Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Der Stoff des Klappstuhls gab unter seinem Gewicht nach, als Luigis massiger Körper in sich zusammen sank, wĂ€hrend er ĂŒber das Wasser starrte. Ein Windhauch bewegte das Schilf. Fischreiher standen in den NebelbĂ€nken, KrĂ€hen krĂ€chzten auf den Ăckern.
Die Pose zuckte. Luigi riss die Angel hoch. Nichts. Er warf sie wieder aus. Ihn fröstelte. Sie hatten den ersten MÀrz, und es war zu kalt am Fluss.
Nebel umhĂŒllte ihn mit klammen Fingern. Ăcker, Reiher, Fluss und Schilf lösten sich in weiĂen Dunst auf. Luigi hörte etwas brummen, dann dachte er an zu Hause und wartete, bis sich der Nebel verzog.
âWo kommst denn du her!â Die Stimme hatte einen fremden Akzent und kam vom anderen Ufer. Luigi sah, dies war nicht sein Fluss. Dieser war breiter, viel breiter. Kleine Inseln mit rotblĂ€ttrigen BĂ€umen, die sich im Wasser spiegelten. Vier grĂŒngefiederte Schwingen, mit denen Vögel von Insel zu Insel flogen, und Luigi erschrak.
âWo kommst denn du her!â Luigi blickte gegen das blĂ€uliche Licht der Sonne und wurde bleich im Gesicht, als er zwei Monde, perlmutterfarben, opalisierend, am Horizont entdeckte. Am anderen Ufer sah er den dunklen Umriss eines Mannes.
âIch bin Luigi aus Buona Compra.â
âIch bin Zehn. Bist du registriert?â
âWas heiĂt das?â
âDort ist eine BrĂŒcke.â Luigis Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Mannes.
âKomm rĂŒber.â
Seine Muskeln verkrampften sich, als Furcht sich in ihm ausbreitete. Mit steifen Bewegungen nĂ€herte er sich der BrĂŒcke. Wo bin ich, fragte er sich, als er ĂŒber sie hinweg ging, und er blickte auf die Vögel mit den grĂŒnen FlĂŒgeln ĂŒber dem trĂ€g dahinflieĂenden GewĂ€sser. Wo bin ich? Ăcker und Fischreiher waren verschwunden. Eine rostbraune Steppe dehnte sich bis zum Horizont, hin zu einer Bergkette. HĂ€user kauerten vor deren AuslĂ€ufern. Braune Echsen flĂŒchteten aus silbrigen und schwarzen GrĂ€sern und verschwanden hinter dornigen StrĂ€uchern und Disteln.
Der Fremde war alt. Ein grauer Bart verdeckte die untere HĂ€lfte des schmalen Gesichts mit der gekrĂŒmmten Nase und den zusammen gekniffenen Augen. Seine grauen Haare fielen auf den braunen Umhang, unter dem Beine wie weiĂe Stöcke aus SchnĂŒrstiefeln ragten. Er war nicht gröĂer als der Holzkarren neben ihm. Ein Tier schnaubte, schĂŒttelte den Kopf hin und her und scharrte mit den Hufen. Sechs Beine, gepanzertes Hinterteil. Wo die Panzerplatten in Haut ĂŒbergingen, wellte die sich grĂŒnlich bis zur breiten Brust. Der kleine Kopf drehte sich zu ihm hin. Rote Augen starrten Luigi an.
âSteig aufâ, rief der Mann. Sie kletterten auf den Bock, dann schnalzte der Alte mit der Zunge. Der Karren rumpelte ĂŒber die braune Ebene. Echsen schossen aus den GrĂ€sern hervor und liefen in alle Richtungen.
âWo bin ich?â, fragte Luigi verwirrt.
âWillkommen in Neu-Italien.â
Neu-Italien? Mamma, dachte Luigi. Wie wird sie mich vermissen. Sie wird die Carabinieri gerufen haben und sein Foto ist sicher schon in der Sendung âWer hat sie gesehen?â. Er sah im Geiste, wie Taucher den Fluss absuchten und fing an zu zittern.
