Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Juni 2003
Das Förderinstrument
von Mathias Burkert


Da gab es einen Datschenbesitzer bei Bernau, der hatte nah an einem Wald ein florierendes Stück Land, das ging ihm über alles, es war gewissermaßen sein Leben. Laub-, Nadel- und Obstbäume, gediehen dort, Pilze und Beeren, Kräuter und Gräser, Hasen tummelten sich, Wild weidete. Forstwirt müsste man sein. All das wäre genug, um ihn zu ernähren. Doch hatte er einen andern Beruf und nutzte das Grundstück ausschließlich zu seiner Erholung.

Nun sollte aber niemand, zum Beispiel seine Frau, sagen können, ihr Mann sei untüchtig, da er seine Scholle in diesem unordentlichen Zustand und ungenutzt vor sich hin wuchern ließ. Also mähte er eines Sommers den Rasen und beschnitt die Bäume, ließ seine Kinder ihr Taschengeld mit den Beeren aufbessern, die sie sammelten, während seine Frau einen Teil einweckte, und er selbst begann Fallgruben auszuheben für die Tiere. Felle und Fleisch konnte man ebenfalls verkaufen und die Köpfe als Trophäen: sehr einträglich. Gar nicht schlecht, sich was dazuzuverdienen.

An einem Sonntag im Spätsommer desselben Jahres machte er seinen üblichen Rundgang vor dem Aufbruch nach Hause, sah nach, ob die Äpfel, Birnen und Pfirsiche nicht bald reif seien  die alte Leiter war repariert , überprüfte die Fallen und sann über Möglichkeiten, die Vögel von den Beeren fern zu halten, als hinter einer saftigen Tanne ein Männlein hervortrat. Es war in einen schwarzen Ledermantel gekleidet, stützte sich auf einen Spazierstock mit silberner Krücke, und es überragte ihn um die Länge seiner enormen Stiefelabsätze. In seinem lachenden Mund blinkten Goldzähne, eine Respekt einflößende Erscheinung, wäre sie nicht so lächerlich dünn wie gezerrspiegelt.

»Was tun Sie auf meinem Grundstück?«

»Ihre Ausschachtungen hier interessieren mich. Sind Sie ein von der Gemeinde befugter Förster? Haben Sie eine Jagdgenehmigung?«

»Warum darf ich auf meinem Land nicht Löcher graben, wenn ich neue Bäume anpflanzen will?«

»Auch das muss mit der Landschaftsbehörde abgestimmt werden, aber darum geht es nicht.  Ich bin aus einem andern Grund hier. Sie haben ein Gewerbe angemeldet.«

»Ja, habe ich.«

»Sie wollen die Erzeugnisse ihres Landes verkaufen, um sich eine Nebenerwerbsquelle einzurichten. Das finde ich gut, und ich will Sie fördern.« Mit aufgespannten Armen, Handflächen nach oben, schaut er zum Himmel und preist: »Wir  haben  ein  neues  Förderinstrument.« Er kichert verzückt, als habe er einen drolligen Witz gemacht, und nimmt die dürren Greifstangen wieder herunter.

»Mich? Fördern?«

»Klar. Kleinvieh macht auch Mist  sagt man nicht so? Zuletzt haben wir viel Geld in die IT-Branche gesteckt, krebserregender Elektrosmog, aber der geht es zur Zeit nicht so gut. Biotechnologie dasselbe, auf sie richtet sich unsere Hoffnung für die Zukunft.«

»Wer zum Teufel sind Sie?«

»Das wissen Sie. Aber gut, spielen wir das Spiel: ich bin Projektmanager und Beauftragter für Mittelstandsförderung im Landkreis Barnim. Als Letzteres bin ich hier, doch das Andere ist auch niemals nutzlos. Schauen Sie, ich hab Ihnen mein neues Buches mitgebracht.«

»Mein Erfolg. Theophil Gräber.«

»Lesen Sie es. Nächste Woche komme ich wieder.« Gräber wandte sich um stelzte fort.

Ha, eine Vogelscheuche würde er bauen!, fiel dem Datschenbesitzer ein. »Schöner Mantel übrigens«, rief der dem Besucher nach.

»Danke, Maßanfertigung. Könnten Sie auch bald tragen.« Gräber verschwand zwischen den Bäumen, die ihn jeder ohne Weiteres verdeckten.

