Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Juni 2003
Ein Sonntagsausflug
von Katja Nathalie Obring


„... und bitte beachten sie besonders die Unwetterwarnungen für ihr Region. Hören sie nun ...“
Klick. Das Radio ist aus, der Picknickkorb verladen im Fonds des Familienautos, und nun fehlt nur noch Tochter Katharina. Unter dem Küchentisch ist sie nicht, im Wohnzimmer auch nicht, dahinten, hinter den Rosenbüschen, da hockt sie. Papa geht hin und nimmt sie beim Arm, schüttelt sie. Sie weint und nickt. Mama steht an der Terrassentür und sieht zu. Sie will endlich los, sie will zum Fest, will essen, trinken und tanzen. Papa hat Katharina auf die Schultern genommen, und sie lacht schon wieder. Ein Kind wie Maiwetter, sagte die Oma immer.
Auf der Fahrt zur großen Wiese, hinten beim Bauer Mürlingshofen, singen sie. Mama ist glücklich, endlich mal was anderes, endlich mal raus aus dem Reihenhaus, dem nachmittäglichen Plausch mit den Nachbarinnen. Mittlerweile kennt sie alle Kuchenrezepte auswendig, und die meisten sind nicht so gut wie ihre, aber zum alljährlichen gemeinsamen Grillfest backt sie trotzdem einen danach, der Nachbarin zuliebe. Eine gute Nachbarschaft ist wichtig, sagt Papa immer. Wenn mal was passiert ... was soll denn passieren? Man weiß nie, Mama, man weiß nie.
Papa ist Soldat. Da könnte schon mal was passieren. Aber nicht hier in Deutschland. Nur, wenn er in den Auslandseinsatz müsste. Obwohl hier, Deutschland, für ihn, den Briten, ja eigentlich auch Ausland ist. Aber er ist seit zehn Jahren hier, acht davon verheiratet, da kommt es einem nicht mehr wie Ausland vor.
Endlich haben sie die große Wiese erreicht. Zelte sind darauf aufgebaut, und es gibt eine mit Strohballen abgegrenzte Bahn, da werden nachher Rennen gefahren. Die Sonne scheint, und Mama hat Durst. Papa auch. Katharina will nicht in die Krabbelgruppe. Mama zuckt die Achseln, vielleicht später, dann komm halt erst mit uns. Sie gehen zum Bierzelt, kaufen zwei Becher. Ist ja nichts drin, also noch zwei. Katharina quengelt, hier ist langweilig. Papa guckt Mama an, mit diesem Blick. Sie kaufen noch zwei Becher und gehen nach draußen. Um das Zelt herum, und da ist er, die Attraktion des Festes: der Fesselballon. Daneben Tony, der Ballonflieger und Kumpel von Papa. Sie winken, dann schlendern sie rüber. Katharina staunt, sowas hat sie noch nie gesehen. Ein riesiger, bunter Ballon, rot und blau. Unten dran ein Korb, und ganz viele Seile. Katharina zieht Papa an der Hose, der wuschelt ihr durchs Haar und redet weiter mit Tony. Mama ist verschwunden.
„... vielleicht nachher einen kleinen Rundflug, aber,“ Tony weist auf den Himmmel, „ich will erst mal das Gewitter durchziehen lassen.“
Katharina guckt zum Himmel, sie hat nämlich Angst vor Gewittern, aber da sind nur ein paar Wolken, kein Blitz, kein Donner. Erwachsene, immer so ein Trara für nichts. Sie fasst das dicke Seil mit der linken Hand und rennt los. Weil sie nicht loslässt, rennt sie im Kreis um den Hering. Papa dreht sich um und hält sie fest. Er kitzelt ihr zwischen den Rippen, und sie muss lachen, obwohl sie nicht will. So doll, dass sie gar keine Luft mehr kriegt und sich zusammenbiegt wie ein Klappstuhl. Endlich hört er auf. Mama ist zurückgekommen und hat noch ein Bier gebracht.
Katharina kann den Geruch von Bier nicht leiden, aber Papa ist dann immer viel lustiger. Mama weint manchmal, wenn sie so riecht, aber dann kommt Papa und tröstet sie, und schließlich lachen sie und schicken Katharina zum Spielen in den Garten, sogar wenn’s regnet. Es regnet jetzt auch, einzelne, fette Tropfen.
