Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Juni 2003
Déjà-vu
von Stefanie Kühn


– eine „tragödische Katastrophe“ der etwas anderen Art –


Ene, mene miste,
es rappelt in der Kiste.
Ene, mene meck
und Du bist weg.


Der Sekretär

1941

Sehen sie das Bild, das da wie selbstverständlich an der weißen Wand hängt? ... Der Führer!!! ... Führer, ja ...

Stellen sie sich vor! ... vor ... Ich hatte sogar das Glück, ihn während eines Aufmarsches in Berlin zu sehen. ... zu sehen, ja ... Ob ich extra wegen Ihm hingefahren bin? ... Nein. ... Ich habe meine Cousine besucht. ... besucht, ja ...

Das war vielleicht ein beeindruckendes Erlebnis. Der Zufall wollte, dass wir durch die tobende Menge vom abseitigen Rand der zufälligen Gaffer mitgerissen wurden, und plötzlich standen wir in der ersten Reihe. ... direkt vor ihm. ...

Ein Erlebnis. Diese Stimme! ... Stark wie die eines Deutschen. Diese Gestikulation! ... Eine Waffe seiner Genialität. Diese Mimik! ... Fast ein wenig verrückt. (Aber pst! Das darf man in der heutigen Zeit nicht, nie ... nie ... nie ... niemals sagen. Sonst!!!!! ... Sie wissen. Augen und Ohren ... Ohren, die sehen. Augen, die hören.)

Tja, ja ... Sitzen tu ich. ... Am Schreibtisch, meine ich natürlich und beuge die Geduldsamkeit des Papiers. ... Ich stemple Tag aus und Tag ein Urkunden. Sterbeurkunden. Wessen? ... Weiß ich nicht, will ich auch nicht wissen. ... Zu viele für unsere Anstalt! ... Das weiß ich. Doch es interessiert mich nicht. ... Mich nicht!!!!!! ... Ich muss nur stempeln. Das ist wichtig. ... wichtig, ja ... Den Tod abstempeln. Die geduldige Ursache bestätigen. ... Muss eben alles ganz offiziell in Aktenberge abgeheftet und einsortiert werden. ...

Registrierung ist wichtig!!!

Ich bin ja nur ein Rädchen, ein Stempel unter vielen und schweige. ... Schweige, ja doch!!! ... Die Wände haben in diesen Tagen nämlich Augen und Ohren. Und ich habe, Frau und Kind zu ernähren. ... Muss Leben!!!! ... Also, was soll’s? Ich besiegele lieber mein befristetes Überleben und stemple dafür irgendwelche Mir Unbekannten in den Tod. ... Denn mein Jetzt und mein Morgen ist mir wichtiger.


40 Jahre später

Im Altersheim ...

Das Bettlaken seines geliebten Zimmernachbarn war noch nicht mal richtig ausgekühlt und schon bekam der ehemalige Sekretär wieder einen Neuen, den General. Doch man hatte ihn – einen kleinen Ex-Staatsdiener des alten großdeutschen Reiches – überhaupt nicht gefragt, sondern einfach über seinen Kopf hinweg entschieden. ...

Nun standen sich die Beiden für Sekundenbruchteile einer gespannten Momentaufnahme Auge in Auge gegenüber.

Der General strahlte mit seiner hochgewachsenen, deutschen Eichenstatur trotz des hochbetagten Alters immer noch elastische Rüstigkeit aus. Er war eine markante Erscheinung, die Zucht und Ordnung in stocksteifer Form integrierte. Im Gegensatz dazu stand der ehemalige Sekretär mit seinen abgewetzten und lederbestückten Strickjackenärmeln. Er wirkte durch die leicht gebeugte Körperhaltung für das Betrachterauge viel älter, kleiner und unscheinbarer als sein Gegenpol.