Der Datschenmensch ging zum Haus, für heute hatte er genug gearbeitet, berichtete seiner Familie, wen er getroffen hatte, welches Metier, und gab das Buch seiner Frau. Nach dem Mittagessen fuhren Sie zurück in die Stadt, um den Staus zuvorzukommen. Der Mann sah sich eine Wirtschaftsshow bei einem Nachrichtensender an, drei Teams wetteiferten mit ihren Geschäftsmodellen um die Gunst eines Großinvestors. Die Frau vertiefte sich in Gräbers Erfolgsbuch. »Klaus, schalt doch bitte ab. Ich möchte dir ein paar genial einfache Grundregeln für effektives Zeitmanagement vorstellen.« Die Arbeitswoche begann, die Frau ging in ihre Schule und der Mann bestieg sein Auto, dann seinen Bus, damit auch die andern Leute pünktlich zur Arbeit gelangten. Und am nächsten Wochenende war die Familie wieder auf ihrem Grundstück, der Mann studierte, wie ihm seine Frau geraten hatte, eine Einführung in die dunkle Kunst der Buchhaltung, während sie mit den Kindern das Sammeln von Waldfrüchten und Pilzen trainierte. Am Sonntag stand der Mann schon in der Frühe mit seiner Frau bei der Falle, wo Gräber das letzte Mal erschienen war, und wartete. Die Frau wollte unbedingt dabei sein, doch nach einer halben Stunde hielt sie es nicht mehr aus, im Haus gab es allerhand zu tun. So verließ sie ihn und bat, er solle sie holen, wenn der Gast erschiene. Sie werde Limonade und Schnittchen mitbringen. Der Mann setzte sich auf einen Baumstumpf, wiederaufblickend stand Gräber vor ihm in einem bananengelben Jackett mit schwarzen Pünktchen. Es tummelten sich darauf viele kleine Obstfliegen.

»Da sind Sie ja!« Der Mann wollte ihm die Hand schütteln.

»Keine Sentimentalitäten, wir sind bitteschön keine Kegelbrüder und Saufgenossen oder so was. Hier sind die Antragsformulare für die Fördergelder. Sie brauchen bloß noch unterschreiben.«

»Woher wussten Sie eigentlich von mir?« fragte der Mann während er ohne Brille die feine Schrift auf den Bögen zu entziffern suchte.

»Sie können es später lesen, Sie bekommen von allem einen Durchschlag. Aber lesen Sie lieber mein Buch!  Woher ich Sie kenne? Eine Mitarbeiterin der örtlichen Gemeindeverwaltung hat Ihre Gewerbeanmeldung gelesen und mich angerufen.«

»Und dann haben Sie mich extra aufgesucht. Nett von Ihnen. Nur, in aller Offenheit, ich möchte von vornherein klarstellen: Die Pilze, die Beeren, die auf meinem Grundstück wachsen, ermöglichen mir und meiner Familie einen kleinen Zuverdienst, den Kindern einen fairen Ferienjob  mehr nicht. Und das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Ich arbeite im öffentlichen Dienst, ich werde nicht meine Stellung aufgeben, um meine Existenz an ein kleines Gewerbe mit unkalkulierbaren Risiken zu hängen.«

»Das verlangt auch keiner.«

»Dann frage ich mich: Was haben SIE davon? Ich zahle wenig Steuern, schaffe keine Arbeitsplätze.«

»Indirekt vielleicht schon.«

»Wie.«

»Eins nach dem Andern. Unterschreiben Sie, dann erkläre ich es Ihnen. Keine Angst, wir arbeiten absolut ehrlich. Vergessen Sie nicht ihre Bankverbindung anzugeben. Sie beantragen wirklich nur Fördergelder. Es ist ihrerseits mit keinerlei Verpflichtungen verbunden. Und wenn Sie es sich doch anders überlegen, können Sie problemlos widerrufen, aber das werden Sie nicht.«

Mit dem Kugelschreiber, den Gräber ihm anbot, malte der Busfahrer die Kringel seines Namens auf den Antrag. Gräber riss ihm den Durchschlag ab, steckte das Original ein und sagte spitz:

»Sie schaffen zwar keine neuen Arbeitsplätze, aber sie sorgen dafür, dass bestehende frei werden und Arbeitsuchende nachrücken können.«

