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Juni 2003
St. Pierre
von Monique Lhoir


(Mai 1902)

"Manouli, sag deinem Vater, er soll heute Nachmittag sofort zu mir kommen." Der zehnjährige Mulattenjunge sieht erschrocken von seinen Büchern auf. Noch nie hat er Professor Landes so ernst gesehen.

"Sind Sie nicht mit mir zufrieden, Monsieur?" Er duckt sich unwillkürlich in der Annahme, einen Tadel zu bekommen.

"Doch, doch", erwidert Professor Landes beschwichtigend und streicht dem Jungen wohlwollend über den Kopf. "Es hat nichts mit dir zu tun. Nur, ich habe gestern im oberen Talabschnitt des Rivière Blanche dampfende Fumarolen entdeckt. Die machen mir Sorgen. Ich möchte mit deinem Vater darüber sprechen, da er doch die Insel gut kennt."

Professor Landes, Leiter der naturwissenschaftlichen Abteilung des Gymnasiums von St. Pierre auf Martinique, kannte Manouli schon von klein auf. Seine Mutter, deren Großeltern noch Sklaven der französischen Kolonialherren im letzten Jahrhundert gewesen waren, stand als Hausmädchen in seinen Diensten. So hatte er die Familie kennen gelernt. Manouli Batubu war ein intelligenter Junge und Professor Landes setzte sich dafür ein, dass dieser das Gymnasium besuchen konnte auch ohne Schulgeld zu zahlen. Sein Vater Léon, der eine kleine Zuckerrohrplantage besaß, hätten das nie aufbringen können, musste er doch noch acht weitere Kinder ernähren.



Am späten Nachmittag des 23. April 1902 machen sich Professor Landes und Léon von St. Pierre auf den Weg zum Mont Pelée. Schon auf dem Weg dorthin registriert Professor Landes leichte Erdstöße, und ein erster Aschenregen geht auf sie nieder.

"Maître Landes, wir müssen umkehren." Léon sieht besorgt zum Gipfel des Mont Pelée und bekreuzigt sich. Schwefeldämpfe machen das Atmen schwer.

"Léon Batubu, was meinst du. Wird der Mont Pelée ausbrechen?"

"Der Berg arbeitet immer", sagt Léon dumpf und wischt sich den Schweiß von der Stirn, "aber so stark hat er sich noch nie gewehrt." Schon seit Generationen gilt der Berg als eine Bedrohung und flösst Léon großen Respekt ein.



Noch während ihres Rückwegs nach St. Pierre gibt es mehrere Explosionen im Gipfelbereich, der Aschenregen wird intensiver und verfinstert die Sonne. Professor Landes und Léon werden von den ersten fliehenden Tieren überholt, die sich in Sicherheit bringen. Das laute Vogelgezwitscher, das gewöhnlich in dem tropischen Regenwald zu hören ist, verstummt und macht einer unnatürlichen Stille Platz.

"Das ist ein Zeichen, dass es eine Katastrophe geben wird." Léon beschleunigt seine Schritte. In seinen Augen steht die pure Angst. "Diesmal wird der Berg uns alle töten."

"Léon, nimm deine Frau und deine Kinder und fahre auf meinen Landsitz nach St. Joseph." Professor Landes vertraut Léons Inselkenntnissen und dem Instinkt der Einheimischen, bestätigen sie doch nur seine eigenen Befürchtungen.

"Und Sie, Maître?"

"Ich werde mit dem Gouverneur sprechen und dann nachkommen. St. Pierre muss evakuiert werden. Ich denke, ein Ausbruch des Mont Pelée steht kurz bevor."



"Wie stellen Sie sich das vor?" Der Gouverneur sitzt mit hochrotem Kopf in seinem Büro. Trotz des surrenden Deckenventilators machen ihm die hohe Luftfeuchtigkeit sowie die stickige Schwefelluft, die vom Mont Pelée bedrohlich herüberweht, zu schaffen. "In sechs Tagen haben wir Gouverneurswahlen und ich soll diese Stadt evakuieren? Wissen Sie, dass hier jede Stimme zählt?"

