Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Juni 2003
Blauschwarze Wolken
von Ines Haberkorn


José spürte das Unheil, auch wenn er jeden Gedanken daran verdrängte. Er spürte es schon seit dem Morgen, seit sich mit den ersten Sonnenstrahlen diese unerträgliche Schwüle über den Horizont gewälzt hatte. Bereits um acht Uhr hatte das Außenthermometer 27 Grad angezeigt, und inzwischen, neun Stunden später, war es auf 36 Grad geklettert, und im Haus war es nicht viel kühler. Nur bewegte hier drinnen ein Ventilator die Luft. Wogegen sie draußen stand wie eine unsichtbare Mauer.

Obwohl José wusste, dass es nicht nur sinnlos, sondern unsinnig war die Terrassentür zu öffnen, tat er es. Aber er musste es tun, er musste einfach irgendetwas tun. Die stickige Luft von draußen verschlug ihm den Atem, ließ sofort jede seiner Bewegungen ersterben, so wie alles um ihn herum erstorben schien, in staubiger Apathie versunken. Nichts regte sich, nicht der kleinste Luftzug. Doch halt. Hörte er da nicht Schritte? Nackte Füße auf harten Fliesen?

José drehte sich um. Tatsächlich, Mara stand hinter ihm, mit nicht mehr als einem dieser Tangas bekleidet, in jeder Hand ein Stück Stoff, links in Rot, rechts in Weiß.
“Welches soll ich anziehen? Das rote oder das weiße Kleid?”, fragte sie und hielt ihm mit skep-tischer Miene die Auswahlobjekte entgegen.
“Das Rote.”
“Und warum nicht das Weiße?”
“Weil ...” Tja, warum eigentlich nicht das Weiße? Er hatte spontan geantwortet, nicht lange nachgedacht. Rot gefiel ihm einfach besser als weiß, und an ihr am allerbesten.
“Weil du in dem roten Kleid sexy aussiehst, verdammt sexy sogar.”
Ohne ein Wort zu erwidern, drückte Mara die beiden Kleider an sich und tappte zurück ins Schlafzimmer.

Aufatmend grapschte sich José die Zigaretten vom Terrassentisch und zündete sich eine an. Mara war eine Rose, nicht ohne Dornen, doch wunderschön, die Königin der Blumen, an deren Seite er zum König avancierte. Man schaute ihnen nach, bewunderte sie und beneidete ihn.

Von Ferne grollte leise ein Donner und José blickte misstrauisch auf. Von Norden quollen Wolken über die Sierra, blauschwarz mit einem gelblichen Schimmer. Das sah nicht gut aus.

“Was hast du eigentlich gegen das weiße Kleid?”
Maras Stimme erschreckte José, riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte sie nicht kommen hören, drehte sich überrascht um und starrte sie an. Sie trug das weiße Kleid, hielt das Rote in der Hand.
“Findest du mich zu fett in dem Weißen?”
“Fett? Du bist gertenschlank.”
“Du lügst. Dein Blick eben hat Bände gesprochen.” Wütend schwenkte sie das rote Kleid vor Josés Gesicht wie der Matador seine Muleta vor dem Stier. “Du weißt genau, dass du mich nicht belügen kannst, trotzdem versuchst du es immer wieder. Sag doch einfach, dass ich in dem Weißen potthässlich aussehe.”
“Mara, Schatz, du siehst nicht hässlich aus. Dein blondes Haar und das weiße Kleid ... Du siehst aus wie ein Engel. Und wenn es dir besser gefällt als das Rote, dann zieh das Weiße an.”
Mara runzelte unwillig die Augenbrauen, wedelte noch einmal mit dem Roten und trollte sich zurück ins Schlafzimmer.

Gierig saugte José an seiner Zigarette, stippte die Asche auf die Terrasse und spähte erneut in den Himmel. Trotz Windstille schob sich die Front unaufhaltsam näher. Die Schwüle lastete inzwischen schwer wie Blei auf seinen Schultern, so als ob sie ihn auspressen wollte wie eine reife Orange. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, drückte die Zigarette im Pflanzkübel neben der Terrassentür aus und trottete ins Haus zurück. Dort erwartete ihn Mara. Sie trug jetzt das rote Kleid und schwenkte das Weiße wie eine Parlamentärsflagge.

“Ich sehe scheußlich aus in dem weißen Kleid, wie eine vergammelte, alte Mumie. Und du hättest mich noch so unter die Leute geschickt.”
“Schatz, du sahst doch nicht scheußlich aus. Ich fand dich zauberhaft in dem weißen Kleid.”
Mara holte die Flagge ein. “Ach, und was hast du jetzt auf einmal gegen das Rote? Ich habe mir extra die Nägel passend lackiert, und jetzt steht dir das Rote nicht mehr an?” Das weiße Kleid flatterte in den Sessel wie eine ausrangierte Friedenstaube, und zehn Finger, an jedem ein tadellos gefeilter, knallrot lackierter Nagel schossen José wie Pfeile entgegen.
“Doch, doch”, entgegnete er rasch und einlenkend. “Das Rote ist perfekt. Du weißt doch, dass ich das Rote ganz toll finde. Lass’ das Rote an.”
Einer der Fingerpfeile bohrte sich schmerzhaft in Josés Brust, genau in dem Moment, als draußen ein infernalischer Blitz aufflammte.
“Zieh das Rote an. Zieh das Weiße an. Zieh das Rote an”, äffte Mara mit schriller Stimme. “Könntest du mir bitte ein einziges Mal konkret sagen, was du wirklich willst?”
“Das Rote, Schatz, okay? Das Rote.”
Der Fingerpfeil bewegte sich rückwärts. Zeitgleich dröhnte ein mächtiger Donner. Danach Stille, absolute, vollkommene Stille, eine Sekunde lang, eine zweite, dann pladderten Regen und Hagel nieder und trommelten, vom Wind gepeitscht, gegen die Scheiben.

Mara schrie, und José schlug leise stöhnend die Hände vors Gesicht. Er hatte das Unheil gespürt. Er hatte es seit dem Morgen gespürt. Zusammen mit dieser unerträglichen Schwüle und seiner Idee, den Abend im Mirador zu verbringen, hatte es sich angeschlichen. Jetzt war es da, und einen Atemzug lang fühlte sich José gnadenlos den Gewalten ausgeliefert wie einer dieser vom Wind gepeitschten Regentropfen. Dann begann sich die Kraft in ihm zu regen. Er wurde sich seiner selbst bewusst, seiner Vernunft, seiner Stärke. Er war ein Mann, Fels in der Brandung, Bollwerk vor dem Sturm, der Beschützer. Mit überlegener Gelassenheit streckte er die Arme aus und schloss Mara hinein.

“Der Fingernagel wächst nach, Schatz”, sagte er mit fester und doch tröstender Stimme. “Er wächst nach, Schatz, und bis dahin liebe ich dich trotzdem.”

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