Es schien der Augenblick einer auf kalte Fliesen herab klirrenden Stecknadel zu sein, als der General den Sekretär mit seinen stahlblauen Augen eisig durchbohrte. Dann würdigte er ihn mit keinem Blick mehr und humpelte auf seiner hölzernen Beinprothese achtlos an ihm vorbei. Dieses Holzbein war ein verhasstes Andenken an die letzten Kriegstage, in denen er wegen einer lapidaren Unachtsamkeit von einem jungschen Emporkömmling zum Wohle des Vaterlandes an die Ostfront strafversetzt wurde.

Menschen sind Geruchstiere. Sie merken schon während der ersten, kurzweiligen Begegnung, ob sie miteinander können oder nicht. So erging es auch dem Sekretär während seiner flüchtigen Begegnung mit dem General auf dem Flur. Er verspürte sofort eine tiefgründige Abneigung gegen seinen neuen Zimmernachbarn, um nicht zu sagen einen Hass. Ihm war diese Steifheit zuwider. Aber wegschieben konnte er den neuen Heimbewohner nicht. Also schwieg er ihn einfach an und tat so, als sei dieser Luft.

Im Schweigen hatte der ehemalige Sekretär schon jahrelange Übung. Und seit der Zeit der versteckten Augen und Ohren ist ihm dieses wie sein eigener Schatten gefolgt. Doch nun, da der General das Nebenzimmer bewohnte, fühlte er sich nicht nur von der Vergangenheit in seinen nächtlichen Alpträumen verfolgt, sondern auch eingeholt. Diese unangenehme und penetrante Begleiterin quälte ihn jetzt auch noch tagsüber mit dem Angesicht des ungeliebten Nachbarn.

Beide hatten den jeweils Anderen mit der ersten Begegnung auf dem Flur im Altersheim sofort erkannt. ...

Der ehemalige Sekretär wollte am liebsten seine berufliche Vergangenheit in der psychiatrischen Gasmordanstalt „Goldenende“ vergessen und ausradieren. Ihm war sehr bewusst, dass seine damalige Tätigkeit – vor 40 Jahren – heute rein menschlich, moralisch, ethisch und rechtlich mit aller Schärfe zu verurteilen ist.

Und sein Gegenüber der General? ...
Der schauspielerte was das Zeug hielt und log, auf dass sich die Balken bogen. Er spielte den durch Verkalkung verwirrten Mann. Den Alten, der in der von Hitler beherrschten deutsche Welt hängen geblieben ist. Den Irren, der sich immer noch als hoher Parteifunktionär wähnte. Den verrückten Genialen, der wieder der medizinische Leiter der Psychiatrischen Landesanstalt „Goldenende“ war. Den Kranken, der sich in der ehrfürchtigen Anerkennung des SS-Arztes auf den Fachgebieten der Rassenpolitik und der Erbgesundheit aalte. Den verwirrten Weltverbesserer, der im Rahmen seiner aufgetragenen Funktion die nicht lebensfähigen, asozialen, minderwertigen, behinderten Elemente an der deutschen, inneren Front verarzten wollte.

Mit dieser Methode hatte sich der General nach dem Krieg recht erfolgreich durch alle Unannehmlichkeiten der neuen Zeit hindurch gemogelt und ist von strafrechtlichen Verfolgungen weitgehend verschont geblieben. Sogar jetzt auf der letzten Etappe seines kleinen Lebens hatte er mit dieser ausgebufften, ins extreme Kalkül des menschlichen Wesens gehenden Schauspielerei seinen Erfolg. Denn die Ärzte, die ihn während der Aufnahme ins Heim untersuchten, wollten seine Verwirrtheit nicht hinterfragen. Sie waren der mitleidigen Meinung, dass dieser alte Mann doch sowieso bald sterben würde und sein Gewissen bis dahin wohl Strafe genug sein würde.

