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Juni 2003
Speaker’s Corner
von Klaus Eylmann


Sonntag Vormittag in London, und es war heiĂź, wĂĽrde noch heiĂźer werden, so dachte Heinz und ging mit schleppenden Schritten ĂĽber den Rasen des Hyde Parks. In der Park Lane rauschte der Verkehr. Vor ihm schlief ein Polizist im Gras. Ein paar Frauen saĂźen auf einer Bank und unterhielten sich, dann sah Heinz den Liegestuhl.

Stimmen kamen von irgendwo her. Heinz rieb sich die Augen. Der Polizist war verschwunden. Es war noch heiĂźer geworden. Heinz drĂĽckte sich aus dem Liegestuhl und ging auf die Stimmen zu.
Frauen und Männer standen auf Kisten, Leitern und redeten. Das war sie also, die Speaker’s Corner von Marble Arch. Heinz gesellte sich zu den Gruppen, die um die Sprecher herum standen. Politik, Kultur, Religion. Behauptungen, Forderungen, Unterstellungen. Sie ereiferten sich. Die Sprecher. Alle. Es war laut, Stimmen überlagerten sich. Wem sollte Heinz zuhören?, und er dachte an den Liegestuhl. Dann kam ein Mann mit einer großen Leiter. Er trug einen altmodischen, grauen Anzug. Wallende blonde Haare fielen ihm auf die Schultern. Sein rundes Gesicht war von der Sonne gerötet. Er grüßte, machte ein paar Scherze, dann schaute er auf den Boden und stellte seine Leiter auf.
Heinz sah, das Gesicht des Mannes, das eben noch freundlich schien, wurde ernster, je höher er die Leiter erklomm und wurde fahl, als er auf der letzten Sprosse stand. Seine Augen schienen vor Schreck geweitet, und er rief:

“Und ich sage euch: Der Jüngste Tag ist nah. Seht ihr es nicht? Seht ihr nicht, wie London in einem Meer von Flammen vergeht, der Big Ben zerbirst und die Tower Bridge in die Themse fällt? Finsternis und ewige Verdammnis werden über uns herein brechen, wenn Luzifer und seine dunklen Heerscharen sich den Planeten untertan machen und die Seufzer unserer sündigen Seelen in glühendheißer Luft verhallen.”

“Mark, hast du uns sonst noch was zu sagen?”, brüllte jemand unter dem Gelächter der anderen. Unbeholfen stieg der Redner die Leiter herab, blieb einen Moment stehen, blickte ins Leere, dann sah er auf die Leute. Seine Hände zitterten.
“Was ist? Was ist?”, fragte er. Niemand antwortete. Jemand lachte. Er schulterte die Leiter und ging, ohne ein Wort zu verlieren, auf die Park Lane zu.
“Wieso hörst du schon auf?”, rief ihm jemand nach, bevor er hinter einer Ecke verschwand.
“Das macht er immer so”, meinte ein graubärtiger Zuhörer. “Es ist, als sei er in Trance. Jeden Sonntag ruft er die Prophezeiung von seiner Leiter herab und dann geht er.”
“Alle anderen diskutieren mit den Leuten. Dieser nicht. Und was veranlasst ihn, jeden Sonntag hierher zu kommen?”, fragte Heinz und sah: Dort, wo die Leiter gestanden hatte, waren vier Steine in den Boden eingelassen. Dann ging auch Heinz zur Park Lane hinunter. Er beobachtete, wie der Redner die Leiter hinter der Männertoilette abstellte und die Treppe zur U-Bahn Station hinab lief.
Irgend etwas stimmte nicht mit dem Mann. Heinz fühlte es. Er ging zur Speaker’s Corner zurück, beobachtete die anderen Sprecher sowie die Menschen um sie herum, hörte ihnen zu, danach machte er sich auf den Weg. In einigen Tagen ging es heim, und er hatte noch ein paar Besichtigungen auf dem Programm.

