Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Juni 2003
Eiszeit
von Birgit Erwin


„Frühling“, dachte er und schnupperte. „Endlich!“
Er war fast sicher, dass es Frühling war, den er roch. Oder war es nur die eigene Hoffnung, die ihm in die Nase stieg: Die Hoffnung, endlich nicht mehr zu frieren?
„Ein Hauch von Frühling“, murmelte er. „Ein Duft von Frühling… verdammt, ein Duft von Kohlsuppe wäre mir lieber! Ein leises Kitzeln der Sinne… ein… ach zum Teufel!“
Er schleuderte die klecksende Feder zur Seite und vergrub das Gesicht in den klammen Händen.
„William!“
Er schreckte hoch. Durch die geschlossene Türe hatte er Kempes Stimme erkannt.
„Egal, was es ist, verschwinde!“, brüllte er und nahm den Gänsekiel wieder auf. „Ich muss bis morgen die Szene fertig haben, sonst reißt Burbage mir den Kopf ab!“
„Und, fällt dir was ein?“
„Denkste! Und überhaupt: Wie soll man bei der Scheiß-Kälte ein Liebesdrama schreiben! Meine Eier sind abgefroren“
„Tsts – für einen Dichter führst du eine üble Sprache. Wasch dir den Mund aus, ich schick dir jetzt deine Muse rauf!“
William stutzte. Rosalind hatte ihm ziemlich deutlich gemacht, was sie von armen Poeten hielt, die die Zeche nicht bezahlen konnten. Ob sie es sich anders überlegt hatte? Und er? Hatte er denn noch Lust auf ihre Spielchen?
Ohne sein Zutun begann seine Hand zu kritzeln.
„Bist du verliebt? – Ich bin’s, doch weiß ich nicht…“
„William!“
Diesmal brach die Feder endgültig ab. Er fuhr herum und starrte die Frau an wie eine Erscheinung.
„Anne“, flüsterte er und räusperte sich heftig. „Du? Hier?“
„Willst du mich nicht hereinbitten?“
„Doch natürlich. Es ist nur… ich hatte mit dir nicht gerechnet.“
„Das ist mir bewusst.“
Ihr Tonfall war trocken, aber nicht wirklich verletzt. Während sie sich aus ihrem Schal wickelte, sah sie sich um.
„Musst du so leben?“
Sie hob mit zwei Fingern einen Suppenknochen von dem einzigen freien Stuhl und betrachtete ihn kopfschüttelnd.
„Ach, Willie…“
Ihr Gesicht war gerötet von der Kälte, und es gab kein Feuer, an dem sie ihre Hände wärmen konnte.
„Willst du… dich zu mir setzen?“, fragte er unbeholfen.
Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie seiner Aufforderung nachkam. Er nahm ihre kalten Finger zwischen seine und blies ein paar scheue Küsse darauf. Wie fremd ihm diese Hände waren. Besser als alle seine Worte es gekonnt hätten, erzählten ihre Schwielen eine Geschichte von harter Arbeit, von Männerarbeit. Plötzlich empfand er ihre Hände als fleischgewordenen Vorwurf und ließ sie los. Anne schien es zu spüren. Sie spürte immer, wenn ihm etwas fehlte.
„Geht es dir gut? Hast du zu tun?“ Sie schlug einen leichten Ton an, aber da war mehr in ihrer Stimme. Er durchforschte ihr Gesicht nach Spuren von Ärger oder Kummer. Er fand keine. Oder doch?
Er wünschte plötzlich, sie besser zu kennen.
Sie war seine Frau, Herrgott!
„Ja, Anne. Es geht alles gut. Hast du mich vermisst? Es war wirklich schön mit dir in Stratford. Ich hab an dich gedacht.“
„So? Hast du das?“
William spürte, wie er rot wurde. „Sicher habe ich das.“
Sie streichelte ihm über die Wange wie einem Kind.
„William, du musst so nicht leben. Du weißt, dass ich Geld habe.“
Er fuhr zurück, als habe sie ihn geschlagen.
„Oh, ich weiß sehr gut, dass du Geld hast. Aber ich habe keins, und ich habe verdammt noch mal vor, welches zu verdienen.“
„Als Schreiberling!“
„Als… Anne, kannst du mich nicht verstehen?“
Sie wandte das Gesicht ab. „Nein“, sagte sie leise. „Nein, das kann ich nicht.“
Sie schwiegen, aber still wurde es nicht. Von unten her drangen die Geräusche der Taverne: Lachen, Schreien, dann und wann das Aufkreischen einer der Mädchen. William war es nie aufgefallen, aber als er in das Gesicht seiner Frau blickte, wünschte er, in einem besseren Quartier zu wohnen.
Er fühlte sich als Versager.
„Anne…“
„Ich bin schwanger, William.“
Sie hatte leise gesprochen. Vielleicht hatte er sich verhört „Gott“, betete er und brach ab. Er wusste nicht, worum er bitten sollte.
„Was hast du gesagt?“
