Bitte lächeln!
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Mai 2003
Heitere Tage in der Villa Frieden
von Elisabeth Rainer


Die Sonne erlischt hinter dem Mendelkamm. Die letzten Strahlen tauchen die gegenüberliegenden Bergspitzen des Rosengartens in leuchtendes Rot. Über der Stadt hängt bleiern ein Dunstschleier. Ein Rest von Gluthitze steigt vom Asphalt hoch und lähmt die Bewegungen der Menschen, die der Stadt nicht entfliehen konnten. Helene sitzt in ihrem Zimmer und starrt leeren Blickes aus dem Fenster. Ihre Gedanken eilen zurück zu jenem Tag, als Judith, ihre Tochter, sie hierher brachte.
„Amalia ist auch dort, so könnt ihr euch gegenseitig Gesellschaft leisten.“
„Amalia ist nicht meine Freundin. Sie war nur meine Nachbarin, mit der ich mich nie besonders gut verstanden habe, da sie ihre Nase stets in Dinge steckte, die sie nichts angingen. Als sie zu ihrer Tochter in die Stadt zog, war ich nicht traurig darüber. Wieso soll ich ihr nun Gesellschaft leisten, bloß weil sie jetzt im Altersheim ist. Ich habe das Haus, das wir - Vater und ich - aufgebaut haben, und brauche, Gott sei Dank, noch niemanden, der mir sagt, was ich machen soll.“
„Mutter, du kannst nicht mehr alleine bleiben, du brauchst jemanden, der sich um dich sorgt. Du vereinsamst hier sonst. Dies Haus ist das letzte vor der Waldgrenze und seit Amalias Haus leer steht, bist du alleine. Wenn dir etwas zustößt, hast du niemand, der dir hilft. Ich kann mich nicht um dich kümmern. Wie du weißt, haben wir unser Hotel erweitert und das bringt viel Arbeit mit sich“. Judith schnaufte missmutig.
„Ich bin gerne alleine.“ Helene schaute sie trotzig an. Judith war kaltherzig geworden, unsensibel gegenüber den Interessen anderer. War sie, Helene, schuld an dieser Verwandlung. Judith war ihr einziges Kind geblieben und dementsprechend hatte sie sie stets verwöhnt. Nun wirkte sie fern, ihr nicht mehr vertraut.

Als es um die Entscheidung für oder gegen das Altersheim ging, hatte Judith die Oberhand behalten. Einige Zeit später fuhr sie sie mit Sack und Pack in die Hauptstadt, wo Judith mit viel Glück – „Mutter du glaubst gar nicht wie schwer das war“ – in der Villa Pace einen Platz für sie ergattert hatte.
„Aber hier bin ich weit weg von zu Hause. Wenn ich schon ins Altersheim muss, dann wenigstens bei uns im Dorf.“
„Dort gab es keinen Platz mehr und, glaub mir Mutter, mir fehlt die nötige Zeit, auch die anderen Altersheime der Umgebung abzuklappern.“
Sie hatte nervös auf ihre Uhr geschaut, kurz mit der Heimleiterin gesprochen und hatte sich dann hastig von ihr verabschiedet.
„Hier bleibe ich aber nicht für lange. Du holst mich doch wieder ab, wenn es mir nicht gefällt?“
„Dir wird es gefallen, du wirst sehen. Du wirst gar nicht mehr weg wollen.“ Ihr Lächeln wirkte verzerrt, sie hatte es eilig.

Helene fröstelt, obwohl die Quecksilbersäule noch immer 30 Grad anzeigt. Ihr dürrer Körper speichert keine Wärme mehr. Sie zieht die dünne Wolljacke enger um sich. Um diese Zeit herrscht Ruhe im Haus. Das Abendessen wurde schon vor Stunden eingenommen und die Heiminsassen sind bereits in ihren Zimmern und bereiten sich auf die Nachtruhe vor. Helenes Gedanken kreisen noch immer um ihre Tochter. Was hatte sie bloß falsch gemacht? Wie konnte aus so einem netten Kind, eine so distanzierte Erwachsene werden. Hatten sie sich jemals wirklich verstanden? Ja, vielleicht. Sicher sogar. Doch die Zeit hat Judiths Liebe zu ihr aufgefressen. Judith lebt in ihrer Welt der Hast, der eiligen Termine, wo für Zuneigung und Verständnis kein Platz mehr ist.