Der ehemalige Sekretär war der Einzigste, der wusste, dass der General tatsächlich jene gewissenlose Koryphäe, jener SS-Arzt und jener medizinischer Leiter gewesen ist, den er in seiner Maskerade für die Öffentlichkeit nur darstellend spielte. Im ausgleichenden Gegenzug war nur der General darüber im Bilde, dass der ehemalige Sekretär damals sein persönlicher Sekretär gewesen ist. Alle anderen, die über diese fatalen Zusammenhänge hätten Auskunft geben können, waren entweder verstummt und begraben oder hatten keine Ahnung von der Noch-Existenz und dem Aufenthaltsort der beiden Widersacher.

Der ehemalige Untergebenen des Generals wollte dieses gemeinsame Wissen vom Anderen unter Verschluss halten. Damit begab er sich in die wohlwollende, gnädige Abhängigkeit des fuchsschläuigen Generals. Doch dieser nutzte die unerquickliche Situation seines Zimmernachbarn schamlos aus. ...

Das nachbarschaftliche Zusammenlebens mit dem unliebsamen Relikt aus der Vergangenheit mutierte mit der Zeit zur Perversität und brachte den ehemaligen Sekretär fast um. ...

Einerseits tabuisierte er das Gestern und erstickte fast am Schuldgefühl, obwohl er das eigentlich nicht nötig gehabt hätte. Denn seine Unterschrift stand unter keinem der wesentlichen Befehle. Er ist damals nur ein kleines Rädchen gewesen. Er hat nur gestempelt, Akten verwaltet und Trostbriefe verschickt. Er ist nicht einmal an die Front gewesen, um auf fremde Feind-Menschen schießen müssen. Er ist nur Schreibtischtäter gewesen, der die Klappe gehalten hat, um sich und seine Familie durch die Wirren des Nazireiches zu bringen.

Andererseits war da der General, der mit seiner Glanzrolle des armen, verkalkten, geistig verwirrten, alten Mannes seine wahre Natur verschleiern konnte und damit gegen den Rest der Welt bestand. Dieser musste sich nicht einmal groß verstellen und Gewissensbisse vorgaukeln. Er konnte weiter ein guter Deutscher sein. Er konnte weiterhin seiner gewissenlosen, perversen Kindsseele und deren Untaten frönen. Er konnte immer noch seine Phrasen dreschen und den linken Arm heben. Dabei gab ihm das irre Wissen, dass sein Gegenüber niemals etwas sagen würde, nichts sagen wollte, lieber schweigen wollte, den nötigen Auftrieb zum Weiterspielen.

In seiner berechnenden Art schätzte er den ehemaligen Sekretär sehr gut ein. Dieser hatte nämlich Angst. Dieser befürchtete, dass seine unrühmliche Vergangenheit mit auffliegen würde, wenn er seinen Zimmernachbarn entlarven würde. In diesem Fall würde dann die naheliegende Gefahr bestehen, dass seine Kinder und Enkelkinder von dieser, seiner Vergangenheit erfahren würden, ihn vielleicht dafür verachten, ja sogar hassen würden. Der General wusste, dass genau diese Eventualität den Sekretär ganz langsam und mörderisch von innen auffressen würde, dass dieser das alles nicht ertragen könnte. Mit dieser inneren Sicherheit glaubte er, den Nachbarn voll im Griff zu haben. ...

--- Break ---

Bis zu jener bewussten Nacht. ...
Der General lieferte mal wieder vor der Belegschaft und allen Bewohnern des Altenheimes ein Glanzstück seiner Genialität als Schauspieler ab. Doch sein eigentliches Ziel war der ehemalige Sekretär. Ihn wollte er bis zur Weißglut reizen.

Er spielte allen Anwesenden eine seiner zahlreichen Vergasungsszenen ziemlich lebhaft und anschaulich vor. Nur dass er diesmal nicht seine heißgeliebten Schlabberkinder einsetzte, sondern davon sprach, die Penner, Türken und das ganze Gesocks, was überall auf den Straßen anzutreffen ist, zu vergasen. Doch damit nicht genug. Er schwärmte vor versammelter Mannschaft von seinen Traum, einmal in seinem Leben einem faulen Nigger ein Kreuz zu verpassen und ihm dann sein schwabbeliges Spatzenhirn heraus reißen zu dürfen. ...

