Der Tod aus der Teekiste
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Juni 2003
Ich sah den Himmel offen ...
von Gerlinde File


Es war Christtag abends und der Sturm pfiff ums Haus. "Wow", dachte ich, "der ist nicht von Pappe", und unwillkürlich zog ich den Kopf ein bißchen ein. Irgendwas in mir schreit immer "Panik", wenn der Sturm ums Haus fegt, und da kann weder mein Verstand noch mein von Sturmromantik besessener Ehemann dagegen an. So auch an diesem Abend. Die Sturmböen wurden heftiger und mein Herz begann lautstark zu klopfen. Ich fühlte mich wie eine kleine Maus, die sich nichts sehnlicher wünscht, als ein winziges Mauseloch, um sich darinnen zu verkriechen und nichts mehr zu hören und zu sehen. Nichts desto trotz meldete sich mein rationales Ich gewichtig zu Wort: "So, jetzt hängst du schon wieder zitternd in einer Ecke und jetzt erkläre mir bitte, wem das nützen soll!" Mein rationales Ich hat den Hang, furchtbar viele und überaus gescheite Bücher zu lesen! Einem davon hatte es entnommen, daß Angst dazu da sei, Kräfte zu mobilisieren: entweder zum Kämpfen oder zum Davonrennen. Wenn weder das eine noch das andere sinnvoll ist, und deswegen die mobilisierte Kraft nicht gebraucht wird, dann erzeugt das unweigerlich Streß, ungesunden Streß! "Also bitte! Was hast du vor mit deiner Angst? Davonrennen nützt nichts. Einen sichereren Ort als Dein Haus wirst du weit und breit nicht finden. Gegen den Sturm kämpfen kannst du auch nicht. Also was soll's? Wem soll das nützen, wenn du dasitzt und vor Angst schepperst?"
Der letzte Satz hatte mein tief gläubiges und von Meditationen "verseuchtes" Ich auf den Plan gerufen. "Ja genau, wie oft soll ich dir das noch eintrichtern? Dasitzen und sich in Sorgen verzehren, nützt niemandem was .... niemandem .... hörst du .... dir selber nicht und deinen lieben Mitmenschen auch nicht. Du weißt doch .... Licht ausschicken und so .... wenn es schon den anderen nicht hilft, obwohl das durchaus der Fall sein könnte, dann hilft es wenigstens dir. Also sicher, jetzt mach doch schon .... !"
"Scheiße", mein verängstigtes Ich möchte sich lieber taub stellen. "Laß mich mit deinem blöden Licht in Ruhe. Ich kann jetzt nicht, ich hab Angst."
Mein Blick fiel auf die "himmlische" Krippe, die ich mir in diesem Jahr gebaut hatte. Rund um die wirklich erdige Heilige Familie aus Peru hatte ich einen Unterstand aus leeren, silbrig glänzenden Konservendosen aufgebaut. Auf der Rückseite boten diese Dosen Platz genug für drei Reihen von Teelichtern und die ganze Umgebung hatte ich mit Weiß und Silber in einen wahrhaft überirdisch anmutenden Garten verwandelt. "Wenn ich mir schon kein Licht vorstellen kann, so kann ich mir zumindestens eins anzuzünden." – Gedacht, getan: Ich holte Zündhölzer, und kurze Zeit später erstrahlte die ganze Krippe im Glanz von sechzehn Teelichtern, der an den Rillen der Blechdosen und all dem glitzrigen Zeug rund um die Krippe tausendfach reflektiert wurde.
Ich war so ergriffen von diesem vielen Leuchten (und zugegebenermaßen auch noch von einer gehörigen Portion Stolz auf mein Werk), daß ich tatsächlich für kurze Zeit den Sturm überhörte und vergaß.
Die nächste heftige Windbö riß mich aus meinen Gedanken, aber da hatte mein gläubiges Ich bereits die Oberhand: "Jetzt hör dem Wind zu und schick das Licht mit, daß es sich überall ausbreitet!" riet es mir eindringlich. Diesmal war ich folgsam. Ich richtete mich in Gedanken an den Wind und bat ihn, das Licht, das ich sah, zusammen mit tausend lieben Grüßen an "Ich-Weiß-Nicht-Wen" mitzunehmen und auszubreiten. In diesem Moment gelang es mir tatsächlich, mich mit dem Sturm zu versöhnen. Ich empfand sogar eine gewisse Freude über das ungestüme Brausen vor dem Haus und all die Freude warf ich in Gedanken gleich wieder hinaus zum Fenster, damit der Wind sie mitnehmen und dorthin bringen könnte, wo sie gerade gebraucht wurde.