âIch muss zurĂŒck!â, rief er und sprang von der Karre.
Der Mann hielt den Wagen an. âDas hat noch niemand geschafft. Steig ein.â
Ein Pfeifen kam vom Himmel her, als ein metallenes Objekt auf sie zu schoss. Ein Feuerstrahl fraà sich neben Luigi in den Boden. Das FluggerÀt drehte ab.
âDer Vollstrecker!â, rief der Mann. âHocke dich unter den Reno, andernfalls tötet er dich.â
âDer Reno?â
âDer Vollstrecker!â
âUnd wer ist der Reno?â
âDas Tier hier! Mach schon!â, schrie der Alte und deutete auf das Zugtier.
Luigi hechtete zwischen dessen Beine und kauerte sich auf den Boden. Die Drohne pfiff ĂŒber sie hinweg. Luigi kroch unter dem Tier hervor. Das Objekt verschwand hinter einem GebĂ€ude am Fluss, das metallisch in der Sonne funkelte.
Der Alte folgte seinem Blick.
âDie Stationâ, meinte er. âDu brauchst einen Namen, musst dich registrieren lassen.â
âIch habe einenâ, protestierte Luigi. âIch heiĂe Luigi.â
âUnd ich Zehn. Luigi ist kein Name.â Zehn zog ein Halsband hervor. Luigi sah den metallenen AnhĂ€nger. Eine Zehn leuchtete rot. Unter dem Display befanden sich kleine Knöpfe in einem sechseckigen Feld.
Schweigend fuhren sie dahin. Steinmauern zogen sich um grĂŒne Felder. War es GemĂŒse? Es waren keine Pflanzen, die Luigi kannte. Kein Getreide. Luigi sah Mamma vor sich, wie sie den Nudelteig ausrollte.
Sie nÀherten sich der HÀusergruppe. Flache GebÀude aus behauenem Granit. Nummern neben den EingÀngen. 98 51. 26 33. Sie fuhren weiter und hielten vor dem letzten Haus. Luigi las 10 97.
Ăllampen warfen ihre Schatten auf eine junge Frau, die in der KĂŒche vor einem Herd stand.
âGib dem Mann zu essen!â, rief Zehn und polterte aus dem Raum. Die Frau kam mit einem Salatteller und einer Suppe. Sie setzte sich zu Luigi an den Tisch, sah an ihm vorbei und sagte: âMa.â Nach einigen Sekunden sagte sie wieder âMaâ, und Luigi sah seine Mutter in ihrem geblĂŒmten Kleid vor sich, robust und wuchtig, mit Armen, von denen die Dörfler sagten, sie könne damit einen Ochsen zu Boden zwingen. Luigi sah, wie sie am Tisch saĂ, wenn Carlo, sein Bruder, ihr die Rente abnahm und Mamma erzĂ€hlte, dass es nur zu ihrem Besten sei. âMaâ sagte dann auch sie. Immer wieder âMaâ.
âIst was passiert?â Wie hieĂ die Frau? Luigi konnte sich keine Nummern merken. Nach einer Pause sagte sie: âSechsunddreiĂig ist tot. Er war mein Mannâ.
âMein tiefstes MitgefĂŒhl.â Luigi lieĂ eine Minute verstreichen. Dann setzte er zu einer weiteren Frage an: âBauen Sie Getreide an? Kennen Sie Pizza, Polenta?â
Die Frau schĂŒttelte den Kopf. âOder Pasta Asciutta wie Tortellini, Ravioli, Fettucine, Lasagna, Tagliatelle, Spaghetti?â Die Frau verneinte auch dies. Luigi hörte ihr âMaâ, wĂ€hrend er unglĂ€ubig in der Suppe stocherte. Er lieĂ den Löffel fallen. Dann kam es auch aus seinem Mund: âMaâ. Verzweiflung echote von einer Person zur anderen.
