Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Juni 2003
Tatort Allgäu: Katastrophen versauen einem den ganzen Tag
von Josef Th. Thanner


Viele Leute bringen mit dem Wort »Katastrophe« Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Schiffsuntergänge in Verbindung. Manche sogar Kriege.
Alois Wehmair nicht.
Was er unter Katastrophe verstand, nahm am 23. Juni bei 37 Grad Celsius seinen Lauf.
Das wenige, was ich von ihm wusste, war, dass er Versicherungskaufmann war und mit seiner Frau Edda und zwei Kindern in einem Einfamilienhaus am Rande der Prinsenweide von Burgdorf wohnte. (Übrigens trug Burgdorf völlig zu unrecht den Namen ›...dorf‹, denn schon damals hatte es über 18.000 Einwohner.) Wehmair hatte das Häuschen auf Betreiben seiner Frau, die das Paradies auf Erden wollte, gekauft und dafür seine Lebensversicherung beliehen. Schnurstracks war er von ihr dazu verdonnert worden, sämtliche Hobbys zu streichen und statt dessen neben seinem Beruf dreißig Stunden monatlich auf die Pflege von Garten und Rasen zu verwenden, während Edda und die Kinder sich in der zweieinhalb Kilometer entfernt gelegenen Badeanstalt vergnügten.
Ich kannte Wehmair schon seit einigen Jahren, er war ein regelmäßiger Besucher der Würstchenbude, in der ich während meines Volontariats meinen Sparstrumpf auffüllte, und wir hatten kein besonders gutes Verhältnis zueinander, aber auch kein besonders schlechtes, und so kam es wohl, dass er an diesem Tag zu mir kam, um seinen Gefühlen Luft zu machen. Es war, wie gesagt, der 23. Juni, ein Tag, an dem wohl jeder verrückt werden würde, wenn er bei 37 Grad Celsius im Schatten hinter der Grillplatte stand und Würstchen wenden musste.
»Hast du ein bisschen Zeit?«, fragte er mich.
An sich hätte er selbst sehen können, dass zur Zeit keine Kunden vor der Bude standen, und ich die Würstchen sinnloserweise auf dem Rost wendete, ich also Zeit hatte.
»Nein, Alois«, erwiderte ich wenig sensibel, »ich möchte keine Versicherung abschließen.«
»Ach... darum geht es nicht, Josef.«
Ich horchte auf. Das »Ach« war wie ein Stoßseufzer ausgestoßen worden, mit viel herausgepresster Luft. Seine dichten Augenbrauen standen auf Trauerstellung.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte ich versöhnlich.
»Es geht um Edda...« Seine Stimme war nur noch ein Lufthauch.
Meine Güte, dachte ich, in was werde ich jetzt hinein gezogen?
»Ich... hab’s getan«, versetzte er tonlos.
»Was?«, fragte ich – bereits unruhig – und versuchte, nicht zuviel Neugier durchklingen zu lassen.
»Ich hab’ die Klinke unter Starkstrom gesetzt. Wenn sie um fünf mit den Kleinen von der Badeanstalt kommt, geht sie hops.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben.
»Wie bitte?«
Er wiederholte den Satz jedoch nicht, sah mich nur an. Von unten stiege mir heiße Fettdämpfe in die Nase und ich fragte:
»Du... du willst sie umbringen?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Was soll das heißen?«, drängte ich.
»Sie hat einen anderen.«
»Meine Güte, und deshalb willst du... Bist du dir da auch ganz sicher?«
Er nickte schwerfällig.
»Ich mein, ganz, ganz sicher. Völlig sicher.«
»Ja, verdammt, ich bin mir sicher.« Jetzt brandete es in ihm hoch. »Ich hab’ sie zusammen gesehen. Sie sind Hand in Hand über die Badewiese flaniert, während die Kinder im Wasser schwammen oder am Kiosk Eis kauften. Ich habe sie gesehen.«
»Es könnte trotzdem eine Verwechslung vorliegen. Ein Irrtum. Irgend ein Missverständnis.«
»Sie haben sich geküsst. Sie haben sich in den Schatten dieser Pappel zurückgezogen, die auf dem Badegrund herumsteht, haben sich umgesehen, und dann haben sie sich geküsst. Und begrapscht.«
»Und woher weißt du das alles, Alois?«
»Ich wollte Edda überraschen. Ich war fertig mit der Gartenarbeit, hatte auch keine Termine, da hab’ ich mein Badezeug gepackt und bin mit dem Auto losgefahren – nur um sie dann zu erwischen.«
»Aber es könnte doch auch...«
»Nein, es könnte nichts, Josef. Ich weiß, dass sie es war, ich weiß, dass sie es getan hat. Ich kenne sogar den Kerl. Ein widerlicher Pizzafahrer, dieser Rocco von Carlo’s Pizzaservice.«