"Herr Gouverneur", plädiert Landes noch einmal. "In St. Pierre leben 40.000 Menschen. Wollen Sie diese Leben auf Spiel setzen, nur um eine Wahl zu gewinnen? Wenn der Mont Pelée ausbricht, wird sich seine Lava bis in den Hafen hinunterwälzen und sowohl die Stadt als auch die Schiffe vernichten."



Resigniert und unverrichtete Dinge kehrt Professor Landes in sein Gymnasium zurück.

"Manouli, ich werde das Institut schließen und die Schüler zu ihren Familien schicken. Deine Eltern und Geschwister sind schon auf dem Wege nach St. Joseph. Ich packe rasch ein paar Sachen und dann fahren wir auch dorthin."

"Ist es so ernst?", fragt Manouli.

"Ich befürchte das Schlimmste."



Noch bevor Professor Landes seine Habseligkeiten aus seiner Stadtwohnung auf seine Kutsche geladen hat, sieht er eine weitere Explosion am Mont Pelée. Aufgeregt berichtet kurze Zeit später ein überlebender Mitarbeiter, dass ein Sturzbach aus kochendem Schlamm die am "Weißen Fluss" gelegene Zuckerfabrik zerstört hätte. 30 seiner Kollegen seien dabei ums Leben gekommen.



Diese Nachricht geht wie ein Lauffeuer durch St. Pierre. Die Bevölkerung ist erregt und bereitet ihre Flucht vor. Erneute Explosionen am Vulkankrater führen in der Stadt zu angstvollen Unruhen. Doch trotz aller Warnungen versucht der Gouverneur, die Bevölkerung zu beschwichtigen, aber ohne Ergebnis. Letztendlich setzt er Truppen ein, um die fliehenden Menschen zurückzuhalten.



Auch Professor Landes und Manouli werden vom Militär und erneuten starken Aschenfall zur Umkehr gezwungen. Die Luft ist stickig und jeder Atemzug erzeugt ein starkes Brennen in der Lunge.

"Was machen wir nun?" Auch in Manoulis dunklen Augen steht Angst. Die Menschen in St. Pierre sind aufgebracht und es kommt zu ersten Revolten zwischen den einheimischen Männern, die ihre Familien schützen wollen, und den Truppen.

"Wir werden uns morgen früh zu Fuß nach Le Morne Rouge durchschlagen. Das liegt oberhalb. Sollte es zu einem Ausbruch kommen, wird sich die Lavamasse den Weg zum Hafen suchen."

In dieser Nacht hören Manouli und Professor Landes ununterbrochen die Tamboo-Tamboo-Trommeln der Einheimischen. Die Bevölkerung von St. Pierre hat sich in den Straßen der Stadt zu kleinen Gruppen zusammengeschlossen und tanzt sich nach dem Takt der Musik ihrer alten afrikanischen Stammestänze in Hypnose. Die Frauen haben ihre farbenprächtige, traditionelle Festtagskleidung angelegt, wiegen ihre Kinder in den Schlaf und der Rum für die Männer fließt in Mengen. In dieser Nacht machen der Professor und sein Schüler kein Auge zu.



Am Morgen des 7. Mai machen sich Professor Landes und Manouli erneut zu Fuß durch den Regenwald auf den Weg ins Landesinnere. Den Artikel, den die einheimische Zeitung "Les Colonies" an diesem Morgen herausbringt, bekommt Professor Landes nicht mehr zu lesen. Darin äußert sich der Gouverneur wie folgt: "Der Mont Pelée bietet für St. Pierre keine größere Gefahr als der Vesuv für Neapel. Wir, der Gouverneur, können diese Panik nicht verstehen. Wo könnte außerhalb von St. Pierre jemand besser Schutz finden als in unserer Stadt."



Obwohl der Weg von St. Pierre nach Le Morne Rouge keine 20 Kilometer beträgt, ist er für beide sehr beschwerlich. Die feuchte Hitze und die schwefelhaltige Luft sind unerträglich und sie kommen nur langsam vorwärts. Wege und Straßen sind vom Aschenregen blockiert und fast nicht mehr passierbar, so dass sich Professor Landes und Manouli mit ihren Messern einen Weg durch den Regenwald schlagen müssen. Erschöpft machen sie am Abend kurz vor Le Morne Rouge Rast, um am nächsten Tag weiter nach St. Joseph zu gelangen.