Zehn kam ins Zimmer. Er hielt ein Halsband hoch und steckte es in seine Jackentasche.
âGehörte einem Verstorbenen. Fahren wir zur Registrierung, bevor es dunkel wird.â Er schaute zu seiner Frau hinĂŒber und schĂŒttelte den Kopf. Als sie in den Karren stiegen erklĂ€rte er: âMeine Frau kommt nicht ĂŒber den Tod von SechsunddreiĂig hinweg. Sie war mit ihm zusammen, bevor ich sie bekam.â
âBekam?â
âIm Sommerfest vor ein paar Tagen. SechsunddreiĂig hat es nicht verwunden und sich in den Fluss gestĂŒrzt. Heute war ich wieder dort, um ihn zu suchen. Irgendwann kommen sie alle hoch.â
Sie fuhren in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Zehn lenkte das Tier zu dem metallenen GebÀude neben dem Fluss. Es stand schief am Ufer. Eine Seite war im Boden versunken. Wieder hörte Luigi das brummende GerÀusch.
âWas ist das?â
âDie Station.â Sie traten ein. Aggregate surrten. Luigi presste eine Hand gegen die vibrierende Wand. Das GebĂ€ude war gröĂer als dieser Saal. Licht kam von der Decke. Bildschirme hingen an einer Wand. Einer war aktiv.
Zehn zog das Halsband aus der Jackentasche. Das Display des AnhÀngers zeigte nichts an.
âDie SechsundreiĂig ist frei geworden, als er den Tod fand.â Der Registrierprozess war einfach. Zehn steckte den AnhĂ€nger in ein Loch unter dem Monitor, zog ihn heraus und hĂ€ngte Luigi das Halsband um.
âUnd nun heiĂt du so.â Luigi betrachtete das Display, auf dem ihn die SechsunddreiĂig anstarrte. Er ging zu den anderen Bildschirmen.
âWas zeigen die?â
âDas wissen wir nicht.â Zehn ging zum Ausgang. âDas Haus war bewohnt. Seltsame Wesen waren es. Sie zeigten unseren Urahnen, wie sie sich zu registrieren hatten, dann verschwanden sie.â
Als Zehn und Luigi auf den Wagen zu gingen, drehte sich Luigi noch einmal um.
âWieso steckt das GebĂ€ude so schief im Grund?â
âEs war bereits hier, als die ersten von uns in dieses Land kamen. Das sagen unsere Aufzeichnungen.â Luigi ging zurĂŒck. Seine Hand strich ĂŒber einen Vorsprung, der aus der MetallhĂŒlle ragte.
âEin Sternenschiffâ, meinte er.
âVor Generationen wies die Haut Löcher auf, war von tiefen Rissen durchzogen. Jetzt sind sie nicht mehr zu sehen. Das Haus heilte sich selbst.â
Warum fliegt es dann nicht fort?, dachte Luigi. Von alledem fĂŒhlte er sich ĂŒberwĂ€ltigt. Wieso war er nicht in seinem Dorf? Wer hatte ihn in diese Welt gebracht? Was war mit Mamma?
Er hörte ein schabendes GerĂ€usch. Ein Loch öffnete sich in der HĂŒlle. Die Drohne flog heraus und verschwand am Horizont.
âDer Vollstrecker, er lebt hier?â Zehn sah dem Objekt nach.
âEs ist eine Maschine,â bemerkte Luigi.
Der Alte stieg auf den Karren. âEr ist es, der uns tötet.â
WĂ€hrend sie zum Dorf zurĂŒck fuhren, erklĂ€rte der Alte: âKommen zu viele Kinder auf die Welt, fliegt der Vollstrecker herbei und tötet die Alten.â
âZu viele?â, fragte Luigi.
