Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Juni 2003
Tod einer Mutter
von Fran Henz


Deutschland, 1952

Das Licht der Stehlampe zeichnete einen harten Kreis auf seinen Schreibtisch. Die Kognakflasche stand außerhalb dieses Kreises im Dunklen. Trotzdem hatte er keine Probleme, danach zu greifen. Instinkt einerseits, andererseits war er noch relativ nüchtern. Er nahm einen tiefen Schluck und genoss die Wärme, die sich in seiner Brust ausbreitete, die aber die Kälte in ihm nicht vertreiben konnte.

Wie anders hatte er sich sein Dasein vorgestellt, als er den hypokratischen Eid schwor und sein Diplom in Empfang nahm. Leben wollte er retten, deshalb hatte er studiert, gegen alle Widerstände der Familie, gegen die Angriffe und Beleidigungen der Nazis in seiner unmittelbaren Umgebung, für die ein junger, gesunder Bursch an die Front gehörte und nicht an die Uni. Als er seine Einberufung in Händen hielt, war er zwanzig und der Krieg zu Ende, bevor er tatsächlich einrücken konnte.

Er pries sein Glück, beendete sein Studium und nahm die Stelle als Landarzt in diesem Kaff, das man auf keiner Landkarte fand, an. Nicht einmal fünf Jahre war es her, dass er voller Enthusiasmus sein Namensschild auf die Tür des kleinen, seit längerer Zeit leer stehenden Hauses nagelte.

Er nahm wieder einen Schluck.

Zuerst hatten ihm die Bewohner skeptisch gegenübergestanden, er war ein Fremder, einer aus der Stadt, und viel zu jung, um in ihren Augen eine Ahnung von dem zu haben, was er tat. Aber nachdem er sich nicht zu gut war, in Ermangelung eines Tierarztes einer Kuh beim Kalben zu helfen oder die Wunden eines Schäferhundes zu verbinden, er auch mitten in der Nacht gerufen werden konnte und als Honorar Eier, Hühner, Schinken und Kartoffeln akzeptierte, akzeptierte man ihn ebenfalls, zumindest nach außen hin. An diese kurzen, glücklichen Momente versuchte er sich zu erinnern, wenn Kälte und Dunkelheit wieder über ihm zusammenschlugen.

Die Frau, die damals vor ihm gesessen hatte, gehörte nicht zu denen aus dem Dorf. Sie kam zu ihm, weil er ihre einzige Hoffnung war, aber das begriff er nicht. Fünf Kinder hatte sie bereits geboren. Zwei von ihnen waren für Volk und Vaterland gefallen, die beiden Jüngsten, sechsjährige Zwillingsmädchen, spielten vor der Praxis mit seinem Hund.

Er lächelte, als er ihr das Ergebnis der Untersuchung mitteilte, er freute sich immer darüber, einer Frau sagen zu können, dass sie ein Kind erwartete, aber in diesem Fall ganz besonders. Nichts hatte ihn darauf vorbereitet, dass sie nicht vor Freude strahlen würde. Er redete weiter, von Schonung, gesunder Ernährung, und fischte eine Packung Eisentabletten aus seiner Schreibtischschublade.

Sie drehte die Schachtel zwischen den Fingern und schwieg. Als sie zu sprechen anfing, war ihre Stimme nahezu unhörbar. „Gibt es ... eine ... eine andere ... Möglichkeit ... ich bin doch schon fast fünfundvierzig … zu alt …“

Die Worte hingen zwischen ihnen in der Luft und er verstand, was sie von ihm wollte. In seiner Betroffenheit flüchtete er sich in moralische Floskeln, verbarg seine Unsicherheit hinter Entrüstung.

Mit gesenktem Kopf stand sie auf und ging zur Tür ohne sich umzudrehen, ohne ein weiteres Wort. Zwei Wochen später sah er sie wieder.

Sie lag auf einem Küchentisch, der abgetragene Kittel war bis unter ihre Brust hochgeschoben, der Unterleib entblößt. Es stank nach Blut und Armut und Tod, aber nicht nach Desinfektionsmitteln. Natürlich kam er zu spät. Er konnte nichts weiter tun, als den Totenschein ausstellen und den Kittel nach unten ziehen.

An diesem Abend betrank er sich zum ersten Mal.

Nach dem Begräbnis, bei dem er die beiden kleinen Mädchen in ihren Sonntagskleidchen am Grab stehen sah, zum zweiten Mal.


Es handelte sich nur eine Frage der Zeit, bis wieder eine Frau vor Schreck erstarrt vor ihm saß und dieses Mal wollte er alles richtig machen.

Sie war die Erste, aber sie blieb nicht die Einzige. Wieder hatte er die Dynamik, die gewisse Dinge bekommen konnten, unterschätzt. Unter der Hand sprach es sich wie ein Lauffeuer herum, dass es da einen Arzt gab, der bereit war, zu helfen. Nicht gratis, aber er arbeitete sauber, verwendete Betäubungsmittel und gab seinen Kundinnen einen Streifen Schmerztabletten für nachher mit. Zwar garantierte er nicht für die Möglichkeit späterer Schwangerschaften, schloss sie aber auch nicht aus.

Er leerte die Flasche und nahm eine weitere aus der untersten Lade seines Schreibtisches. Vor ihm lagen die Abrechnungen des letzten Monats. Gemessen an den Umständen war er reich und dieses Wissen erfüllte ihn mit Ekel. Blutgeld. Nichts anderes war es in seinen Augen, Blutgeld für einen Mörder. Und daran konnte niemand etwas ändern, auch nicht die Frauen, die ihm dankbar die Hand schüttelten. Jene Hand, die noch Minuten vorher die scharfkantige Curette in ihrem Leib geführt hatte.

Gewiss, er spendete viel von dem Geld und der Rest, den er behielt machte es möglich, auf Honorare anderer Patienten zu verzichten. Oh ja, er fand genug Gründe für sein Gewissen, immer mehr, je tiefer der Spiegel der Kognakflasche sank. Genug, um weiterzumachen, um dreimal im Monat einen Tag lang nichts anderes zu tun, als einen Eimer mit Blut, Schleim und Föten zu füllen.

Sein Kopf fiel auf die Schreibtischplatte. Er war noch immer nicht betrunken genug. Er sah sie noch immer auf dem Küchentisch liegen. Er spürte noch immer, wie sich die kleinen Hände seiner beiden Schwestern an seine klammerten, während sie gemeinsam in das offene Grab starrten.

„Warum Mutter, sag mir doch warum …“

© Fran Henz


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