Am frühen Morgen des nächsten Tages werden Manouli und Professor Landes von gewaltigen Detonationen geweckt. Erschreckt schnellen sie in die Höhe und blicken zum Mont Pelée. Der stößt eine riesige Dampffontäne aus und schwarze Rauchwolken entweichen dem Vulkan. Gleichzeitig wälzt sich eine Glutlawine seitlich aus dem Krater und bewegt sich mit großer Geschwindigkeit auf die Stadt und die Küste zu.

Professor Landes und Manouli schauen dem Schauspiel entsetzt zu. In Sekundenschnelle rast eine dichte Flammenwand auf den Hafen von St. Pierre zu. Es donnerte wie aus tausend Kanonen. Die Glutwolke stürzt sich wie ein grell aufflammender Blitz auf ihre Heimatstadt und auf die im Hafen liegenden Schiffe. Da, wo die feurige Masse in das Meer trifft, fängt das Wasser an zu kochen und mächtige Dampfwolken steigen auf.

Manoulis Geburtsort liegt unter einer dicken Lavaschicht begraben.



Professor Landes nimmt den Jungen in den Arm, wendet sich erschüttert ab und setzt seinen Weg nach Le Morne Rouge fort. Dort mietet er eine Kutsche und fährt nach St. Joseph. Erleichtert wird er von Manoulis Familie auf seinem Landsitz empfangen.

Die Nachricht vom Untergang der Hafenstadt St. Pierre ist bereits bis dorthin durchgedrungen.



Am Abend sitzen Léon Batubu und Professor Landes auf der Veranda des Landhauses. Manouli hat sich schweigend auf den Holzstufen niedergelassen.

"Ich habe heute Nachmittag einen Seemann getroffen, der die Katastrophe überlebt hat", spricht Léon in die Stille. "Er war an Bord der "Romaina". Er berichtet, dass der Kapitän alle Mann noch früh morgens an Deck gerufen hätte, um sich das Schauspiel anzusehen. Dann wäre der Berg plötzlich mit einer riesigen Explosion auseinander gerissen worden und in sekundenschnelle ergoss sich die Lavamasse über die Stadt und über die im Hafen liegenden Schiffe. Es gab keine Warnung für die Bevölkerung. Die Landungsbrücken von St. Pierre wären mit Männern, Frauen und Kindern überfüllt gewesen, die die Stadt verlassen wollten. Nach der Explosion wäre keine einzige lebende Seele mehr an Land zu sehen gewesen. Von den 68 Besatzungsmitgliedern der "Romaina" waren nach dem Feuersturm nur noch 25 verblieben. Das Feuer hatte die Schiffsmasten und Schornsteine hinweg gerissen, als wären sie mit einem Messer abgeschnitten worden. Er habe sich nur retten können, indem er in seine Kajüte gestürzt wäre und sich in sein Bettzeug eingewickelt hätte."

"Und sonst?", fragt Professor Landes und zieht an seiner Pfeife.

"In St. Pierre soll es nur zwei Überlebende gegeben haben: Ein Gefangener, der unter dem Gewölbe seiner Gefängniszelle geschützt war, und ein Schumacher."

"40.000 Menschenleben", sagt Professor Landes nachdenklich in die Abendstille hinein.

Alle drei schweigen wieder, nur das Zirpen der Grillen ist zu hören.

"Und der Gouverneur?" Manouli blickt die Erwachsenen fragend an.

"Der Gouverneur? Der hat wohl seine Wahl verloren." Professor Landes klopft seine Pfeife aus, erhebt sich müde aus seinem Schaukelstuhl und schaut in Richtung Mont Pelée, über dem noch die letzten, dunkeln Rauchwolken zu erkennen sind.



Der Berg gibt keine Ruhe. Am 20. und 26. Mai, am 6. und 9. Juli sowie am 30. August des gleichen Jahres wälzen sich ähnliche Glutwolken vom Vulkan herab, bei dem etwa 4000 Menschen des Städtchens Le Morne Rouge den Tod finden.



Bis 1929 ruht der Mont Pelée, dann beginnt er abermals große Aschenwolken auszustoßen. Die Bewohner des nie wieder in alter Pracht erstandenen St. Pierre werden vorübergehend evakuiert. Der kleine Manouli Batubu ist in diesem Jahr stellvertretender Gouverneur.

© Monique Lhoir






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