Der Sekretär stand in unmittelbarer Nähe des Generals und bekam die komplette Bandbreite der Mimik und Gestik seines Widersachers mit. Die Worte des Schauspielers waren Giftpfeile für das Gemüt des sehenden Wissens. Die Gestikulation des Scheinheiligen Granatbomben für das Seelenherz des hörenden Wissens. Diese Ekel erregende, pervers tierische Rede löste ein Déjà-vu-Erlebnis im Herzen des Sekretärs aus. Er sah sich plötzlich zurück gebeamt zu seiner ersten Berührung mit den Horrorkellerräumen der Gasmordanstalt „Goldenende“. ...

Ihm drehte sich der Magen um und sein Abendessen stieg brennend die Speiseröhre immer höher. Er machte auf seinen Hauslatschen eine Hundertachtzig-Grad-Drehung und stürzte – so gut es seine 71-jährigen Knochen zu ließen – um nächste Ecke. Dort übergab er sich und stolperte dann mit weichen, zittrigen Knien an die frische Luft.

Der General hatte alles berechnend aus seinen Augenwinkeln beobachtet und jubelte innerlich, „Es ist genauso wie damals. Dieses Weichei ... So war er vor vierzig Jahren schon.“ ...

Nun. Der Abend glitt hinüber in die Nacht. Der Sekretär hatte seinen ehemaligen Vorgesetzten innerlich schon lange gerichtet. In dieser Nacht wollte er auch sein Henker sein. ...

Der Grau-Nachthimmel war wolkenverhangen und gewitterschwanger. Alles lag im bleiernen Schlaf. Nur eine unruhige Seele geisterte durch die blitzerleuchteten, gewittrigen Gänge – der Sekretär.

Er schlich mit durchgebranntem Herzen in das Zimmer des Generals. ...
Da stand er nun und hatte die Hosen sprichwörtlich voll. Seine ungebändigte Angst ließ seinen Blasenschließmuskel willenlos erschlaffen. Sein Inneres bäumte sich stumm schreiend und mit kindlich ungeduldiger Wut auf, als der warme Urin an seinen Beinen herunter lief. ...

Schließlich nahm er all seinen Willen und Mut zusammen und sagte zu seinem Herzen, „Dieses tierische Arschloch hat so viele Menschen auf dem Gewissen. Um den ist es nicht schade. ... Die Justiz und der reine Menschenverstand haben versagt. Ich werde der Gerechtigkeit nun zur Gerechtigkeit verhelfen.“. ...

Die Szenerie war gespenstig. Wetterleuchten-Blitzlichter zerrissen in immer kürzer werdenden Abständen die Nachtfinsternis. Sie drohten damit, die Nacht zum lichtspotmäßigen Sekundentag werden zu lassen. Nur der Donnersound blieb spannungsknisternd aus. ...

Der Sekretär griff sich leise ein fettes Sofakissen von der nahegelegenen Sitzecke, hielt es sich wie ein siegesgewisses Schutzschild vor die Brust und schlich sich zum Bett des Generals. ...

Da lag er, das Schwein. ...
Die gruselig kalten Spotlichter erhellten sein Antlitz im unregelmäßigen Rhythmus. „Er sieht aus wie das reinlichste, unschuldigste Kind, schnorchelt einfach satt und zufrieden vor sich hin.“, dachte der ehemalige Sekretär verzweifelt. „Warum können solche Schweine im Schlaf nicht so aussehen, wie sie wirklich sind?“, fragte er unsicher in sich hinein. Er beugte sich mit seiner Sofakissenwaffe ganz zeitlupenhaft über das Gesicht seines verhassten Zimmernachbarn. Just in diesem Moment löste sich die Erwartungsspannung. Es donnerte – gepaart mit einem messerscharfen, grellen Blitz – ohrenbetäubend über dem Dach der Anstalt, so als ob Gott seinen Finger mahnend erheben wollte. ...