âUnsere Zahl bleibt konstantâ, antwortete Zehn. âUm die hundert Personen. Es können bis zu zwanzig mehr oder weniger sein. Doch mehr als hundertzwanzig werden vom Vollstrecker nicht toleriert. Sind es weniger als achtzig, werden Personen wie du aus der Heimat geholt.â
âDann hast du ja zur Zeit nichts zu befĂŒrchtenâ. Absurd, das Ganze, dachte Luigi und schĂŒttelte den Kopf.
âDie ersten Generationen von uns wussten nicht, worauf der Vollstrecker hinaus wollteâ, fuhr der Alte fort. âEr vernichtete die HĂ€user, in denen alte Personen lebten. Mit der Zeit fanden meine Vorfahren heraus, dass Alte den Kindern zu weichen hatten, und sie stellten PfĂ€hle auf dem Marktplatz auf, woran die Alten gebunden wurden. Damit blieben die HĂ€user verschont.â Zehn blickte Luigi von der Seite an. âDann fing unsere Generation an, die Geburten zu regulieren.â
Im Dorf fuhr Zehn zu einem anderen Haus. âBei uns kannst du nicht schlafenâ, sagte er. âMeine Frau wĂŒrde an ihren verstorbenen Mann denken, sĂ€he sie deinen Namen.â Zehn deutete auf Luigis AnhĂ€nger. âIch möchte, dass sie ihn vergisst.â
Neben dem Eingang war eine Dreizehn an die Wand gemalt. In der geöffneten TĂŒr stand eine Frau.
âSechsunddreiĂig wird bei dir wohnenâ, sagte Zehn zu ihr. âBehandle ihn gut.â
Luigi sprang vom Wagen und Zehn fuhr davon. Zögernd ging Luigi auf die Frau zu. Sie war hoch gewachsen und trug einen grauen Umhang. Die FĂŒĂe steckten in SchnĂŒrsandalen. Ihre langen braunen Haare umrahmten ein schmales und ernstes Gesicht. Sie war jĂŒnger als Luigi, der die DreiĂig schon seit fĂŒnf Jahren ĂŒberschritten hatte. Die MĂŒdigkeit ihres Ausdrucks lieĂ sie Ă€lter erscheinen. Sie machte ihm Platz und schenkte ihm ein gequĂ€ltes LĂ€cheln. Luigi folgte der Frau in ein kleines Zimmer, in dem Ăllampen ihr schwaches Licht auf einen niedrigen Tisch warfen. Felle lagen auf dem Boden.
âIch möchte dorthin zurĂŒck, wo ich her gekommen binâ, sagte Luigi, und blickte sie fragend an. Die Frau sah an ihm vorbei.
SpĂ€ter, als sie stumm die Suppe in sich hinein löffelten, begann er mit sich und seinem Schicksal zu hadern. Als ihm Dreizehn im Bett den RĂŒcken zukehrte und die Geschehnisse der vergangenen Stunden an ihm vorbei zogen, war Luigi, als sei er in einem Alptraum gefangen. Bilder quĂ€lten ihn. Von Mamma, seinem Bruder Carlo, die seines Dorfes und erst als es heller wurde, gelang es ihm, die Attacke seiner Erinnerungen abzuwehren. SpĂ€ter trugen ihm die DorfĂ€ltesten die Geschichte ihres Dorfes vor.
âVor vielen hundert Jahren hatte die Station die ersten von uns in dieses Land geholt. Sie war von Wesen bewohnt, die sich Noks nannten und unsere Sprache kannten. Diese Skizze haben wir aus den Aufzeichnungen kopiert.â Einer der MĂ€nner schob ein Bild ĂŒber den Tisch. Luigi sah einen Humanoiden, der ein Halsband in der Hand hielt. Die anderen drei HĂ€nde streckten sich ihm wie zum GruĂ entgegen.
