Aus den Fugen des Plattenweges wucherten roter Mohn, blauer Storchschnabel und weiĂe Margeriten. Ganz Angeln war wieder ĂŒbersĂ€t mit Blumen in Schleswig-Holsteins Landesfarben. Was er auch tat - ausreiĂen, eindĂ€mmen, auf Beete begrenzen - sie quollen lustig aus allen Ritzen.
Gerhard Linde verschloss die TĂŒr seines KellerbĂŒros und umrundete das Haus. Manchmal kam er sich vor wie ein MarathonlĂ€ufer, der fĂŒrchtet, seine KrĂ€fte könnten ihn vorzeitig verlassen. Gerade hatte er die letzten PĂ€ckchen fĂŒr seine Kunden gepackt. Jetzt musste er sich schleunigst um das Mittagessen kĂŒmmern. Tess kam bald aus der Schule.
Seit einiger Zeit quĂ€lte ihn Unruhe. An einem Mittwochabend, als er Tess in der Seelsorgstunde der katholischen Kirchengemeinde âSt. Ansgarâ in Flensburg wĂ€hnte, hatte das Telefon geklingelt. Der Pfarrer war am Apparat.
âWir vermissen Ihre liebe Tochter schmerzlich..."
âJa, ist sie denn nicht bei Ihnen?"
âEben nicht, Herr Linde, eben nicht!"
Nach einigen Anrufen bei Schulfreunden wuĂte er, wo sie steckte. In der Diskothek âTowerâ im Hafenviertel. Ausgerechnet! Seit kurzem war der âTowerâ in den Schlagzeilen. Der TĂŒrsteher, ehemaliger ZuhĂ€lter eines Hamburger Baby-Strichs und wegen Drogenhandels vorbestraft, hatte einem zwanzigjĂ€hrigen TĂŒrken den Zugang verwehrt und ihn dabei erschossen.
Da hatte Gerhard Linde nun sein ganzes frĂŒheres Leben aufgegeben und war von DĂŒsseldorf hierher in den Norden aufs Land gezogen, um seine Tochter vor schrecklichen Bedrohungen zu bewahren, und nun das! Nirgendwo konnte man mehr sicher sein. UnlĂ€ngst buddelte die Drogenfahndung eine gröĂere Menge Rauschgift unten am Strand von Westerholz aus. Einige hundert Meter von hier. Praktisch vor der HaustĂŒr. Nicht auszudenken, wenn Tess...
Nach der Sache mit dem âTowerâ war sie zum Pfarrer beichten gegangen, um wieder âin den Stand der Gnadeâ zu gelangen, wie sie es ausdrĂŒckte. Aber, ob das auch Besserung bedeutete?
Linde bĂŒckte sich, um die VordertĂŒr zu erreichen. Das RankgerĂŒst drohte unter der Last der Kletterrosen zusammenzubrechen. In der KĂŒche machte er sich ans KartoffelschĂ€len. Wenn er sich wenigstens eine Haushaltshilfe leisten könnte! Aber soviel warf sein Ein-Mann-Versandhandel fĂŒr Werbeartikel einfach nicht ab. Er sah durchs KĂŒchenfenster auf den Rasen, der bis zur Abbruchkante des Steilufers reichte. Nach den RegenfĂ€llen im zeitigen FrĂŒhjahr war wieder ein wenig mehr abgebröckelt... Dahinter lag die Ostsee. Heute lockte sie mit kobaltblauen, violetten und flaschengrĂŒnen Farbtönen, mit blendendweiĂen Schaumkronen und windgeblĂ€hten Segelschiffen.
Genau wie damals, als er mit Tess hier einzog, kurz nachdem ihre Mutter... Feuer und Flamme war er gewesen, als er das Angebot fĂŒr das Haus in Angeln zu Gesicht bekam. In der Immobilienabteilung der Bank, seiner damaligen Arbeitsstelle in DĂŒsseldorf, hatte es gehangen. An einem Tag wie diesem waren sie angekommen. Das Haus lag mit weiĂschimmernden WĂ€nden und schwarzem Schieferdach im Sonnenlicht, inmitten eines ĂŒppigen BlĂŒtenflors. Leuchtend gelbe Rapsfelder verströmten einen betĂ€ubenden Duft, und in der Ferne sah man das Meer. Ihr Traumhaus! Im Garten hatte Tess auf eine Nacktschnecke gezeigt: âKuck Papa, eine ARME Schnecke, die hat KEIN HĂ€uschen."