Amalia war dann, kurz nach ihrem Eintreffen, gestorben und hatte Helene zwar nicht traurig, aber alleine zurückgelassen. Sie hoffte, dass Judith sie wieder abholen würde, denn Grund zum Hierbleiben gab es nun keinen mehr. Doch die Zeit verging und Helene blieb.

Die Besuche ihrer Tochter wurden spärlicher und letzthin tröpfeln auch die heiß ersehnten Anrufe nur hie und da in ihr ereignisloses Leben. Tage und Wochen schleichen zäh dahin, nutzlos verstreichen sie. Wehmütig denkt sie an ihr Zuhause. Wer wohl ihren Garten pflegt? Und die Blumen, die sie mit viel Liebe rund um das Haus gepflanzt hat. Gibt es sie noch? Wer pflückt die saftigen Birnen im Herbst? Wenn sie die Augen schließt, riecht sie die Rosen, die das ganze Jahr über ihren Garten verschönern. Sie denkt an die vielen Handgriffe, die sie während eines langen Tages tat. Und wie sie sich abends müde, aber froh ins Bett legte. Hier ist der Morgen, wie der Mittag und der Abend: ohne glückliche Momente, ohne diese kleinen Höhepunkte, die den Tag mit einem zufriedenen Seufzer ausklingen lassen.

Eine Pflegerin steckt den Kopf zur Tür herein. Als sie Helene immer noch auf dem Stuhl vor dem Fenster sitzend vorfindet, tritt sie ein.
„Heute keinen Schlaf Frau Höller? Sie wissen doch, Sie müssen ins Bett, bevor ich meine Schicht beende“.
Helene antwortet nicht. Sie lächelt Carmen an. Sie mag sie. Sie ist eine von den wenigen Netten hier. Carmen hat ihr einmal erzählt, dass sie aus Ladinien kommt: Einem engen Tal mit einer jahrhundertealten Tradition und Sprache. Ihr Deutsch klingt melodisch und ein wenig holprig. Wenn sie lacht, und sie lacht gerne und viel, bilden sich kleine Grübchen. Mit Carmen ist der Tag heller und fröhlicher. Wo andere nur unwillig den Kopf schütteln und schleunigst der Tür zusteuern, wenn Helene in einer ihrer wenigen redseligen Momente von sich berichtet, lauscht Carmen geduldig ihren Erzählungen.

Nun beugt sich Carmen zu ihr herunter und lächelt sie liebevoll an. „Frau Höller, ich möchte mich von Ihnen verabschieden. Es ist dies heute mein letzter Tag.“
Verständnislos starrt Helene sie an.
„Ich heirate und gehe wieder nach Hause zurück.“
„Das können Sie doch nicht. Wer soll sich dann um mich kümmern?“ Helene stammelt. Sie stößt die Worte ruckweise hervor.
„Aber Jovanka und Danika, die sind doch nett zu Ihnen, oder?“
Ja, das sind sie. Sie muss ihr beipflichten. Aber sie versteht sie nicht. Sie kommen aus dem ehemaligen Jugoslawien und sprechen gerade so gut italienisch, dass sie hier eingestellt wurden, denn hier in den Altersheimen, herrscht stets Mangel an Personal. So reduziert sich ihre gegenseitige Unterhaltung auf freundliche Gesten und stockende Erklärungen. Helene mag auch Rosella, ein hübsches Mädchen aus einer südlichen Provinz Italiens, die kein Wort deutsch versteht. Helene bemüht sich stets ihren knappen Wortschatz genau zu formulieren, denn Helenes Italienisch ist eingerostet. In dem Dorf, aus dem sie kommt, leben nicht viele Italiener und die wenigen, die sie kannte, hatten sich angepasst und den ortsüblichen Dialekt erlernt. So brauchte sie es nie und sie hat auch hier im Heim, ihr Wissen nicht wesentlich erweitert: Altes Hirn lernt nichts mehr!