âJedoch alles, was sie uns gaben, waren einhundertzwanzig HalsbĂ€nder mit AnhĂ€ngern. Sie befahlen uns, sich registrieren zu lassen, zeigten es uns und verschwanden.â
âKennt ihr den Begriff Getreide? Oder die Wörter Weizen, Mais?â
âAus dem Beginn unserer Aufzeichnungen. Unsere Vorfahren meinten, sie brauchten sie fĂŒr ihre Nahrungsmittel und unternahmen Versuche, hiesige GrĂ€ser zu kultivieren. Sie hatten keinen Erfolg.â
Soviel zu Tortellini, dachte Luigi resigniert. Die Alten trugen ihm auf, im Steinbruch zu arbeiten.
Die Italiens, so nannten sich die Dörfler, hatten die Siebentagewoche von der Erde ĂŒbernommen. Das Jahr war lĂ€nger, hatte dreiundsiebzig Wochen. Davon zog eine nach der anderen an Luigi vorbei, wĂ€hrend er die Felsen bearbeitete. Granit, der sich, wie die MĂ€nner sagten, zur Zeit der Gletscherwanderungen von den Bergen gelöst hatte. Luigi gewöhnte sich an das neue Leben, wollte es nicht mehr missen. Die Rauheit der Berge, der Steppe. Hier musste jeder Hand anlegen, damit das Gemeinwesen funktionierte. Hier war er Jemand.
Abends saĂen die MĂ€nner im Wirtshaus um Luigi herum, tranken Schnaps, der aus den BlĂ€ttern des Kohls, den sie Collardo nannten, gebrannt wurde und lauschten seinen ErzĂ€hlungen. Sie wollten wissen: Wie ging es in der Welt zu, aus der ihre Ahnen stammten? Luigi erzĂ€hlte von Mammas Nudelteig, wie sie ihn ausrollte, mit flinken HĂ€nden die Pasta zu Tortellini formte. Luigi brachte den MĂ€nnern das Kartenspiel Briscola bei. Er hörte genug von ihnen, um Dreizehn zu verstehen. Luigi wusste, dass sie sich mit Webarbeiten ihren Lebensunterhalt verdiente, jetzt erfuhr er, wie die Frauen ihren MĂ€nnern untersagten, ein Wort an sie zu richten, wie sie aus dem Laden stoben, wenn Dreizehn ihre EinkĂ€ufe tĂ€tigte und Luigi dachte an Mamma. Auch sie war aberglĂ€ubisch, doch dies hier hĂ€tte sie nicht mitgemacht. Sie hĂ€tte den Frauen Bescheid gegeben, denn sie nahm kein Blatt vor den Mund wenn sie wĂŒtend wurde, und Luigi entschied, dass er Dreizehn mochte. An Feiertagen zeigte er sich mit ihr im Dorf.
âIch bin Dreizehn, die UnglĂŒckszahlâ. Sie sagte es nicht mehr so oft. Und wenn sie zu weinen anfing, setzte er sich mit ihr auf die Kissen vor dem flachen Tisch und wiegte sie in seinen Armen. Luigi spĂŒrte, dass auch er sich Ă€nderte. FrĂŒher, als Mamma geweint hatte, war er in die Bar gelaufen oder zum Angeln gefahren.
âIch bin nicht aberglĂ€ubischâ, sagte Luigi nun und kreuzte die Finger hinter seinem RĂŒcken.
Wenn sie zusammen im Bett lagen, bedrÀngte Luigi sie. Doch Dreizehn wehrte sich.
âIch kann keine Kinder bekommenâ, hatte sie einmal gesagt.
âUm so besser,â hatte er geantwortet und Dreizehn mit KĂŒssen bedeckt.
âNein, nicht wie du denkst. Sie wollen nicht, dass ich ein Kind bekomme und meinen, es brĂ€chte UnglĂŒck. Sie wĂŒrden es nicht registrieren lassen, und dann wĂ€re es nur eine Frage der Zeit. Der Vollstrecker wĂŒrde es töten.â Doch es war nur eine Frage der Zeit, dass Dreizehn Luigis DrĂ€ngen nachgab.
