassen wollte... Immer diese Opferhaltung! Verdammte, menschenfeindliche Religion... Da klingelte eines Abends das Telefon. Gernot war am Apparat.
âMutter ist im Krankenhausâ, sagte er. âDie âletzte Ălungâ hat sie schon empfangen. Morgen frĂŒh wird sie operiert...â
âUnd Vater...â, fiel ich ihm ins Wort.
âMutter hat ihn einweisen lassen...â
âWieso einweisen...â
âIn die Psychiatrie, per GerichtsbeschluĂ. Sie hat uns ĂŒberrumpelt!â
âKann ihn denn da keiner rausholen?â
âHabâ ich schon versucht, ist aber nicht so einfach.â
Ich war verzweifelt. Am Wochenende wollte ich Vater besuchen. Gerlinde war ahnungslos in Urlaub gefahren. Keiner wusste genau, wohin. Gernot musste auf eine dringende Dienstreise ins Ausland, und Guntram lebte ja in Australien.
Das Wochenende war noch sechs Tage hin. Wie mochte es Vater ergehen unter lauter Irren? Man musste zwar viel Geduld haben, wenn man mit ihm sprach, und alles mehrfach wiederholen. Aber verrĂŒckt war er doch nicht! Sich anziehen und essen konnte er auch noch alleine. Körperlich war er sogar noch ganz schön fit... Nur, dass er oft nicht wuĂte, wo er war, und wen er vor sich hatte...
Samstagmittag stand ich endlich vor dem hohen Gitterzaun der Klinik. Ich ging die kahle, weiĂ getĂŒnchte Fassade entlang zum Eingang. Im Park schlurften ein paar einsame Gestalten in Anstaltskleidung umher. Vater war nicht darunter. Ich wurde in das Besuchszimmer des Chefarztes gebeten. WĂ€hrend ich einer lĂ€ngeren ErklĂ€rung lauschte, blickte ich aus dem vergitterten Fenster. Nervös wollte ich den Stuhl verrĂŒcken und musste feststellen, daĂ er am FuĂboden festgeschraubt war.
â...ist er trotz aller nur erdenklichen MaĂnahmen heute frĂŒh verstorbenâ, endete der Chefarzt und sah mich an.
Ich weiĂ nicht mehr, wie ich die lange Fahrt nach Hause ĂŒberstanden habe. Die zwei Tage, bis ich Gernot wieder erreichen konnte, lasteten wie ein Alptraum auf mir.
âWeiĂ Mutter es schon?â fragte er als erstes. âNein, ich wusste ja nicht, ob sie..., ist sie denn schon...â
âSie hat es ĂŒberstanden. Es geht ihr den UmstĂ€nden entsprechend gut. Sie ist schon in der Kurklinik.â
Noch am selben Abend trafen wir uns an der Klinik. Aus den offenen Fenstern drang Operetten-Musik. Zwischen den Blumenrabatten flanierten elegant gekleidete Damen und Herren. Mutter residierte in einem hĂŒbsch eingerichteten Doppelzimmer, im Kreise ihrer Freundinnen. Sie nahm alles ĂŒberraschend ruhig auf, zu ruhig fĂŒr mein GefĂŒhl.
âUnd wie willst du das vor deinem Herrn verantworten?â WĂŒtend schĂŒttelte ich sie. Gernot riss mich zurĂŒck.
âWieso ich?â Sie sah mich aus eisgrauen Augen an. âER hat Hand an sich gelegt und damit Gott versucht. Betet fĂŒr seine Seele!â
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