Da war sie gerade drei Jahre alt gewesen. In zwei Wochen wurde sie dreizehn... Mein Gott, er hatte ja noch gar kein Geburtstagsgeschenk fĂŒr sie!
Mitten in Gerhard Lindes Gedanken wurde die HintertĂŒr mit einem Ruck aufgerissen. Eine Prise Putz rieselte von der Decke in seinen Endiviensalat. Tess! Nanu, war der Schulbus heute frĂŒher dran als sonst?
âIch find dich ScheiĂe! So richtig scha- scha- scha- scha- scha- scha- scha- scha- ScheiĂe!" Schrecklich, diese Schlager heutzutage - oder Hits, hieĂ das ja wohl... Es rumste, etwas fiel zu Boden, schlitterte im Schwung ĂŒber den Fliesenboden und kam an der Wand zum Stehen.
âMoin, Papa!" unterbrach Tess ihren wilden Singsang und streckte den Kopf herein. âWas gibtâs Leckeres?"
Als er ins Esszimmer kam, schien mit Tess eine Verwandlung vorgegangen zu sein. Mit der steifen WĂŒrde einer Klosternovizin sprach sie das Tischgebet. Verstohlen musterte er sie. Je Ă€lter sie wurde, umso mehr glich sie ihrer sudanesischen Mutter. In der ersten Zeit hier drauĂen war er stĂ€ndig gefragt worden, ob er sie adoptiert habe. Niemand konnte sich vorstellen, wie der blĂ€ssliche, rothaarige Typ, der er war, sonst an dieses Kind gekommen sein sollte.
Die feingeschwungenen Lippen murmelten inbrĂŒnstig Gebetsformeln. Ein wenig zu inbrĂŒnstig, schien ihm. Brauen wie gotische Bögen wölbten sich ĂŒber sittsam gesenkten Lidern. Die beweglichen FlĂŒgel ihrer entzĂŒckenden kleinen Plattnase bebten ekstatisch. Das schwarze Kraushaar umstand ihr Gesicht wie ein Heiligenschein. Seine âSchwarze Madonnaâ! Aber jetzt ĂŒbertrieb sie wirklich.
Schon oft hatte er sich gefragt, was sie an diesem Mischmasch aus mittelalterlichen Riten und magischen Beschwörungsformeln so anzog. Sie war da hineingeboren worden wie er auch, nun ja... Hier waren alle evangelisch. Seinetwegen hĂ€tten sie auch konvertieren können. Doch Tess ging sogar am Aschermittwoch mit Aschekreuz auf der Stirn in die Schule! Als aber ein MitschĂŒler âNegerkuss" hinter ihr herrief, stieĂ sie ihn vor ein fahrendes Auto. Gottlob hatte der Fahrer noch bremsen können. Diese plötzliche Heftigkeit... auch darin glich sie ihrer Mutter.
âWie gehen deine GeschĂ€fte, Papa?" fragte sie jetzt im Ton einer aufmerksamen Ehefrau, immer noch mit Madonnengesicht. Irgendetwas fĂŒhrte sie im Schilde.
âEs könnte schlimmer sein. Warum fragst du?"
âNur so. - Stell dir vor, ich habâ eine Eins bekommen!"
âPrima! Und worin?"
âOrdnung und Betragen."
Daher wehte der Wind! âNa, was wĂŒnschst du dir denn zum Geburtstag?" fragte er schmunzelnd.
âOoch, eigentlich nichts." Auweia, das wĂŒrde teuer werden.
âNichts?", trieb er das Spiel weiter. "Aber du wirst dir doch irgendwas wĂŒnschen!"
âNa ja, höchstens was NĂŒtzliches."
âWas NĂŒtzliches?" Halb hoffnungsvoll, halb misstrauisch sah er sie an.
âJa, wir könnten eine Menge Geld sparen!" Ihre groĂen braunen Augen blickten unschuldsvoll. âZum Beispiel mĂŒsste ich dann nicht mehr mit dem Bus in die Schule fahren."
âAber die Schule ist zwanzig Kilometer entfernt!"
âEtwas ungeheuer Umweltfreundliches, Papa", fuhr sie fort, ohne auf seinen Einwand zu achten. Die Madonna war blitzschnell aus ihren ZĂŒgen geschwunden. Die Augen sprĂŒhten, und die Wangen waren vor Eifer gerötet.