Katharina fasst wieder das Seil und rennt los, diesmal versucht sie, auf dem Weg die Tropfen mit der Zunge zu fangen. Die paar Tropfen bringen keine Abkühlung. Papa sagt was, und Mama und Tony nicken. Ein plötzlicher Windstoß lässt das Seil unter ihrer Hand erzittern. Papa guckt besorgt zum Himmel, Tony klopft ihm auf die Schulter und auf einmal geht alles sehr schnell. Es fängt an zu hageln, riesige, dicke Eisgeschosse trommeln auf sie herunter. Der Ballon ruckt unwillig an der Leine, das Seil zittert wieder. Katharina hängt sich daran und versucht festzuhalten. Eine weitere Böe drückt den Ballon auf den Boden, das Seil wird schlaff unter Katharinas Hand. Mama packt die kleine Geldkassette, die Tony als Kasse dient (‚10 Minuten 20,- Euro’ steht auf dem selbstgemalten Schild) und klemmt sie unter den Arm. Ein Donner, so laut wie Geschützfeuer, kracht los.
Katharina erstarrt. Jetzt hat sie Angst. Weiter vorn fliegt ein Sonnenschirm vorbei. Mama ist einige Meter entfernt und streckt die Hand nach Katharina aus, aber die kann sich vor Angst nicht bewegen. Papa und Tony hämmern die Pflöcke tiefer in den Boden, nun prasselt der Regen in einer dichten Wand herunter und der Boden weicht langsam auf.
Der Wind wird immer stärker, ein weiterer Donner brüllt über das Feld, Mama streckt noch immer die Hand aus, Katharina will einen Schritt auf sie zu machen, aber ihre Beine gehorchen ihr nicht. Das Seil in ihrer Hand hängt schlaff auf beiden Seiten herunter, Papa kommt angelaufen und hebt den Hammer. In diesem Moment stöhnt das große Bierzelt auf und schüttelt sich. Papa wird abgelenkt und guckt rüber, befürchtet, es wird wegfliegen. Das Seil in Katharinas Hand ruckt einmal, wird wieder schlaff, ruckt erneut, und plötzlich ist da kein Boden mehr unter ihren Füßen. Sie schreit, aber der Wind und der Hagel sind so laut, dass keiner sie hört. Mama guckt auf Papa, der auf das Bierzelt, nur Tony guckt auf seinen Ballon, aber sie sieht er nicht. Der Ballon verharrt einige Sekunden wie unschlüssig, dann reißt ein Fallwind ihn endgültig los und er schießt davon wie ein Falke.
Katharina kreischt und kreischt, ihr tut schon der Hals weh, und der Arm, um den sich umbarmherzig das Seil gewickelt hat, aber keiner kommmt, um sie zu holen. Die Wiese wird kleiner unter ihr, längst kann sie Papa und Mama nicht mehr erkennen, der Regen erschwert die Sicht. Der Ballon wird vom Wind mal hierhin, mal dorthin gerissen und taumelt wie betrunken durch die vorhangdichten Regenschleier.
Katharina ist kalt, aber immerhin tut der Arm nicht mehr weh, den merkt sie nämlich gar nicht mehr. Nur die Schulter, die hat vorhin so komisch geknackt, schmerzt ganz furchtbar. Es wird immer kälter, der Ballon rast vor dem Sturm dahin, auf den großen Wald zu. Über dem Wald scheint die Sonne, und Katharina guckt in das helle Licht. Da steht jemand und winkt ihr zu. Obwohl das gar nicht geht winkt Katharina zurück. Ihr ist egal, ob das wahr sein kann oder nicht. Sie will nur irgendwo ankommen, wo der Ballon seinen Griff um ihren Arm lockert. Das ist nun der Fall. Langsam und von ihr unbemerkt war sie am Seil heruntergerutscht, wo nun alles wieder sehr schnell geht. Ihr schießt das Seilende unter der Achsel durch, der Arm ist frei, die Schulter entlastet, und sie sieht nur noch die Gestalt in der Sonne. Das kann doch nicht Oma sein?
„Außer Sachschäden in Millionenhöhe ist auch der tragische Tod eines kleinen Mädchens zu beklagen, das von einem Fesselballon über fünfzig Kilometer weit mitgeschleppt wurde, bevor sie zu Tode stürzte. Es wird noch untersucht, wie es zu diesem Unfall kommen konnte.“

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