Im kalten Licht der Wintersonne sah sie alt aus, alt und müde. „Ich bin schwanger, William. Und ich möchte dich bitten, mit mir zu kommen. Das Kind braucht einen Vater. Ich brauche einen Mann. Ich schaffe es einfach nicht mehr.“
Sie sah ins Leere. Eine unordentliche Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, und sie hatte Falten um den Mund, die ihm nicht aufgefallen waren, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie konnte doch unmöglich in drei Monaten Falten bekommen haben.
„Annie“, sagte er unbeholfen. „Annie, ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
Mit einem bitteren Lächeln sah sie auf. „Ich dachte, du bist Dichter. Komm schon, dir wird doch irgendeine schöne Lüge einfallen.“
Bei ihren Worten wurde ihm kalt.
„Anne, was erwartest du von mir?“
„Ich habe es dir eben gesagt. Komm nach Hause. Will, du bist kein kleiner Junge mehr, der Träumen nachjagt.“
„Ja…ja, du hast Recht. Ich werde kommen, natürlich. Wenn das Stück fertig ist. Dann sage ich Burbage…“
„Was willst du ihm sagen? Will, ich habe deine Ausflüchte satt. Noch ein Stück und noch eins. Wie oft hatten wir diese Unterhaltung schon? Ich erwarte ja nicht, dass du dich über das Kind freust, das du mir gemacht hast. Das ist offenbar zu viel verlangt. Aber ich verlange, dass du nach Hause kommst und die Verantwortung übernimmst. Sonst…“
„Ja, Anne?“ Er wusste nicht, wo er die Ruhe hernahm. Seine Stimme zitterte kaum.
Aber ihr Ärger war bereits verpufft. Sie hob die Schultern. „Ich weiß es nicht. Nichts wahrscheinlich. Was soll ich schon tun? Will, was hält dich hier?“
Er schwieg. Er konnte es ihr nicht erklären. Manchmal wusste er es selber nicht mehr. Sein Blick schweifte durch das Zimmer und kehrte zu dem Gesicht seiner Frau zurück.
„Ich werde Burbage sagen, dass ich nach Stratford gehe“, sagte er tonlos.
„Wann?“, flüsterte Anne. „Wann, William?“
„Ist morgen früh genug?“
„William Shakespeare, du bist ein guter Mann.“
Er erwiderte ihre Umarmung steif. Ãœber ihre Schulter hinweg streifte sein Blick den Schreibtisch, den kalten Ofen, das harte Bett. Es war wirklich nicht viel.
„Leg dich hin, Anne. Ruh dich aus. In deinem Zustand.“
Willig ließ sie sich von ihm zum Bett führen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er von jetzt ab für sie sorgen würde. Er würde Vater. Die Kälte breitete sich aus.
„Schlaf gut.“
Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Burbage“, dachte er dabei. „Er wird nicht glücklich sein. Aber es gibt viele Schreiber. Zu viele. Es hätte sowieso keinen Sinn gehabt.“
„William?“
„Ja, Liebes?“
„Wohin gehst du?“
„Nach unten. Ich muss noch kurz Abschied nehmen.“
Und mich betrinken, dachte er, aber das sprach er nicht aus. Er hörte, wie sie sich mit einem müden Seufzer in die Kissen kuschelte. Es war eiskalt im Zimmer. Ihm fiel das nie auf, wenn er schrieb, aber Anne war eine schwangere Frau. Er sah in den Kasten. Kein Holz mehr, natürlich. Wieder streifte sein Blick den Schreibtisch. Der Anblick durchfuhr ihn wie ein körperlicher Schmerz.
„Nein! Nein, ich kann nicht! Nicht das!“
Anne hustete leise im Schlaf. Verantwortung, Will, dachte er dumpf. Diese Frau trug vielleicht seinen Sohn in ihrem Bauch.
Mit steifen Fingern begann er, das Papier in Streifen zu reißen. Hier und da sprangen ihm einzelne Worte in die Augen. Sie sprachen zu ihm; es waren seine Worte. Ein Funken glühte auf. Nie in seinem Leben war William so kalt gewesen.
Stumm sah er zu, wie das Papier Feuer fing. Romeo und Julia. Es hatte eine Liebestragödie werden sollen.
Aber es war zu kalt für Liebe.



Nachwort: Keine Sorge, Romeo und Julia wurde wirklich geschrieben und zwar von Shakespeare höchstpersönlich – die hier geschilderte Katastrophe ist gnädig an der Welt vorbeigegangen. Annes Versuch, Shakespeare nach Stratford zu holen, ist rein fiktiv. Wahr ist, dass sie die gemeinsamen Kinder weitgehend ohne ihren Mann in Stratford aufzog. Übrigens: Shakespeares erstes Kind wurde eine Tochter.

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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