Nachts trĂ€umte Luigi davon, eine MĂŒhle an einem Gebirgsbach zu bauen. Er sah, wie sich ein Wasserrad drehte und die MĂŒhle Mehl machte, dann wachte er auf. Getreide. Er brauchte Getreide. Mamma, er wollte Mamma, und er dachte an das Tortellinifest. Jedes Jahr gab es in Buona Compra das Tortellinifest, das eine ganze Woche andauerte und zu dem hunderte von Menschen aus den benachbarten Dörfern kamen. WĂ€hrend dieser Zeit machten die Frauen des Dorfes Tortellini fĂŒr die GĂ€ste. Mit KĂŒrbis, Sahne, Salami, Schinken.
Der Herbst zog vorbei. Die braunen StrĂ€ucher und Disteln der Steppe wurden wĂ€chsern. Dreizehn wurde schwanger, und fĂŒr Luigi begann eine schreckliche Zeit. Er musste ansehen, wie Dreizehn sich in ihr Innerstes zurĂŒck zog und sich ihm verweigerte.
âMein Kindâ, weinte sie. âSie werden es töten.â Doch meistens blieb sie stumm und tat, als sei Luigi nicht vorhanden, und sie ging nicht mehr aus dem Haus.
Die Eidechsen verzogen sich in ihre Löcher als der Winter kam, und mit ihm das Winterfest. Wie das Sommerfest wurde es begangen, um fĂŒr die vergangene Ernte zu danken und eine gute Ernte im neuen Jahr zu erbitten. Es gipfelte in dem Erntetanz. Luigi und Dreizehn wurden nicht eingeladen, und Luigi war froh darĂŒber. Er wusste: Getanzt wurde in der Erntehalle. Paare stellten sich im Kreis auf. MĂ€nner auf der Innenseite, Frauen auĂen. WĂ€hrend die Musik spielte, tanzten die Paare ein paar Figuren. Die MĂ€nner rĂŒckten nach links, die Frauen nach rechts und tanzten die gleichen Figuren mit dem neuen Partner. Der Partnerwechsel setzte sich so lange fort, bis die Musik aufhörte. Die neuen Paare blieben fĂŒr ein halbes Jahr zusammen. Kinder blieben bei der Frau. Die Wochen danach zerrten an den Nerven der Dörfler, und manch einer konnte sich nicht mit einem neuen Partner abfinden.
âMachen alle mit?â, hatte Luigi gefragt. âJa,â wurde ihm geantwortet.
âBis auf Kinder, Kranke und diejenigen, die keinen Partner haben.â
Zehn, der glĂŒckliche Bastard, dachte Luigi. Das letzte Mal hat er es gut getroffen.
âWie froh bin ich, dass man uns die Teilnahme verboten hatâ, sagte er zu Dreizehn. âIch möchte dich nicht verlierenâ. Und er nahm sich vor, zu dem Sternenschiff zu fahren, welches die Dörfler Station nannten. Das Winterfest war der geeignete Zeitpunkt. Luigi zog den Reno aus dem Stall, spannte ihn vor den Karren. Als er los fuhr, kam Dreizehn schreiend aus dem Haus gerannt und lief hinter dem Karren her.
Sie fuhren zur Station. Es schneite. Ein kalter Wind zauste StrĂ€ucher und Disteln. Wachsbleiche Wellen wogten ĂŒber die Steppe. Luigi zog sich die Kapuze ĂŒber den Kopf.
Das Brummen der Station schien intensiver. Die Position des Schiffes hatte sich verĂ€ndert. Es arbeitet sich aus dem Grund, dachte Luigi. Im Saal waren vier weitere Bildschirme aktiv. Der Boden vibrierte unter seinen FĂŒĂen, dann spĂŒrte er eine ErschĂŒtterung.
