Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Juni 2003
Die Enttäuschung
von Karl-Heinz Ganser


“Opa, was sind eigentlich Katastrophen?” fragte mich am Abend meine fünfjährige Enkeltochter Ursula, nachdem ich ihr vor dem Einschlafen, wie immer, eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte.
Ich sah sie völlig überrascht an. Die Geschichte war ein lustiges Märchen gewesen und hatte mit einer Katastrophe überhaupt nichts zu tun. Wie kam das Kind ausgerechnet jetzt auf einen solchen Gedanken?
“Aber Uschi, wie kommst du denn auf so eine Frage?” erkundigte ich mich und streichelte ihr liebevoll über die langen, blonden Locken.
Ursula setzte sich kerzengerade im Bett auf. “Sagst du mir jetzt, was Katastrophen sind?” wiederholte sie die Frage und sah mich erwartungsvoll an.
“Ja, weißt du ... “ Ich überlegte krampfhaft wie ich ihr das Wort erklären sollte.
“Weißt du, wenn zum Beispiel irgendwo ein Erdbeben gewesen ist, dann sind meistens viele Häuser kaputt und viele Menschen tot. Das nennt man eine Katastrophe, weil es für die Menschen die das überlebt haben, so schrecklich so ist.”
Meine Enkeltochter legte sich hin und schien zu überlegen. Dann schaute sie mich plötzlich ganz ernst an und fragte: “Ist Papa auch eine Katastrophe?”
“Wie kommst du ... wie kommst du denn darauf?” stotterte ich total verwirrt über diese Frage.
“Das hast du gestern zu Mama gesagt!” sagte sie wie aus der Pistole geschossen.
“Hast du etwa gelauscht?” fragte ich und sofort wurde mir klar, warum sie wissen wollte, was Katastrophen sind.
Ursula drehte sich abrupt herum und zog sich die Decke über den Kopf.
In diesem Augenblick kam, wie jeden Abend ihre Mutter herein um ihr den Gute-Nacht-Kuss zu geben. Mütter haben ein besonders gutes Gespür dafür, in Sekundenschnelle zu erfassen, dass etwas anders ist, als sonst.
“Was ist denn hier los?” fragte sie mich deshalb auch sofort.
“Brigitte ...” begann ich zögernd, “deine Tochter hat gestern unser Gespräch mitbekommen, als ich gesagt habe, dein Mann sei eine ...”
In diesem Moment sprang Ursula aus dem Bett, schrie ganz laut: “Katastrophe hat er gesagt!” und stürzte weinend in die Arme ihrer Mutter.
“Opa hat das nicht so gemeint”, flüsterte sie ihrer Tochter beruhigend ins Ohr und drückte sie ganz fest an sich. Dann sah sie mich wütend an und zischte: “Vater, geh jetzt raus!”
Wie einer, dem man einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet hat, stürzte ich raus. Ich rannte in mein Zimmer ins Obergeschoss und ließ mich mit einem tiefen Seufzer in den Fernsehsessel fallen.

Nachdem ich mich nach einer Weile etwas beruhigt hatte, versuchte ich, mir den gestrigen Abend noch einmal in Erinnerung zu rufen.
Seit Monaten nörgelte der Mann meiner Tochter über das Essen und machte mir Vorwürfe, dass ich gegenüber seiner Tochter zu nachsichtig sein würde. An meinem siebzigsten Geburtstag vor vier Wochen, hatte er angeblich einen wichtigen Termin und wollte nicht mit uns feiern.
Da er gestern wieder einmal angeblich länger im Büro zu tun hatte, wollte ich die Gelegenheit nutzen, um mit meiner Tochter über das Verhalten ihres Mannes zu sprechen.
Dabei hatte alles doch vor zwei Jahren so gut angefangen.
Die Idee, zu ihnen zu ziehen, war meiner Tochter gekommen, nachdem sie eine Ganztagsstelle angenommen hatte und jetzt jemand suchte, der das Kind verwahrte und den Haushalt machte.
Als Witwer der gerne kochte und gut mit dem kleinen Mädchen umgehen konnte, waren wir uns schnell einig geworden.
Ich verkaufte also mein, sowieso für mich viel zu großes Haus und fühlte mich vom ersten Tag an, recht wohl bei den jungen Leuten. Den Verkaufserlös vertraute ich selbstverständlich meinem Schwiegersohn an, denn der war ja ein erfahrener Finanzmakler.
Und jetzt hatte ich wieder eine schöne Aufgabe, die mich voll und ganz ausfüllte.