Am nächsten Tag war Stephanstag und wir saßen gerade beim Frühstück, als im Radio für die Mittagszeit ein noch wesentlich stärkerer Sturm als der eben vergangene angesagt wurde. Gestärkt von den Erfahrungen in der letzten Nacht, machte ich mir weiters keine Sorgen, bis dann tatsächlich um halbeins der wilde Tanz begann. Eben war ich damit beschäftigt, den Namenstagstisch für meinen Sohn Stefan zu decken und ein Mittagessen zu kochen. In der ganzen Familie machte sich die helle Aufregung breit, als sich vom Dach unseres Hühnerstalles ein paar Ziegel lösten und die Kaminkappe eines Nachbarhauses auf ein darunter geparktes Auto krachte. Als ich die Angst wieder hochkriechen fühlte, ging ich ins Nebenzimmer und zündete erneut die Lichter rund um die Krippe an. Mein kleiner Thomas kam herein. Ihm wurde die Sache allmählich auch zu viel. "Ich hab Angst", jammerte er. "Jetzt sollten wir einen Glücksbringer haben", wünschte er sich verzagt und stellte sich dabei weiß-ich-was für einen Talisman vor. "Aber wir haben doch einen Glücksbringer!" antwortete ich und zeigte auf die Krippe. "Was, funktioniert das wirklich?" fragte er ganz ungläubig. "Na ja, der Sturm wird nicht gleich aufhören", schränkte ich ein, "aber wenn du ins Licht schaust und zum Jesuskind in der Krippe betest, dann hast du sicher gleich nicht mehr so viel Angst." Ich wurde unruhig, denn die "Pflicht" rief. Meine Familie würde trotz Sturm nicht auf ein Mittagessen verzichten wollen.
Mein weniger pflichtbewußtes Ich war damit nicht ganz einverstanden und mein gläubiges Ich meinte, es wäre an der Zeit, einfach innezuhalten und zu beten oder zu meditieren oder was auch immer. Ich blickte durchs Fenster und sah dem wilden Treiben zu. Ich konnte mich nicht erinnern, je einen so starken Sturm erlebt zu haben, ein ständiges Heulen, Brausen und Krachen. Nur wenige Häuser weiter löste sich eine frisch montierte Solaranlage aus der Verankerung am Dach und stürzte berstend zu Boden. Ich dachte an den Heiligen Stephanus, der unter einem Hagel von Steinen gestorben war.
"Die bösen Mächte sind entfesselt und werfen mit Steinen und sonst was um sich", schoß es mir durch den Kopf. Ganze Aststücke, Papierfetzen und selbst kleine Dachziegelstückchen wirbelten an unserem Fenster vorbei. "Eigentlich müßte jetzt zu Ehren von Stephanus der Himmel aufgehen", dachte ich mir. Der hatte doch gesagt "Ich sehe den Himmel offen", während ihm die Steine um die Ohren flogen. Beschwörend sah ich hinauf in die bleigrauen Wolken und wünschte mir, wenigstens einen kleinen Lichtstrahl von der Sonne zu erspähen.
"Du sollst den Herrn, Deinen Gott, nicht versuchen!" maulte sofort irgendein überkorrekter Teil meines Erwachsenen-Ichs. "Nein wirklich", meinte sogar mein abergläubisches Ich. "Du wirst doch nicht glauben, daß du jetzt anfangen kannst, Wunder herbeizubeten!" "Und überhaupt" .... jetzt schaltete sich auch noch mein rationales Ich dazu: "Überleg dir einmal, wie es dir geht, wenn Dein Wunder einfach nicht eintrifft!"
Es langte. Ich schob meinen Traum vom offenen Himmel beiseite und ging in die Küche, um für meinen höchst lebendigen und absolut realen Stefan die Namenstagstorte fertig zu machen. Keine fünf Minuten später rief Thomas aus dem Nebenzimmer: "Mama komm, schau amal!" Ich sah aus dem Fenster und konnte es einfach nicht fassen. Da hatten die Wolken tatsächlich ein winziges Loch zum Himmel freigegeben und durch dieses Loch strahlte mit voller Kraft die komplette Sonnenscheibe! Mir blieb fast die Luft weg und noch bevor ich mich wieder richtig gefaßt hatte, rief Christoph, der Zwillingsbruder von Thomas, vom Podest vor der Haustür, ich müsse unbedingt schauen kommen. "Ja, ich hab schon gesehen, die Sonne scheint", rief ich zurück. "Nein, du mußt kommen!" beharrte der Kleine von draußen. Also ging ich hin und schaute, was er mir da zeigen wollte. Er zeigte nicht zur Sonne, sondern genau in die entgegengesetzte Richtung, und da stand in voller Pracht ein intensiv leuchtender Regenbogen über entwurzelten und geknickten Bäumen. Etwa eine Minute dauerte dieses Schauspiel, dann zogen die Wolken wieder zu und es begann zu regnen. Es war zwar immer noch windig, aber der beängstigende Sturm war vorüber. Die Sonne ließ sich den ganzen Tag nicht mehr sehen.

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