Für einen schemenhaften Augenblick konnte der Sekretär die wachen Augen des Generals sehen. Diese schrieen ihm höhnisch, „Du getraust dich ja doch nicht du Weichei.“, zu. Mehr konnte er schon nicht mehr erkennen. Er fühlte nur noch Kotzübelkeit, als er das Kissen auf das Gesicht seines Albtraumes drückte. Dieser wehrte sich nur kurz und schwach, röchelte fast weinerlich auf, bevor er leblos liegen blieb. ...

Der ehemalige Sekretär ließ das Kissen fallen und ging leise in sein Zimmer. Zum letzten Mal sollte er den inzwischen einsetzenden Regen gegen das Fensterglas trommeln hören, die Blitze am Himmel zucken sehen, das Donnergrollen hören. Er machte sein Fenster ganz weit auf und schob sein Bett mit dem Kopfende zu diesem hin. Der Wind peitschte die watscheligen Tropfen auf das Kopfkissen. Im Nu war der Bezug total durchnässt. Doch das interessierte ihn – den 71-jährigen, alten Mann – schon nicht mehr. ...

Er kramte zufrieden lächelnd eine kleine Frühstückstüte mit einer bunten Mixtur aus den verschiedensten Schlaf- und Schmerztabletten aus seinem heiligen Versteck im Nachtschränkchen hervor. Ohne zu zögern, begann er, diese in eine Müslischüssel zu schütten und mit einem Stößel zu zerstampfen. Ein paar Minuten später hatte er ein graufarbenes Cocktail-Pulver vor seiner Nase. Dieses schüttete er vorsichtig, mit ruhiger Hand in ein Aldi-Longdrinkglas, das er vorher auf dem Nachtschränkchen platziert hatte. Das Glas füllte er ganz allmählich bis zum Rand mit reinsten russischen Wodka auf. Dabei rührte er die todbringende Mischung mit einem Teelöffel beständig um und löste diese langsam auf.

Der alte Mann stand am offenen Fenster und saugte noch einmal das Leben mit geschärften Sinnen auf, bevor er den Schlaftrunk für die Ewigkeit zu sich nahm. Mit Tränen in den Augen schloss seinen Frieden und nahm Abschied von allem, was ihm einmal wichtig war. ...

Am nächsten Morgen fanden die Pfleger zwei Leichen. ...
Eine davon lag total verkrampft auf der Richtbahre, so als ob sie noch nicht die Welt verlassen wollte. Die andere lag friedlich und zufrieden lächelnd mit dem Kopf zum Fenster gerichtet im Bett. Es sah so aus, als ob der alte Mann jeden Moment aus einem wunderschönen und doch traurigschweren Traum aufwachen würde. Das Bettzeug war völlig durchnässt vom nächtlichen Gewitterguss, und auf dem Gesicht des Toten sah man noch letzte Regentropfen.

Kaum zu glauben, dass diese beiden Männer mal eine gemeinsame Vergangenheit hatten. Niemand außer ihnen wusste etwas davon. Nun war es ihr ewiges Geheimnis.

Aber wissen sie was? ...
Sogar im Tod waren sie noch Nachbarn. Auf dem Friedhof. Ihre Gräber lagen nebeneinander unter einer riesigen, freundlichen Eiche. ...