Der Busfahrer strich sich den Schnurrbart. »Ja?«

»Ich muss wohl etwas weiter ausholen. Sie erinnern sich bestimmt an den Reaktorunfall in Tschernobyl 1986, an den sauren Regen, der unter anderem in dieser Gegend niederging. Im Münchener Raum wiesen einer Studie zufolge Heidelbeeren eine Cäsium-137-Konzentration von bis zu mehreren hundert Becquerel pro Kilogramm auf. Beim Fleisch von Wildschweinen aus dem Bayerischen Wald lag die Kontamination bei durchschnittlich achttausend Becquerel pro Kilogramm! Denn sie fressen viel und ernähren sich hauptsächlich von Eicheln, Bucheckern, Beeren, Wurzeln, Pilzen ...

Pilze speichern radioaktives Cäsium 137 noch besser als Pflanzen. Bei Maronenröhrlingen  die in der Regel höhere Konzentrationen aufweisen als Steinpilze, Pfifferlinge oder Champignons am selben Ort  wurden im vergangenen Jahr in Bayern Belastungen von bis zu fünftausend Becquerel je Kilogramm festgestellt. Als ich davon gehört hab, dachte ich, was die da unten in Bayern können, das schaffen wir auch.

Die Experten  Experten!  erwarten, dass die Cäsiumkonzentrationen in Pilzen in den kommenden Jahren teilweise sogar steigen werden  steigen! , weil das Cäsium 137 aus den oberen Bodenschichten allmählich in tiefere Regionen sinkt. Dort kann es die Myzelien tief wurzelnder Pilze wie Habichtspilz oder Frauentäubling gelangen. Pilze sind die Zukunft.« Gräbers blasses Gesicht hatte eine rote Farbe angenommen. Die Fliegen umschwirrten ihn aufgeregt. Er nahm sich zurück.

»Nun ja, die Radioaktivität im Boden wollen wir sozusagen outsourcen.«

Der Busfahrer, etwas verwirrt, beginnt zu begreifen. »Aber das ist ... Meine Kinder essen verstrahlte Pilze und Beeren.«

»Ja, deswegen sollen Sie sie verkaufen.«

»Die verstrahlten Pilze und Beeren verkaufen??!«

»Nein, Ihre Kinder. NATÜRLICH die Pilze und Beeren, was denn sonst.«

»Damit andere das Zeug essen. Sie sind wahnsinnig.«

»Was haben Sie? Soll ich Ihnen mal erzählen, was sonst so in Ihren Lebensmitteln drin ist? Wieso immer mehr junge Leute Krebs kriegen?«

»Ich will damit nichts zu tun haben.«

»Dann gehen die Fördergelder an jemand anderes.  Außerdem haben Sie sowieso damit zu tun. Indirekt. Sie hängen mit drin im Wirtschaftsnetz und machen keine Anstalten es zu zerreißen  wie auch? Mitgehangen, mitgefangen, mein Freund. Du stehst auch auf der Abschussliste.«

»Eine Abschussliste?«

»Eine Redewendung. Die Liste wär so lang, dass du damit den Mond einwickeln könntest. Wir arbeiten unbürokratisch. Der Auftrag ist einfach: die Schlechten aussondern. Wer dann übrig bleibt? Keine Ahnung, vielleicht ein paar fromme Naturvölker.«

»Ach so. Sie wollen die Menschheit ausrotten.« Der Busfahrer lacht laut los.

»Da brauchst du gar nicht lachen. Krebs, AIDS, Malaria, Bilharziose, Elephantiasis, Dengue-Fieber, Flussblindheit, Leishmaniase, Schlafkrankheit, Gelbfieber, Jap-Enzephalitis, Ebola sind vielversprechende Projekte.«

»Oh! Gnade! Verschonen Sie mich!«

»Gnade kannst du nicht erwarten. Der da oben ist ziemlich nachtragend. Was denkst du, wer die ganzen Unwetter produziert? Von wegen Klimawandel durch menschlichen Schadstoffausstoß. Ihr denkt auch, ihr könnt alles beeinflussen.  Aber da er euch nicht alle an Felsen binden kann wie Prometheus, weil es auch gar nicht genug Adler gibt, als dass wir für jeden von euch einen abstellen könnten, und weil der Kaukasus ohnehin schon voller Massengräber ist, braucht er die Hilfe der Firma.«

»Die Politiker. Haha, das passt.«

»Unter anderem. Die Aufgabe der Politiker ist es, so zu tun als hätten sie alles im Griff und bemühten sich um die Abwendung von Gefahren.«

Der Busfahrer bricht erneut in Gelächter aus: »Wir ... werden alle ... krepieren.«

»Mensch, siehs positiv! Fortschritt und Erneuerung, dafür stehen wir. Das unabwendbare Ziel unserer Zivilisation ist der Abgrund. Auf den wollen wir  zur Schadensbegrenzung für den Planeten  möglichst schnell zuschreiten, denn wir sind optimistisch: Es winkt ein Neuanfang.