âEigentlich ist es sogar mehr ein Geschenk fĂŒr dich. Du brauchst dann nĂ€mlich nicht mehr Rasen mĂ€hen!"
âSpann mich nicht auf die Folter!" Er war auf allerhand gefasst, aber was dann kam, warf ihn um.
âEin Pferd, Papa", sagte sie leise.
Auf dem Rasen vorm Haus sollte es stehen. NatĂŒrlich protestierte er. Wie sollte er ein Pferd bezahlen? Sein Versandhandel deckte gerade den Lebensunterhalt und die Raten fĂŒr das Haus! Um abzulenken, fragte er:
âWieso bist du heute eigentlich schon so frĂŒh hier?"
âJan hat mich im Auto mitgenommen." Jan - der Inhaber des âTowerâ! Sie vermied es, ihn anzusehen.
âTess, du hast versprochen..."
âDer Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!"
âWir können uns kein Pferd leisten", sagte er unwirscher als er wollte: âAuĂerdem wĂŒnsche ich nicht, dass du dich noch einmal von einem Jan oder sonstwem mitnehmen lĂ€sst. Ich werde mit deinem Schulleiter reden!"
Im selben Augenblick hasste er diese Bemerkung, und er hasste sich selbst. Ihre Unterlippe zitterte. Zwischen den Augen erschien dieser dicke Wulst, dessen Bedeutung er aus einem anderen vertrauten Gesicht nur zu gut kannte. Langsam, ganz langsam, fĂŒllten sich ihre Augen mit TrĂ€nen. Eine TrĂ€ne löste sich, kurvte ĂŒber eine sanft geschwungene Wange von der Farbe heller Milchschokolade und blieb am Kinn hĂ€ngen.
âDas ist nicht gerecht", schluchzte sie. âIch hab extra einen ganzen Rosenkranz gebetet und so darauf geachtet, dass ich im Stande der Gnade war!"
Panik ĂŒberkam ihn. Wie damals, vor so langer Zeit, als die gleichen TrĂ€nen in den Augen ihrer Mutter das jĂ€he Ende eines vierjĂ€hrigen gemeinsamen Lebens bedeutet hatten. Sie war in ihr Heimatland zurĂŒck gekehrt. Sollte sich nun auch seine Tochter gegen ihn kehren? Die Leute sagten, KindertrĂ€nen kĂ€men und gingen schnell. Aber wie wusste man, wann EnttĂ€uschung in Hass umschlug? Das wĂŒrde er auf keinen Fall riskieren. Und ein Pferd war vielleicht gar keine so schlechte Idee, besser als der âTowerâ auf jeden Fall! BegĂŒtigend sagte er: âIch will sehen, was sich machen lĂ€sst."
âDanke, Papa, ich wusste es!" Sie sprang auf und kĂŒsste ihn auf die Wange. âIst es nicht schön, wie einem die Muttergottes alles gibt, wenn man nur genĂŒgend betet!"
In den nĂ€chsten Tagen war er viel unterwegs. Wie zu erwarten, bedauerte der Filialleiter der Bank auĂerordentlich, Gerhard Lindes Bitte um Erhöhung seines Ăberziehungskredites um zweitausend Euro nicht nachkommen zu können. Bei zwei Milliarden hĂ€tten die Bankdirektoren wahrscheinlich âPeanutsâ gemurmelt und ihn mit Vornamen angeredet!
Die Pferde, die in der Zeitung annonciert wurden, waren entweder schwindelerregend teuer oder schon verkauft.
Reitbeteiligungen gab es auf den Reiterhöfen der Umgebung nicht. An jedem Gaul, so schien es, hing bereits eine Traube pferdebegeisterter MÀdchen in Tess Alter.
Bauer Petersen kratzte sich hinter dem Ohr, als Gerhard Linde ihn nach dem alten Klepper im Gnadenbrot fragte. Der ruhte inzwischen in den ewigen WeidegrĂŒnden.
Mutlos erstand Gerhard Linde am Abend vor Tess Geburtstag im Dorfladen fĂŒr Reiterzubehör eine Pferdeputzkiste mit BĂŒrsten, Striegel und Hufauskratzer. Was er damit wollte, wusste er selbst nicht. Als er in den Feldweg einbog, der zu ihrem Haus fĂŒhrte, hörte er in der Ferne ein helles Wiehern. Da kam ihm die Idee.