Nachwort

Im Januar 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erkranken Nachwuchses“ in Kraft. Damit war der Grundstein für Zwangssterilisationen gelegt - rechtlich abgesichert. Potentielle Opfer dieses Gesetzes sollten Kranke mit angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht (Epilepsie), erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwerer körperlicher Missbildung sein. (Hrsg. Gedenkstätte Bernburg. Materialsammlung zum Thema „Zwangssterilisation und Euthanasie unter dem NS-Regime“, S. 14) Zu den potentiellen Opfern gehörten auch Alkoholkranke. (Reichsgerichtsgesetzblatt I 1935, S. 773, §1 Satz 3. nach Hrsg. Gedenkstätte Bernburg. Materialsammlung zum Thema „Zwangssterilisation und Euthanasie unter dem NS-Regime“, S. 13)

1935 deutete Hitler auf dem Reichsparteitag in Nürnberg gegenüber Reichsärzteführer Wagner an, dass er beabsichtige, die „unheilbar Geisteskranken zu beseitigen“. (Zitat: W. Benz, H. Graml, H. Weiß. Enzyklopädie des Nationalsozialismus. DTV München 1997, S. 245) Hitler benutzte genau dieses Verb. ...

Im Dritten Reich gab es nie ein Gesetz oder ein Entwurf dazu, der die Vernichtung lebensunwerten Lebens legalisiert hat. Trotzdem führte eine kurze Aktennotiz, in der genau dieser Wunsch des Führers schriftlich niedergelegt wurde, im Oktober 1939 zum Beginn des „Euthanasie“ Programms („Aktion T4“, nach der Aktionszentrale Berlin in der Tiergartenstraße 4 benannt). Dieses „Ermächtigungsschreiben“ hatte folgenden Inhalt:

“Reichsleiter Bouhler und Dr. Med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichen Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“ (Zitat: Nürnberger Dokumente NO-824. nach Hrsg. Gedenkstätte Bernburg. Materialsammlung zum Thema „Zwangssterilisation und Euthanasie unter dem NS-Regime“, S. 33)

Die Tötungen fanden in sechs ausgesuchten abgelegenen Anstalten statt. Die Betroffenen wurden aus sämtlichen Krankenhäusern in diese Anstalten gebracht und dort binnen kürzester Zeit durch toxische Injektionen und später (ab 1940) in Gaskammern (getarnte Duschräume) getötet. Tausende starben durch dieses effektive Morden. (Hrsg. Gedenkstätte Bernburg. Materialsammlung zum Thema „Zwangssterilisation und Euthanasie unter dem NS-Regime“, S. 27f)

Die Angehörigen erhielten die Asche ihrer Familienmitglieder, einen standardisierten Trostbrief und einen fingierten Totenschein. Als Todesursache wurden beispielsweise Angina oder Grippe angegeben. Es kam sogar vor, dass manche Opfer an einer Blindarmentzündung verstarben, die bereits keinen Blinddarm mehr hatten. Diese unwahrscheinlichen Todesursachen, die überdurchschnittlich gehäuften Todesfälle und die geheimnisvollen Krankentransporte in die Anstalten ließen in der Öffentlichkeit Gerüchte entstehen.

Proteste – insbesondere von Seiten der Kirche – und die Vehemenz der ausländischen Presse führten dazu, dass die „Aktion T4“ im August 1941 offiziell gestoppt wurde. (Hrsg. Gedenkstätte Bernburg. Materialsammlung zum Thema „Zwangssterilisation und Euthanasie unter dem NS-Regime“, S. 29) Das „Euthanasie“ Programm lief jedoch inoffiziell – aber nicht mehr institutionalisiert weiter. Die Opfer starben nun durch Nahrungsentzug, Vernachlässigung, Medikamentenvergiftung oder mit Hilfe von Arbeitsüberlastung. Der Nachfolger der auslaufenden „Aktion T4“ war im Herbst 1941 die Aktion „Sonderbehandlung 14 f 13“ (Aktenzeichen des Inspekteurs der Konzentrationslager). Davon betroffen waren vor allem Invalide oder Personen, die meist ohne jegliche Untersuchung dazu erklärt wurden. Die Opfer starben offiziell im KZ, wo auch der Tod beurkundet wurde. In Wirklichkeit wurden diese weiterhin in den „Euthanasie“ Einrichtungen umgebracht – teilweise bis kurz vor Einmarsch der Alliierten.
...


© Rose K., Mrbg., November 2000

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