»Aber hör’ mal, Alois, trotz allem kannst du sie nicht einfach umbringen!«
Er schwieg verbissen, also fuhr ich fort.
»Natürlich, es ist nicht fair, wie sie dir gegenüber handelt. Aber sie ist ein Mensch. Wenn du sie umbringst, nennt man das Mord. Du wirst eingekastelt, dann ist dein Leben wirklich verbaut.«
»Verbaut? Pah!« Seine Augen sprühten das Ungesagte: Du meinst, noch mehr verbaut als jetzt?
»Hör’ mal, Alois, es ist nie eine Lösung, jemanden umzubringen.«
»Für mich vielleicht schon«, erwiderte er spitz.
»He, jetzt überleg’ mal: Wenn sie nach Hause kommen, und Nicki oder Bärli greifen zuerst an die Klinke, dann hast du eine deiner eigenen Töchter umgebracht.« Ich verwendete absichtlich die Kosenamen seiner Töchter Nicole und Petra.
»Ein Pizzafahrer!« Wehmair war in sich zusammengesackt und starrte müde vor sich hin.
»Wann hast du gesagt, kommen sie heim? Um fünf? Du hast noch eine halbe Stunde, das Kabel wieder wegzumachen. Beeil’ dich, Mensch! Du willst doch nicht deine Töchter umbringen, Mann!«
»Nein...«, heulte er, »natürlich nicht.«
»Na also.«
»Aber sie! Sie!«
»Du kannst dich später mit deiner Frau streiten, Alois. Geh’ zuerst nach Hause und baue die Todesfalle ab. Von mir aus komm danach wieder, du kannst meinetwegen bei mir schlafen heut’ nacht. Aber bau das Ding ab!«
»Ja...«, erwiderte er lahm, und dann nochmals, kräftiger: »Ja. Ja!«
Er wandte sich ruckartig um und stapfte davon. Er hatte einen Entschluss gefasst. Er war wohl nur zu mir gekommen, um sich selbst darüber klar zu werden, was er tun wollte. Ob er das, was er getan hatte, auch wirklich durchziehen wollte.
Was sollte ich tun? Konnte ich ihm vertrauen, dass er zurück ging und die Todesfalle abmontierte? Oder sollte ich sicherheitshalber die Polizei rufen, damit nichts passiert? Und ihn damit in noch mehr Schwierigkeiten bringen? Ich war hin- und hergerissen, und ich merkte, wie mir der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Irgendwie hatte ich dann auch noch ein schlechtes Gewissen, dass ich bei Wehmair nie eine Versicherung abgeschlossen hatte. Als ob das irgend etwas geändert hätte, als ob dadurch irgend etwas anders gekommen wäre... Aber in diesem Moment dachte ich so.
Nein – auch ich entschied mich, und zwar dafür, nicht die Polizei zu rufen, nicht ihm nachzuschleichen, um zu sehen, was er macht. Ich vertraute auf die Namen, die ich verwendet hatte: Nicki und Bärli. Er wusste, er würde seine Töchter in Lebensgefahr bringen, wenn er die Todesfalle nicht abmontierte. Das würde er nicht wollen.
Er kam nicht wieder an diesem Tag, und er übernachtete nie bei mir, obwohl ich es ihm angeboten hatte. Wo er in dieser und den folgenden Nächten untergekommen war, weiß ich nicht, ich schätze, nicht Zuhause. Später hörte ich von einem Bekannten, dass die Wehmairs in Scheidung lebten. Sie sei mit einem Pizzafahrer durchgebrannt und hätte die Kinder mitgenommen. Von einem Mordanschlag mittels Starkstrom las ich nie in der Zeitung, auch nicht von einem Selbstmordversuch, also hatte er die Falle abmontiert, obwohl ich noch einige Tage voller Unruhe verbracht hatte. Aber wahrscheinlich nicht so unruhig wie Alois Wehmair.
Ich fragte mich später einige Male, warum er an jenem Tag gerade zu mir gekommen war, um diese Sache zu diskutieren, und kam zu dem Schluss, dass er jemanden brauchte, der verfügbar war und ihm die Sache ausredete, und er in mir denjenigen gesehen hatte.
Viele Leute bringen mit dem Wort »Katastrophe« Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Schiffsuntergänge in Verbindung. Manche sogar Kriege.
Alois Wehmair nicht.
Sein Schiff der Liebe war untergegangen. Sein Vulkan der Eifersucht war ausgebrochen. Sein Leben wurde erschüttert und geriet völlig aus den Fugen, er stand vor Trümmern. Was folgte, war der Krieg hasserfüllter Herzen um Sorgerecht und Unterhalt.

ENDE

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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