„Und was ist mit Ingrid?“ Carmen reißt sie aus ihren Gedanken, so als hätte sie erraten, was ihr gerade durch den Kopf ging.
Ja Ingrid! Die ist hier aus der Gegend und Sprachprobleme gibt es keine. Aber Ingrid ist nicht nett zu ihr. Sie hat wenig Geduld, ist grob und unbeherrscht. Helene ist froh, wenn sie von ihr nichts braucht. Aber das will sie der gutmütigen Carmen nicht erzählen. Auch Silvana – eine sympathische Italienerin in ihrem Alter – verzieht jedes Mal das Gesicht, wenn Ingrid in der Nähe ist.

Ja, mit Silvana hätte sie sich verstanden: sie hätten Freundinnen werden können, wenn nicht die Kluft der Sprache zwischen ihnen gestanden hätte. Silvana, seit undenklichen Zeiten in dieser Stadt, hat nie die deutsche Sprache erlernt. Und so leben sie nebeneinander, nicken sich manchmal verschwörerisch zu, reden sogar einige Worte miteinander - soweit Helenes Kenntnisse eben ausreichen – aber jede bleibt letztendlich in ihrer Welt. Im Geiste lässt sie all ihre Mitbewohner Revue passieren. Man sieht sich, spricht belangloses Zeug, aber tiefer geht es nicht. Giuseppe, ein rüstiger Endsiebziger, der aus Modena kommt und hier seinen Lebensabend verbringt, zwinkert ihr stets belustigt zu, wenn sie sich über den Weg laufen und überhäuft sie gestenreich mit einem Wortschwall. Sie versteht nur einen Teil davon und lächelt ein wenig verlegen zurück. Karl und Grete, beide hier aus der Stadt, sind kurz nacheinander eingezogen. Sie haben sich schnell angefreundet und halten zu den anderen wenig Kontakt. Vor Rosa flieht sie, wenn sie sie sieht: Rosa spricht nur über sich und zerfließt in Selbstmitleid. So vergeht ein Tag, wie der andere. Stumm lebt man nebeneinander her.

Helene grübelt und nimmt Carmen gar nicht mehr wahr. Sie hat sich hier nie richtig eingelebt, blieb eine Fremde unter Fremden. Die Sehnsucht nach ihrem Dorf, nach ihrem Haus ist übermächtig. Und nun, wo Carmen geht, sieht sie eigentlich keinen Zweck mehr, zu bleiben. Ihre Tochter hat nicht Wort gehalten, sie hat sie nie abgeholt, obwohl Helene sie mehrere Male angefleht hat, sie mitzunehmen.
„Ich mache mich ganz klein. Du spürst mich gar nicht. Es genügt mir ein Winkel in deinem Haus. Ich werde mit allem zufrieden sein, was du mir anbietest. Lass mich zurück in unser Dorf. Dort kenne ich alle. Ich bin ein alter Baum, den kann man nicht entwurzeln und neu einpflanzen, er stirbt sonst“.
Judith hat nur jedes Mal genickt und sie auf später vertröstet.

„Frau Höller Sie müssen jetzt Ihre Schlaftablette nehmen. Haben Sie die anderen Pillen schon eingenommen?“
Helene nickt. Sie wird die Tablette wegwerfen, sobald Carmen aus dem Zimmer ist; so wie sie auch den Rest der Pillen stets durch das Klosett spült. Sie hat längst schon gemerkt, dass es hier zur Hausordnung gehört, großzügig Medikamente zu verteilen. Helene ist trotz ihres Alters kerngesund, bescheinigt ihr der Heimarzt jedenfalls immer. Und sie glaubt ihm. Körperlich geht es ihr gut. Bis auf die Beine, die nicht mehr so recht wollen. Doch das erträgt sie mit Gleichmut. Hauptsache der Kopf spielt noch mit, denn das ist ihr wichtig. Mit Lesen verbringt sie viel Zeit. Sie versinkt in der wunderbaren Scheinwelt, wo alles schön, alles heil ist und vergisst für einen Augenblick ihr tristes Leben. Wenn sie ihre Mitbewohner betrachtet und merkt sie bei dem einem und dem anderen, wie sie anfangen, sich nicht mehr an die einfachsten Dinge zu erinnern. So will sie nicht werden.