Am Geburtstagsmorgen ging er mit Tess und der Pferdeputzkiste zur groĂen Koppel. Sie lag abseits, neben der Schlucht mit der KrĂ€henkolonie. Wie letzten Sommer graste dort zwischen den KĂŒhen ein Schimmelwallach, ein feuriges Araberpferdchen. Niemand ritt das Tier, und niemandem wĂŒrde es daher auffallen, wenn Tess ihn hin und wieder mal striegelte. Das wĂŒrde ihr bestimmt reichen...
âEr heiĂt Allegro", sagte er, als sie ankamen.
âSein Maul ist wie Samt!", flĂŒsterte sie und gab dem Pferd eine Möhre. Dann schwang sie sich auf das Gatter.
âWas machst du da, Tess?", schrie er noch. Aber da saĂ sie bereits auf dem PferderĂŒcken. Ohne Sattel und Zaumzeug, die Schenkel an den schlanken Pferdeleib geschmiegt, flog sie im Galopp ĂŒber die Koppel.
Mittlerweile hatte der Mohn - kurz, aber heftig entbrannt - seine flammendroten BlĂŒten verloren, und die Clematis ihre dunkelblauen Augen geöffnet. Der Löwenzahn verwandelte sich in Pusteblumen und verflog.
Er war noch einmal davongekommen. Das Schicksal oder die Jungfrau Maria, oder wer sonst dafĂŒr verantwortlich zeichnete, hatte Gerhard Linde noch einmal einen Aufschub gewĂ€hrt. Aber fĂŒr wie lange? Und was dann? Er hatte sich erkundigt. Das Pferd gehörte einem Industriellen aus dem Ruhrgebiet, der es aus Zeitmangel verkaufen wollte.
Als die Ăpfel im Garten reiften und sich die KrĂ€hen, verstĂ€rkt durch heimatvertriebene Vettern aus Nordskandinavien, zu schwarzen Horden zusammenrotteten, hatte Gerhard Linde den âTowerâ beinahe vergessen. Bange erwartete er den Tag der Wahrheit. Und eines Tages war es so weit. Allegro war verkauft. Morgen wĂŒrden sie ihn holen kommen. Wie sollte er das Tess erklĂ€ren?
In der Nacht konnte er nicht schlafen, wanderte ruhelos durch das Haus. Als er endlich mit Tess am FrĂŒhstĂŒckstisch saĂ, fĂŒhlte er sich wie ein schrumpeliger Luftballon. Sie schien merkwĂŒrdig in sich gekehrt.
âWarum isst du nicht?", erkundigte er sich vorsichtig.
âEs ist wegen Allegro." Oh Gott, sie wusste es schon!
âTess, bitte glaub mir..."
âSchon gut, Papa! Die Stimme heute Nacht..."
âWie bitte? Welche Stimme?"
âHmm - ich glaub, es war ein Engel..."
âTess, bitte!", stöhnte er auf.
âWirklich, Papa! Die Stimme sagte zu mir: âLiebes Kind, wenn du so weiter machst, dann schlachtest du die Kuh, die du melken willst!â"
âJetzt versteh ich gar nichts mehr."
âAlso, mir ist aufgegangen, dass ich dir schrecklich viele Kosten mache. Und da hab ich mir gedacht, ich sollte dir ein wenig sparen helfen. Morgens nur EIN Brötchen, dafĂŒr mittags dann jede Menge Kartoffeln und GemĂŒse. Die hast du ja im Garten. Dann brauchst du nicht soviel Haushaltsgeld."
âWas hat das mit Allegro zu tun?"
âNa ja, ich kann ihn nicht ewig reiten. Irgendwann bin ich zu groĂ und schwer fĂŒr ihn. Und jetzt ist bald Weihnachten, da dachte ich..."
âDu meinst, du willst ein gröĂeres Pferd?"
âOh nein, ich glaube, Reiten habe ich hinter mir. Etwas viel Cooleres... Das rĂ€tst du nie! Jan kann es mir zum Super-Sonder-Schleuderpreis besorgen. Wir zĂ€hlen es gleichzeitig als Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk. Auch noch fĂŒr nĂ€chstes Jahr mit. Ăber Geschenke brauchst du dir ganz lange ĂŒberhaupt keine Gedanken mehr zu machen...â
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