Letztlich wird ein sensibles Einvernehmen des Menschen mit der Natur angestrebt. Entweder auf einer primitiven Ebene, wo ihr eure Triebe und Exzesse leben könnt, wie es euch gefällt  aber im Kleinen und schadlos für die Umwelt; oder ihr lernt es, eure inneren Tiere zu beherrschen. Dann würdet ihr auch zu einem respektvollen Umgang mit der Erde finden.

Aber die Voraussetzung dafür ist erstmal das konstruktive Miteinander der Menschen untereinander. DER Mensch muss erst noch geschaffen werden. Dazu müssen wir bestimmte destruktive Verhaltensweisen aus ihm herauszüchten. Wenn die Menschen so weit sind, ohne Vorteilnahme, Statusspiele, Neid zusammenzuleben, kann ihr Verhältnis zur Natur angegangen werden.

Das Verhältnis des heutigen Menschen zur Natur ist eins der Unterwerfung, des Gefügigmachens von Unbotmäßigem. Sie wird von Einzelinteressen privatisiert, ausgebeutet  den Schaden trägt die Allgemeinheit. Am Ende steht die Unbewohnbarkeit des Erdballs.

Der Mensch begreift die Natur nicht als Teil seiner selbst, begreift auch nicht, dass er selbst nicht der von höchster Stelle eingesetzte Verwalter und Verweser ihrer Güter ist, sondern selbst bloß eine Hervorbringung der Natur, die ihn wieder in sich zurücknimmt, sobald sein Dasein für das Weltganze unhaltbar geworden ist. Diesen Prozess gilt es zu beschleunigen. Da unnütze Schädigungen an der ökologischen Vielfalt vermieden werden müssen, ist das vorzeitige Ende auf möglichst schonende Weise herbeizuführen. Wir machen Tabula rasa mit der jetzigen Zivilisation und starten eine neue, reinere.

Er, der Mensch, hat Tausende von Jahren Zeit gehabt, mit der Natur in Einklang zu kommen  was allen anderen Tieren längst gelungen ist: Sie sind an einer Station ihrer Entwicklung stehen geblieben und haben sich darin eingerichtet. Der Mensch aber ist eine wandernde Plage, die sich im Provisorischen an sich einrichtet.

Die Geduld des Schöpfers ist erschöpft. Der Mensch  womit ich vom einzelnen abstrahiere und die träge Herde der Durchschnittlichen meine  ist offensichtlich nicht fähig in einer stabilen Ordnung zu leben, immer missfällt ihm irgendwas und die Ordnung wird abgeschafft. Zwar gibt es immer mal einflussreiche religiöse und wissenschaftliche Ideologien. Aber nie ist eine in der Lage, alle Menschen dauerhaft in ihre Gewalt zu bringen.«

Den Belehrten, der mit einer Mischung aus Erstaunen und Geringschätzung zugehört hat, zieht es zum Gehen. Er fragt noch: »Steht das alles in Ihrem Buch? Sind Sie ein Prophet?«

»Prophet, nein. Aber wenn es Sie interessiert: einige Philosophen, Wissenschaftler  allen voran Ernst Bloch lieferte uns eine brauchbare Theorie. Man muss nur den schwülstigen Utopismus seiner Zeit eliminieren und erhält die Theorie zu einer gesellschaftlichen Praxis, die auf friedfertig Synergien zwischen Mensch und Natur abhebt.«

»Alles klar, Herr Gräber. Dann eliminieren Sie mal noch schön. Danke, dass sie vorbeigekommen sind. Sie melden sich wieder?«

»Sobald der Antrag durch ist. Voraussichtlich nächste Woche.«

Unbesorgt ging der Busfahrer zur Laube und ließ den Spinner stehen in seinem Phantasiegewebe. Gräber selbst hatte ja ein gewichtiges Argument geliefert, diese Wahnideen nicht ernst zu nehmen. Auch wenn es diese Firma gab, es hatte immer wieder Bewegungen mit hochfahrenden Plänen und Heilslehren gegeben, welche, die überzeugender klangen und Millionen Menschen verpflichteten. Womit er es hier zu tun hatte, war eine unbedeutende Sekte. Er würde die Vorteile nutzen, die sie ihm verschaffte, und sollte es ungemütlich werden, würde er einfach alles kündigen und gegebenenfalls seine Rechtsschutzversicherung benachrichtigen und den Ombudsmann.

