Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Mai 2003
Eine Entscheidung fürs Leben
von Mathias Burkert


Sie hat was gehört. Oder war es im Traum? Neben sich fassend: leer. Die Tür ist leicht offen. Stofflampenlicht zwängt sich von der Treppe herein, zusammen mit einem leisen Wimmern, erst schlummergedämpft, dann aufrüttelnd.

Ihre Füße suchen die Hausschuhe. Mit lautlosem Stöhnen sie presst die Lippen aufeinander, die Uhrenzeiger glimmen bei "zwei" und "viertel" steht sie auf. Dielen quietschen fragend. Sie streift sich den Morgenmantel über, bindet straff zu. Ortlieb?

Grauer Schlafanzug: Er, regungslos auf der obersten Stufe, am Geländer der Arm zittert.

Wo möchteste denn hin? Er trägt nur den einen Pantoffel, der andere, als sie näherkommt, liegt unten auf dem Absatz. Zur Toilette will er, klar. Die Pfanne mag er nicht.

Gehts nicht? Sie fasst den Arm, erschrickt: völlig steif. Sein Griff, die Hand wie festgenagelt, die Finger ums Geländer gezurrt. So hat er das Garderobenbrett im Flur heruntergerissen. Der Notarzt musste kommen. Geplant war ein Spaziergang.

Sie schlüpft neben ihm durch, tock-tock-tock abwärts, umwenden, ihn von vorn sehen, sein Gesicht ... Erleichterung: rosig-gesund. Der Körper eine krumme Lehmstatue, könnte der Kopf doch die ernste Büste eines Klassikers bilden. Glattrasiert, gerade Nase, senkrecht zwischen Mund und der gewellten, hohen Stirn mit Geheimratsecken, die in kurze, graue, pflegeleichte Locke hineinfräsen.

Sie nimmt den andern Arm, die Fingernägel sind sauber und geschnitten, und die Schulter. Zieht, schiebt, zage Versuche. Der Widerstand steigt, je mehr Kraft und Bestimmtheit sie ansetzt. Hilft nichts. Auf keinen Fall beunruhigen.

Sie lächelt ihr Kameradschaftslächeln, das sagen soll: Ich mag dich, ich lass dich nicht allein ... und das sie zu vielen Gelegenheiten und Verrichtungen gebrauchte. Wenn sie ihn wusch, mehrmals am Tag, wenn sie mit ihm eine Hose anzog, wenn sie um seine Zähne bat zwecks Reinigung, wenn sie das Radio leiser machte, weil sie das bessere Gehör hatte und es sie nervte.

Er liebte das Radio. Es holte die Welt ins Zimmer, bot einen Weg ins Jetzt-Da-Draußen, so gleichgültig das Gerede der Moderatoren sein mochte, gerade darin bestand die Wahrhaftigkeit. Aufregender waren nur Fußballübertragungen im Fernsehen. Dazu lutschte er an seiner alten Pfeife  unangezündet. Geraucht wurde nicht, schädlich, für ihn wie für die Tapeten. Viel Unmögliches beengte das Zusammenleben, ein Unvermögen zu mögen. Nicht dürfen und nicht können hießen seine liebsten und einzigen Haustiere, die machten keinen Dreck. Sie hatten ihm gute Dienste geleistet und wichen seither nie von seiner Seite.

Seine Frau konnte nicht sagen, für was er sich aufsparte, stets aufgespart hatte und das Geld. In ihrer Ehe waren sie genau zweimal im Urlaub gewesen, zuletzt vor Jahren im Schwarzwald auf Kaffeefahrt. Er hatte sich schrecklich eifersüchtig benommen. Seitdem ließ er sie nur unter bösen Blicken weg und sei es bloß in den Garten: Sie habe etwas mit dem dreißig Jahre jüngeren Mann der Nachbarfamilie.

Zu misstrauen war auch den Leuten, die er manchmal sah und abends aus dem Haus komplimentierte, ehe er alle Türen verriegelte und die Rouleaus herunterließ ... wobei seine Frau ihm inzwischen zur Hand ging, da ihm Schlüssellöcher und feinfühlige Zugmechanismen Probleme bereiteten. Erfreulich, wenn er halbwegs überhaupt was tat.

Im Alltag war er freilich keine Hilfe. Sogar das Frühstücksbrötchen schmierte sie ihm, dauerte schlicht zu lange sonst. Sie, geschäftig, hatte zu tun und wusste stets, was zu tun war. Es gab immer etwas, das Sinn machte, ob Putzen, Rasenmähen, Heckescheren, Windelnwechseln oder das Kochen des Puddings, den er unbedingt auf dem Mittagstisch wünschte, wenngleich er selten davon aß.