Spät am Abend saß er in einem Restaurant und wartete auf die Bedienung. Es war dunkel. Ein paar Schnapsdrosseln torkelten am Fenster vorbei. Der Mann mit der Leiter war ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Was wäre, wenn er… . Heinz sprang auf und lief aus dem Lokal. In Marble Arch hastete er hinter die Toilette und nahm die Leiter mit. Die Speaker’s Corner war verwaist. Hecken hielten das Licht der Straßen fern. Es war, als hätten der Lärm der Redner, die Zwischenrufe der Zuhörer auf einem anderen Planeten stattgefunden. Heinz klappte die Leiter auf. Die vier Steine. Wo waren sie?
“Brauchst du ne Taschenlampe?” Jemand stand neben ihm und hustete. Eine Zigarette glimmte.
“Heiße Jimmy,” meinte der Mann. “Jetzt haben wir zwei Leitern. Woher kommt deine?”
“Von der Männertoilette.” Was wollte der Mann?
“Die von Mark? Stell sie zurück. Wir nehmen meine.”
“Wozu?”
“Wollte schon lange rausfinden, was Mark gesehen hat. Nur brauchte ich einen Zeugen.”
“Wart auf mich,” rief Heinz und trug die Leiter fort.
Als er zurĂĽck kam, sah er den Kegel der Taschenlampe, beobachtete, wie Jimmy die Leiter auf die Steine im Boden positionierte.
“Du zuerst,” meinte der mit einladender Handbewegung. “Übrigens, wer bist du überhaupt?”
“Heinz aus Deutschland. Was kann der Mark gesehen haben? Sein Verhalten war äußerst seltsam.”
Jimmy hielt die Leiter fest. “Kletter rauf.”
Heinz stieg die Leiter hoch. Und als er auf der obersten Sprosse stand, hallte es über die Marble Arch: “Und ich sage euch: Der Jüngste Tag ist nah. Seht ihr es nicht? Seht ihr nicht, wie London in einem Meer von Flammen vergeht… “
Jimmy fluchte und trat gegen die Leiter, so dass sie von den Steinen glitt. Heinz verstummte. Zögernd kletterte er herunter und rührte sich nicht.
“Hast du was gesehen? Was hast du gesehen? Du hast so laut geschrien. Ich hatte Angst, die Polizei könnte jeden Moment kommen.” Jimmy sah sich um. “Das kann sie immer noch. Wir gehen am besten in Deckung und prüfen, ob die Luft rein ist.” Sie gingen zur nächsten Hecke.
“Du hast genau die gleichen Worte gesagt, wie Mark. Was hast du gesehen?”
“Gesehen?” Heinz war verwirrt. Hatte er etwas gesehen? Ihm schien so, und es muss entsetzlich gewesen sein. Heinz Beine zitterten, als er sich an der Leiter festhielt. Was war es?
“Ich weiß es nicht.”
Jimmy trat seine Zigarette auf dem Boden aus. “Dann probier ich es mal.”
Sie gingen auf den Platz zurĂĽck. Im Schein der Taschenlampe stellten sie die Leiter auf die Steine im Boden.
“Es geht nur dort”, meinte Jimmy. “Irgendjemand muss das mal rausbekommen haben. Vielleicht schon vor hundertfünfzig Jahren. So lange existiert die Speaker’s Corner schon. Vielleicht wuchs hier ein Apfelbaum, und beim Pflücken fing die Person so zu reden an wie du eben. - Aber was sag ich da. Werde ich zu laut, dann schieb die Leiter von den Steinen.” Jimmy stieg die Sprossen empor. Kaum war er oben, brüllte er: “Und ich sage euch: Der Jüngste Tag ist nah. Seht ihr es nicht? Seht ihr nicht, wie London in einem Meer von Flammen vergeht, der Big Ben zerbarst…” Heinz rückte die Leiter weg.

“Was hast du gesehen?”, fragte Heinz, als Jimmy Anstalten machte zu gehen.
“Ich glaube, es war so grausam, dass sich mein Hirn sträubte, es mich wissen zu lassen. Aber ich weiß, es ist da drinnen.” Jimmy pochte an seinen Schädel.
“Ich hoffe nur, es kommt nie an die Oberfläche. Was habe ich eigentlich gesagt?”
“Das Gleiche wie Mark am Sonntag.”
Gemeinsam gingen sie zur Park Lane hinunter.
“Irgendetwas ist da,” meinte Jimmy, stellte die Leiter ab, und zündete sich eine neue Zigarette an.
“Das menschliche Gehirn im Koordinatenkreuz von was weiß ich. Aliene Strahlung, Nachrichtenübertragung. Hols der Geier. Lohnt nicht das zu melden. Sollte unter uns bleiben. Schließlich geht das schon hundertfünfzig Jahre so. Wäre unverantwortlich an der Tradition zu rütteln.”
Ein paar Autos und Nachtbusse fuhren an ihnen vorbei. Sie blickten sich eine Weile an.
“Und”, sagte Heinz, “der Mark kommt jeden Sonntag.”
“Shit. Du meinst, dass auch wir… .“ Jimmys Stimme klang gepresst. Er hustete.
“Ich hoffe nicht. Aber meinen Rückflug werde ich von Sonntag auf Sonnabend verlegen.” Heinz gab Jimmy die Hand und sah, wie der Mann mit Leiter und glimmender Zigarette in der Dunkelheit verschwand.
“Dann bis nächsten Sonntag, Jimmy!”, rief ihm Heinz hinterher und versuchte zu lachen. Es ging nicht.









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