âEs ist anders als sonstâ, rief Luigi Dreizehn zu, als er die Reihe der Bildschirme entlang ging. Die Station erwachte. So schien es ihm, und er fĂŒhlte, dass nicht mehr viel Zeit blieb. FĂŒr was? Ein Display zeigte eine Halle. Mannshohe Zylinder standen nebeneinander an den WĂ€nden, BehĂ€lter aus einem plastikĂ€hnlichen Material. Die meisten waren geöffnet und leer. Andere waren verschlossen. Hinter der HĂŒlle sah Luigi Schatten, Rumpf, Beine, vier Arme. Bewegungslos.
Ein anderes Display zeigte das Ufer des Flusses. Unter dem Bildschirm befanden sich Tasten in einem sechseckigen Feld. Wie auf Luigis AnhĂ€nger. Vier Tasten leuchteten. Luigi zog eine Spange aus Dreizehns Haar. Es fiel ihr ĂŒber die Schultern. Wie schön sie ist, dachte Luigi und versank in ihren Augen. Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Sie trug sein Kind. Ein kleines LĂ€cheln umspielte ihren Mund. TrĂ€nen liefen ihre Wangen hinab. Luigi blieb wie verzaubert, bis der Boden unter seinen FĂŒĂen bebte. Er zog das Halsband ĂŒber den Kopf, ergriff den AnhĂ€nger und drĂŒckte mit der Haarspange die winzigen Tasten, wie sie auf der Konsole leuchteten.
Dreizehn wollte etwas sagen, brach mitten im Wort ab, stand mit groĂen Augen vor dem Monitor. Er zeigte Luigis Angelfluss. Luigi nahm Dreizehn an die Hand und zog sie zum Ausgang. Sie sprangen auf den Wagen und fuhren weiter auf das Ufer zu. Eine glasige, undurchsichtige Barriere stellte sich ihnen in den Weg. Luigi sah, dass sie sich bis in den Himmel ausdehnte.
âWas jetzt?â Luigi blickte Dreizehn fragend an. Sie zog eine weitere Spange aus ihrem Haar, sah Luigi an und dann ihren AnhĂ€nger. Als sie mit der Spange die Tasten bearbeitete, löste sich die Barriere auf. Ihnen zeigte sich der vertraute Fluss mit den Inseln aus rotblĂ€ttrigen BĂ€umen. Sie fuhren ĂŒber die BrĂŒcke ans andere Ufer.
âDie Tasten!â, rief Luigi und Dreizehn wiederholte die Prozedur. Nebel zog ĂŒber sie hinweg, und als Luigi sah, dass er sich an seinem Angelfluss befand, schaute er nach seinem Auto. Es war fort.
Die Leute von Buona Compra rieben sich die Augen, als Luigi mit Dreizehn durch den Ort fuhr. Der Reno mit sechs Beinen, seinem gepanzerten Hinterteil, dem Winterfell. Sie rieben sich die Augen, die Leute von Buona Compra, und bevor jemand die Carabinieri hÀtte rufen können, hatte Luigi den Wagen hinter dem Haus von Mamma abgestellt.
âMamma! Mamma!â, rief er und öffnete die TĂŒr. Mamma rang nach Luft, als sie ihn sah und fing an zu weinen.
âMamma, das ist Dreizehn. Wir sind gekommen, dich zu uns zu holen. Oder, Dreizehn, willst du hierbleiben?â
Luigi dachte an die Einwanderungsbehörde. Wie heissen Sie? Dreizehn. Dreizehn? Woher haben Sie gesagt, kommen Sie? Aus Neu-Italien? Und dann dachte er an Carlo.
âLieber nichtâ, beantwortete Luigi seine Frage. âDreizehn, unterhalte dich mit Mamma. Ich muss noch mal los, Saatgut besorgen. Und Dreizehnâ,
Luigi strahlte, âwir werden Getreidefelder anlegen, Mehl herstellen. Mamma wird Tortellini machen. Esskultur! Wir bringen Esskultur nach Neu-Italien!â
Luigis Auto stand allein in der Garage. Carlo sitzt in der Bar und verprasst Mamas Rente beim Videopoker, dachte Luigi. Diesmal war er froh darĂŒber.