Nicht gefordert zu werden, nichts herzustellen, keine Anerkennung mehr zu kriegen: sie glaubte fest, seine Pensionierung habe die Krankheit mitverursacht. Ihr selbst war nach langjähriger Arbeit in der Schuhfabrik, aufgrund unerklärlicher Hautreizungen dann als Telefonistin die Rente eine herbeigesehnte Entlastung gewesen.

Nun war sein Wohl ihre Hauptaufgabe geworden neben der Haushaltung. Unterstützung zu holen, gehörte zum Unmöglichen. Außer seiner Frau ließ er ja niemanden an sich heran. Und es würde kosten. Verschwendung brachte ihn zum Toben. Das Pflegegeld war auf dem Sparbuch besser angelegt, was stimmte.

Aber war das große Haus zu zweit nicht ebenfalls eine Übertreibung? Dass Michaela oder Jakob mal mit ihren Familien anreisen und die Räume füllen könnten, dazu fanden sich die zeitlichen Freiräume nie. Besuch will anständig bewirtet und beherbergt sein. Dass sie in einer Pension übernachten würden, kam nicht in Frage. Und sie ließ sich als Gastgeberin ungern etwas abnehmen. Denn für alles hatte sie schon die bestmöglichen Wege; wie sie was getan haben wollte, musste erklärt werden. Also konnte sie den Tisch auch selbst decken und das Geschirr abwaschen, das ging schneller, und schneller würde wieder Normalität einkehren.

Ortlieb wie an ein Stromkabel geklammert, zitternd, gehemmt ... das kannte sie doch, kannte es aus einem Traum. Es war nicht gut, darüber nachzudenken, doch gerade jetzt steigt ein weiteres Mal diese Ahnung aus ihrem Bauch empor, unaufhaltbar, ähnlich einer offenen Plastikflasche, einer unendlich leeren, die sich wehrt im schaumblubbernden Spülbecken versenkt zu werden. So lange auch das Wasser hineinlaufen mochte, ließ man los, kam sie hochgeschossen diese leise Angst und wurde laut. Drückte man sie unter Kraftaufwand zurück, schickte sie beharrlich Luftblasen hinauf. Schlüpfriges Ding, manchmal entglitt es den Händen und flog spritzend auf: Ihr Tun und Bemühen war ein törichtes Festhalten an einem zur Ablösung geneigten Zustand.

Man müsste nahe bei den Kindern wohnen, im Westen, oder wenigstens in die Stadt ziehen, wo Menschen waren, zum Reden, und die Wege nicht weit. Sie könnten Busse und Taxis sparen. Ich wollte dir was sagen ...

Sie spricht es nicht aus. Seine Hand am Geländer krampft noch mehr, wulstige Sehnen und Venen spannen unter der Haut, Holzstangen knacken und knirschen. Er murmelt etwas. Von ihr jenes Lächeln, das immer unbeantwortet blieb. Sie konnte nicht entscheiden, was schlimmer war: dieses gleichgültige, versteinerte Gesicht oder in der Anfangszeit die Furcht in seinen Augen, wenn etwas nicht gelang, wenn er ein Wort nicht fand oder seine Beine. Könnte man reden. Aber er hat zusätzlich die Demenz. Also auf den nächsten lichten Moment warten, auf morgen, übermorgen.

Aussprachen waren seit jeher selten, sie hatten sich trotzdem verstanden. Damals in Sandau, als er, Kupferschmiedgeselle, ihr einfach mal das Haus zeigen sollte, wo er wohne, führte er sie aus Scham zunächst vor das frisch verputzte Haus des Nachbarn.

Sie war von beiden die Leichtsinnigere geblieben und hätte gern mehr unternommen. Nun konnte man ihn nicht mehr aus den Augen lassen. Er würde irgendwo hingehen. Man fand ihn dann wie abgestellt auf der Straße, und die Autos hupten, oder im Waschkeller oder vor der Küchenschublade. Die Küchenschublade, darin lag ganz unten ein Brief mit seltsamer Briefmarke.

Vor Wochen hatten sie gemeinsam ferngesehen, eine dieser Vormittags-Talk-Shows, die er eigentlich ablehnte, doch bei allem was sie für ihn tat ... Er war bescheidener geworden. Außerdem ging es um ihn, um unheilbar Kranke ... und dann um solche Kliniken in Holland. Sie hatte gehofft, dass er nicht begriff und auch nichts gesagt. Als sie die Nummer einblendeten, saßen beide still, sie befangen und er ... Sie hat ihn vage aus dem Augenwinkel gesehen: der Mund leicht geöffnet und die Augen starr geradeaus gerichtet. Die übliche Ausdruckslosigkeit, eine Totenmaske.

Er steht auf der Treppe, es ist ungewiss wie lange noch, und sie hält seine Hand, die freie. Sie würde zu diesem nächtlichen Ausflug eine Bemerkung ins Tagebuch machen. Ob unter Ausscheidungen oder Schlaf oder bei besondere Vorkommnisse war noch zu überlegen. Sie gab sich Mühe, stets alles richtig zu machen. Die Zeiten für Medikamente und Mahlzeiten hielt sie gewissenhaft ein, auch die Diätempfehlungen.