»Haben Sie schon ... ?« rief Gräber ihm hinterher.

»Vielleicht morgen.«

»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!«

»Jaja. Die Bauernregel wird auch morgen noch gelten.  Bis nächste Woche, ich muss weg.«

»Sie müssen mein Buch lesen!«

Wann hätte der Mann das tun sollen? Er hatte die Woche Nachtschicht, vormittags schlief er und versuchte nachmittags ein halbwegs normales Familienleben zu führen, was noch dadurch erschwert wurde, dass seine Frau ständig Hektik verbreitete. Sie gönnte Ihnen beiden nicht mal mehr Sex, weil sie sich vorgenommen hatte, bis Ende September ihre Unterrichtsvorbereitung für das gesamte Jahr fertig zu kriegen. Abends vor seinem Schichtbeginn saß sie eingeschlossen in ihrem Arbeitszimmer, tippte und wälzte Bücher. Die Kinder sollten Sport machen, um ausdauernder zu sein, wenn die Pilzsaison begann, sowie tragfähiger und schlagkräftiger für die Erfordernisse des Holzgeschäfts.

Am Sonntag kam Gräber nicht wie versprochen. Hatte er es versprochen? Der wochendendliche Gewerbegetriebene argwöhnte, Gräber sei sauer, weil er sein Buch nicht las. Was hingegen kam, am Montag, war die Bestätigung des Förderantrags. Wenig später erfolgte die erste Zahlung.

Es wurde Winter, ein nasser, kalter Winter. Der Nikolaus brachte Trauer. Die Frau und Mutter der Familie hatte sich furchtbar aufgeregt. Die Kinder hatten ihre Schuhe ungeputzt gelassen und obendrein ihn Portemonnaie hineingelegt. Sie starb an einem Schlaganfall. Unter dem Weihnachtsbaum quollen in diesem Jahr drei Kofferräume voll Geschenke. Doch sie füllten nicht die Leere, die entstanden war.

Im Frühjahr verkaufte der Mann sein Grundstück, denn er hatte keine Freude mehr daran. Zum einen war es mitverantwortlich für den Tod seiner Frau, zum anderen musste er beim Anblick von Beeren, Pilzen, Obstbäumen, Hasen und Rehen stets an das Geld denken, das da fortsprang, von Waldbewohnern gefressen werden würde oder ungepflückt verging. Den Verkaufserlös steckte er größtenteils in die Altersvorsorge, von dem Rest kaufte er sich ein neues Auto. Die Fördersumme, sechzigtausend Euro über drei Jahre, die trotz der Veräußerung seiner Geschäftsgrundlage weitergezahlt wurde, verteilte er auf die Sparbücher seiner Kinder. Das war nur gerecht. Sie hatten einen nicht unbedeutenden Anteil am Unternehmen, und sie sollten mal studieren, vielleicht im Ausland, nur nicht alle gleichzeitig, Biologie, Gentechnik, Fahrzeugbau.

Er aber beschränkte sich aufs Busfahren. Zufrieden und ausgeglichen glitt er in seinem Gelenkschiff durch den Verkehrsstrom. Es gab ihm das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, und mit der Verantwortung für seine Fahrgäste konnte er umgehen. Sie machte ihn stolz. Unabhängig davon wurde er nachts manchmal wehmütig, wenn er daran dachte, dass er, gegen fünf in die schlafende Wohnung kommend, ein leeres Bett vorfinden würde. Dann stellte er sein Radio an und bedudelte den Bus mit Oldiemusik. Die Leute freuten sich über den so menschlichen Service und die Kids fanden es cool. Und wenn am Tage gelegentlich ein Herr im Anzug allein an einer Haltestelle stand, am besten noch bei Regen oder Kälte, und keiner im Bus wollte aussteigen, fuhr er vorbei.


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