„Hier das Glas Wasser zu ihrer Tablette“. Carmens Stimme klingt eindringlich, ganz fürsorgliche Betreuerin.
„Liegt etwa mein Glück in diesem Glas Wasser und in dieser kleinen Pille?“ Scherzhaft verzieht Helene ihr Gesicht.
Carmen guckt dumm, sie versteht nicht.
„Nun ich meine, liegt das Glück in einem traumlosen Schlaf? Ist es nicht besser, die Ängste durchzukämpfen und lieber schlaflos zu bleiben?“
Carmens einfaches Gemüt versteht nicht den Sinn der Worte. Sie will ihn auch nicht verstehen, dafür ist sie nicht hier. Sie mag Frau Höller, aber ihren letzten Tag will sie nicht mit Problemen beenden.

Als Carmen schließlich geht, sitzt Helene eine Zeitlang stumm da, dann erinnert sie sich plötzlich an ein Vorhaben, das sie aus Rücksicht auf Carmen nie umgesetzt hat. Sie holt ihren Pappkarton mit ihren Habseligkeiten hervor. Sie hat dort ihre Fotos und Dokumente, sowie das wenige Geld - das ihr zusteht – aufbewahrt. Es beweißt ihr: ich existiere noch als Einzelwesen! Sie steckt alles in ihre abgewetzte Handtasche, streicht sich kurz über das Haar und öffnet dann vorsichtig die Tür. Im Gang ist es ruhig. Nur aus der Etagenküche hört sie die Stimmen von Carmen und Ingrid. Helene tastet sich vorsichtig die Wand entlang, den Gehstock unter den Arm geklemmt: sein Stapfen würde die Beiden aus der Küche locken und das will sie vermeiden.

Als sie in der Halle ankommt, ist sie froh, dass Livio nicht in der Portierloge ist. Nur Silvana sitzt noch dort und fächelt sich mit einer Zeitschrift kühle Luft zu. Im Zimmer ist es ihr anscheinend zu heiß und obwohl die Hausregel verbietet, sich spätabends in der Halle aufzuhalten, hat Silvana die Anweisungen ignoriert. Vielleicht empfindet Helene deshalb so große Sympathie für sie. Nun sieht Silvana sie fragend an und schreit etwas zu ihr herüber. Sie versteht nicht, was sie sagt, nickt ihr freundlich zu und geht entschlossen durch die große Tür ins Freie.

Inzwischen dunkelt es bereits. Die Straßenlaternen klicken langsam, eine nach der anderen, an. Helene humpelt, auf ihren Stock gestützt, den menschenleeren Gehsteig entlang. Bis zum Bahnhof ist es nicht weit. Sie weiß das: Von ihrem Zimmer aus hört sie den langen Pfeifton, bevor der Zug in den Bahnhof einfährt. Das Gehen fällt ihr schwer, doch der Entschluss steht fest: Sie will zurück in ihr Haus. Auch Judith kann ihr das nicht verbieten. Sie hat gelernt sparsam zu sein und ihre kleine Rente reicht ihr zum Leben. Sie hat Judith stets gebeten: Wenn ich sterbe, will ich neben deinem Vater liegen. Hier will ich nicht begraben werden. Nun fährt sie heim, nicht um zu sterben, nein um dort zu leben, zum Sterben ist noch Zeit.

Als Helene aufschaut, sieht sie den Bahnhof vor sich. Sie ist da. Sie will auf irgend einen Zug warten, der sie zurückbringt in ihr Dorf. Sie hat es nicht eilig. Die Zeit ist das einzige, was ihr geblieben ist. Die Straße ist zu dieser Zeit nicht sehr befahren, nur einige Menschen hasten mit schweren Koffern den großen Schwingtüren zu. Helene bleibt vor dem Zebrastreifen stehen. Nur mehr die Straße liegt zwischen ihr und der Freiheit. Als sie sieht, dass diese sich fast leer vor ihr ausbreitet, setzt sie darüber. Ihre Augen krallen sich am Boden fest, stolpern wäre jetzt fatal. Ein jäher Luftstoß lässt sie schwanken. Bremsen quietschen, ein großer Knall, dann Stille. Helene Höller liegt zusammengekrümmt am Boden und rührt sich nicht mehr. Jemand beugt sich über sie und prüft den Puls. Der Tod muss schnell eingetreten sein, denn ihr Gesicht wirkt friedlich, fast erstaunt über das plötzliche Ende.


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