Der SaatguthĂ€ndler wuchtete zwei SĂ€cke mit Weizen und Mais in seinen Wagen. Luigi nahm noch ein paar TĂŒten Tomatensamen mit. âBezahlt Carloâ, sagte er. Zu Hause sah er Mamma hĂ€nderingend vor dem Reno, der mit dem Karren in ihrem GemĂŒsegarten stand und einen Salatkopf nach dem anderen fraĂ. Luigi lud die SĂ€cke auf den Karren.
âMamma, steig auf. Die Zeit wird knapp.â
âUnd Carlo?â
âDen holen wir spĂ€ter.â
Luigi und Dreizehn fuhren so schnell es nur ging durch den Ort auf den Fluss zu. Mit offenem Mund sahen ihnen die Leute nach, beobachteten, wie Mamma sich an den SĂ€cken fest hielt. Kinder folgten johlend und schreiend auf ihren RĂ€dern.
Am Fluss drehte sich der Reno zu den Kindern um. Seine roten Augen hielten sie auf Abstand. Dreizehn nahm ihre Spange und drĂŒckte die Knöpfe. Als sich der Nebel verzogen hatte, fiel Mamma in Ohnmacht. Neu-Italien. Luigi blickte auf seinen AnhĂ€nger.
âDreizehn. Unsere Namen sind weg!â
âWir mĂŒssen uns registrieren lassen! Und ich bekomme einen neuen Namen und kann mein Kind behalten!â, rief sie lachend und kĂŒsste ihn. Und ich habe sie nur noch bis zum Sommerfest dachte Luigi. Und was wĂŒrde aus ihrem Kind? Ihm wurde ĂŒbel.
âSieh dort!â, rief Dreizehn und zeigte in die Richtung des Dorfes. Luigi sah schwarze Punkte am Horizont. Wie Kakerlaken, die aus einer Dose krabbelten. Doch kamen sie schnell nĂ€her. Gespanne aus dem Dorf. Dörfler auf dem Weg zur Station.
Luigi brachte den Wagen ĂŒber die BrĂŒcke und hielt an. Es war, als sei das ganze Dorf unterwegs. Die Drohne in der Luft umkreiste die Gespanne wie ein Hirtenhund. Zehn jagte mit seiner neuen Frau an Luigi vorbei. Der fuhr mit seinem Wagen hinterher.
âWo bist du gewesen?â, rief Zehn.
âWas ist los?â, brĂŒllte Luigi zurĂŒck.
âWir haben keine Namen mehr!â Zehn zeigte auf seinen AnhĂ€nger, dann nach oben. âMĂŒssen uns alle registrieren lassen!â. Lautes Brummen vermischte sich mit dem Rattern der Wagen. Das Sternenschiff schwebte einige Zentimeter ĂŒber dem Boden. Dann fing es an zu pfeifen. Schreiend sprangen die Dörfler ab und drĂ€ngten sich durch den Eingang. MĂŒtter trugen Kinder, Alte schleppten sich in das Schiff. Die Drohne schob sich in die Wand.
âBleib hier!â brĂŒllte Luigi, doch es war zu spĂ€t. Entsetzt sah er, wie Dreizehn mit den anderen im Raumschiff verschwand.
âDreizehn, komm zurĂŒck!â heulte er und kletterte vom Wagen. Was interessierte es ihn, ob sie eine neue Nummer bekam. Er wollte sie, er wollte sein Kind. Dann drehte er sich um. Mamma richtete sich stöhnend auf. Die Triebwerke des Sternenschiffes sprangen an. Luigi lief auf das Raumschiff zu, kehrte um, sah auf Mamma und weinte, sah wie sich die Luke schloss, das Sternenschiff in die LĂŒfte stieg und im Blau des Himmels verschwand.
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