Ich war so mit diesen Gedanken beschäftigt, dass ich meine Tochter erst wahrnahm, als sie sich räusperte und sagte, ich möchte doch nach unten ins Wohnzimmer kommen.
Erstaunt war ich, dass ihr Mann auf der Couch saß und ziemlich nervös zu sein schien.
Brigitte muss ihm wohl den Kopf richtig gewaschen haben, dachte ich und war gespannt darauf, wie der Mann sein Verhalten mir gegenüber erklären würde.
“Vater! Manfred muss dir ... etwas Schlimmes sagen”, begann meine Tochter stockend das Gespräch..
Überrascht schaute ich erst sie, dann ihn an. Brigitte sah ganz blass aus und hatte tiefe, dunkle Ränder unter den Augen. Manfreds Gesicht war wie versteinert und er nippte ständig an einem halb gefüllten Cognacglas.
Plötzlich sprang er auf, stürzte an das offene Fenster und rang nach Luft.
Nach einer Weile drehte er sich ganz langsam um und wankte wie einer, den seine Füße kaum noch tragen, zum Sofa. Mit einem lauten Seufzer plumpste er in die Kissen.
“Es ist ... es ist ... alles aus ... es ist eine Katastrophe!” lallte er und presste die Hände vor das Gesicht.
“Was ist eine Katastrophe?” schrie ich ihn entgeistert an, denn mir wurde plötzlich klar, dass sich hier etwas anbahnte, was ganz schrecklich sein musste.
Manfred riss die Hände herunter und sein Gesicht wurde puterrot. Seine Stimme konnte er kaum noch unter Kontrolle halten, als er krächzte: “Ich habe dein Geld ... ja, dein ganzes Geld aus dem Hausverkauf in eine Firma angelegt, die jetzt pleite ist.”
Mit einem Satz stand ich vor ihm. “Was sagst du da?” brüllte ich ihn an. “Du hast mein ganzes Geld ...”
Ich konnte auf einmal nicht mehr weitersprechen, denn mir wurde ganz schwindelig. Ich spürte wahnsinnige Schmerzen in der Herzgegend, dann wurde es mir schwarz vor den Augen.

Als ich wieder zu mir kam, war heller Morgen und ich lag in meinem Bett. Erst allmählich nahm ich meine Tochter wahr, die mich ängstlich ansah.
“Vater!” Brigitte griff nach meiner Hand und drückte sie ganz fest. “Wie fühlst du dich?”
Ich nickte nur.
“Gott sei Dank!” meinte sie dann erleichtert.
“Der Doktor hat dir gestern Abend noch eine Spritze gegeben und er sagte, wenn du aufwachen würdest, ginge es dir wieder besser.” Brigitte versuchte zu lächeln.
Mich machte dieses gequälte Lächeln plötzlich ganz wütend. Mir wurde jetzt klar, dass ich nicht nur mein Geld, sondern auch das Vertrauen in einen Menschen verloren hatte.
“So etwas wie gestern Abend habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt”, schmollte ich und blickte meine Tochter lange an.
“Vater! Ich kann das ja gut verstehen.” Brigitte hatte Tränen in den Augen. “Wir werden dir das Geld ersetzen. Manfred verkauft sofort seinen teuren Daimler und wir werden einen Kredit aufnehmen und ...”
“Ach, um das Geld geht es doch gar nicht in erster Linie”, unterbrach ich sie schroff.
“Viel schlimmer ist jetzt, dass unser Verhältnis zu einander kaputt ist.”

© Karl-Heinz Ganser

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