"Manouli, sag deinem Vater, er soll heute Nachmittag sofort zu mir kommen." Der zehnjährige Mulattenjunge sieht erschrocken von seinen Büchern auf. Noch nie hat er Professor Landes so ernst gesehen.
"Sind Sie nicht mit mir zufrieden, Monsieur?" Er duckt sich unwillkürlich in der Annahme, einen Tadel zu bekommen.
"Doch, doch", erwidert Professor Landes beschwichtigend und streicht dem Jungen wohlwollend über den Kopf. "Es hat nichts mit dir zu tun. Nur, ich habe gestern im oberen Talabschnitt des Rivière Blanche dampfende Fumarolen entdeckt. Die machen mir Sorgen. Ich möchte mit deinem Vater darüber sprechen, da er doch die Insel gut kennt."
Resigniert und unverrichtete Dinge kehrt Professor Landes in sein Gymnasium zurück.
"Manouli, ich werde das Institut schließen und die Schüler zu ihren Familien schicken. Deine Eltern und Geschwister sind schon auf dem Wege nach St. Joseph. Ich packe rasch ein paar Sachen und dann fahren wir auch dorthin."
Diese Nachricht geht wie ein Lauffeuer durch St. Pierre. Die Bevölkerung ist erregt und bereitet ihre Flucht vor. Erneute Explosionen am Vulkankrater führen in der Stadt zu angstvollen Unruhen. Doch trotz aller Warnungen versucht der Gouverneur, die Bevölkerung zu beschwichtigen, aber ohne Ergebnis. Letztendlich setzt er Truppen ein, um die fliehenden Menschen zurückzuhalten.
Auch Professor Landes und Manouli werden vom Militär und erneuten starken Aschenfall zur Umkehr gezwungen. Die Luft ist stickig und jeder Atemzug erzeugt ein starkes Brennen in der Lunge.
"Was machen wir nun?" Auch in Manoulis dunklen Augen steht Angst. Die Menschen in St. Pierre sind aufgebracht und es kommt zu ersten Revolten zwischen den einheimischen Männern, die ihre Familien schützen wollen, und den Truppen.
"Wir werden uns morgen früh zu Fuß nach Le Morne Rouge durchschlagen. Das liegt oberhalb. Sollte es zu einem Ausbruch kommen, wird sich die Lavamasse den Weg zum Hafen suchen."
In dieser Nacht hören Manouli und Professor Landes ununterbrochen die Tamboo-Tamboo-Trommeln der Einheimischen. Die Bevölkerung von St. Pierre hat sich in den Straßen der Stadt zu kleinen Gruppen zusammengeschlossen und tanzt sich nach dem Takt der Musik ihrer alten afrikanischen Stammestänze in Hypnose. Die Frauen haben ihre farbenprächtige, traditionelle Festtagskleidung angelegt, wiegen ihre Kinder in den Schlaf und der Rum für die Männer fließt in Mengen. In dieser Nacht machen der Professor und sein Schüler kein Auge zu.
Obwohl der Weg von St. Pierre nach Le Morne Rouge keine 20 Kilometer beträgt, ist er für beide sehr beschwerlich. Die feuchte Hitze und die schwefelhaltige Luft sind unerträglich und sie kommen nur langsam vorwärts. Wege und Straßen sind vom Aschenregen blockiert und fast nicht mehr passierbar, so dass sich Professor Landes und Manouli mit ihren Messern einen Weg durch den Regenwald schlagen müssen. Erschöpft machen sie am Abend kurz vor Le Morne Rouge Rast, um am nächsten Tag weiter nach St. Joseph zu gelangen.
Professor Landes und Manouli schauen dem Schauspiel entsetzt zu. In Sekundenschnelle rast eine dichte Flammenwand auf den Hafen von St. Pierre zu. Es donnerte wie aus tausend Kanonen. Die Glutwolke stürzt sich wie ein grell aufflammender Blitz auf ihre Heimatstadt und auf die im Hafen liegenden Schiffe. Da, wo die feurige Masse in das Meer trifft, fängt das Wasser an zu kochen und mächtige Dampfwolken steigen auf.
Manoulis Geburtsort liegt unter einer dicken Lavaschicht begraben.
Professor Landes nimmt den Jungen in den Arm, wendet sich erschüttert ab und setzt seinen Weg nach Le Morne Rouge fort. Dort mietet er eine Kutsche und fährt nach St. Joseph. Erleichtert wird er von Manoulis Familie auf seinem Landsitz empfangen.
Die Nachricht vom Untergang der Hafenstadt St. Pierre ist bereits bis dorthin durchgedrungen.
"Und sonst?", fragt Professor Landes und zieht an seiner Pfeife.
"In St. Pierre soll es nur zwei Überlebende gegeben haben: Ein Gefangener, der unter dem Gewölbe seiner Gefängniszelle geschützt war, und ein Schumacher."
"40.000 Menschenleben", sagt Professor Landes nachdenklich in die Abendstille hinein.
Alle drei schweigen wieder, nur das Zirpen der Grillen ist zu hören.
"Und der Gouverneur?" Manouli blickt die Erwachsenen fragend an.
Der Berg gibt keine Ruhe. Am 20. und 26. Mai, am 6. und 9. Juli sowie am 30. August des gleichen Jahres wälzen sich ähnliche Glutwolken vom Vulkan herab, bei dem etwa 4000 Menschen des Städtchens Le Morne Rouge den Tod finden.