Dennoch waren die Nebenwirkungen der Pillen stark. Gestern hatte er sie, seine Frau, nach ihrem Dienstgrad gefragt, wer sie sei, was sie von ihm wolle. Er durfte nicht wissen, dass nicht die Krankheit die Halluzinationen hervorrief, sonst nimmt er nicht mehr ein, und die Lähmung schreitet schneller fort. Wär vielleicht sogar besser. Zwar vermochte er sie nicht mehr gezielt einzusetzen, aber er hatte Kraft.

Ww ... Www ... Rgh!

Du willst etwas sagen?, fragte sie gut. Was ist es denn? Lass dir Zeit.

Die ... na! ... Kinnrrrr.

Die Kinder.

Ja.

"Wo sind die Kinder?"

Ja.

Tja wo, bei sich daheim werden sie sein.

Ob sie noch in der Schule seien.

Nein, lange nicht mehr.

Jakob habe sein Zimmer wie einen Schweinestall hinterlassen.

Er wirds aufräumen, der bekommt was zu hören, der Klapsmann.

Bei Michaela werde er selbst noch einmal durchwischen und ihr nachher das Wasser zeigen, wieviel Dreck noch war, was für eine Nutte sie sei.

Wir gehen wieder ins Bett, ja? Doch seine Hand klemmt noch immer fest.

Als er am Nachmittag reingekommen sei, habe es nach Kaffee gerochen. Sie und Michaela haben Kaffee getrunken.

Jetzt komm, Opa, hör mir auf. Ich finds auch schlimm, dass die Kinder uns gar nicht mal besuchen kommen.

Ummm ... Umbringen!

SO schlimm ists nun wieder nicht.

Nnnei ... du!

Ach, MICH möchteste umbringen?!

Nnn! Er schüttelte sich. Du!

Pass auf, ich hol dir jetzt Strümpfe. Du erkältest dich noch, wo der Wind hier langpfeift.

In der Küchenschublade lagerten Zeitschriften, Postkarten aus Italien, Frankreich, Belgien, bunte Spar-Angebote von Supermärkten und ganz unten: ein großer weißer Umschlag, geschmackvoll mit Kursivschrift bedruckt. Der Postbote hatte ihn an die Tür gebracht, denn der Kasten war voll und die Sendung wirkte wichtig. Entgegengenommen hatte ihr Mann und als alter Sammler zuerst die Briefmarke angesehen. Mit einer Ausrede hatte sie ihm den Umschlag entwunden und in die Schublade gesteckt. Nun werde man sogar schon aus dem Ausland mit Werbung bombardiert. Verstand er mehr, als man annahm?

Im Fernsehen der Mann mit dem sympathischen Akzent hatte ihr so verständig aus dem Herzen gesprochen, und der am Telefon so freundlich geklungen, als sie die Info-Nummer anrief, und es war wirklich völlig kostenlos und unverbindlich gewesen. Nichts sprach dagegen sich zu informieren, was in der Welt ablief, genauso wie man die Nachrichten einschaltete. Aber das alles überzeugend darzulegen hoffnungslos. Ihr war mulmig zumute. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, auch wenn es keinen Grund gab. Und als das schlechte Gewissen wegging, war sie der Überzeugung, dass sie das Haus nicht mehr verkaufen würde.

Sie quetschte sich wieder an ihm vorbei. Der Wäscheschrank war im Schlafzimmer. Im Weggehen hörte sie ihn von Heim faseln. Ja, es hatte einen Versuch gegeben, ihn einmal die Woche mit Schicksalsgenossen in eine Tagespflegestätte bringen zu lassen. Er, um sich schlagend, war nicht in den Kleinbus zu bekommen gewesen. Der Bus war schließlich ohne ihn abgefahren, mit winkenden Insassen. Ihn ins Heim zu geben, hatte sie sich nicht entscheiden können. Man hörte so schreckliche Sachen. Er gehörte nicht zu denen, die in einem Pflegeheim für Normalsterbliche länger als drei Wochen überleben würden.

Als sie wieder vor ihm auf den Stufen, dicke Wollsocken aufkrempelnd sich hinhockt zu seinen Füßen, scheint er eingeschlafen zu sein. Obwohl er ständig wie in unsichtbaren Seilen hing, wirkte er noch schlaffer.

Sie nimmt den pantoffellosen Fuß und stülpt die aufgeraffte Socke über die Zehen. Er ist völlig teilnahmslos. Dann ein mürrischer Laut und eine abwehrende Geste von ungebremster Fahrigkeit, beidhändig. Sie verliert das Gleichgewicht und setzte sich auf den Boden, wenn da welcher wäre hinter ihr. Sie kullert nach unten und bleibt merkwürdig verdreht liegen.


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