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Juli 2003
Mamma
von Klaus Eylmann


Der Stoff des Klappstuhls gab unter seinem Gewicht nach, als Luigis massiger Körper in sich zusammen sank, wĂ€hrend er ĂŒber das Wasser starrte. Ein Windhauch bewegte das Schilf. Fischreiher standen in den NebelbĂ€nken, KrĂ€hen krĂ€chzten auf den Äckern.
Die Pose zuckte. Luigi riss die Angel hoch. Nichts. Er warf sie wieder aus. Ihn fröstelte. Sie hatten den ersten MÀrz, und es war zu kalt am Fluss.
Nebel umhĂŒllte ihn mit klammen Fingern. Äcker, Reiher, Fluss und Schilf lösten sich in weißen Dunst auf. Luigi hörte etwas brummen, dann dachte er an zu Hause und wartete, bis sich der Nebel verzog.
“Wo kommst denn du her!” Die Stimme hatte einen fremden Akzent und kam vom anderen Ufer. Luigi sah, dies war nicht sein Fluss. Dieser war breiter, viel breiter. Kleine Inseln mit rotblĂ€ttrigen BĂ€umen, die sich im Wasser spiegelten. Vier grĂŒngefiederte Schwingen, mit denen Vögel von Insel zu Insel flogen, und Luigi erschrak.
“Wo kommst denn du her!” Luigi blickte gegen das blĂ€uliche Licht der Sonne und wurde bleich im Gesicht, als er zwei Monde, perlmutterfarben, opalisierend, am Horizont entdeckte. Am anderen Ufer sah er den dunklen Umriss eines Mannes.
“Ich bin Luigi aus Buona Compra.”
“Ich bin Zehn. Bist du registriert?”
“Was heißt das?”
“Dort ist eine BrĂŒcke.” Luigis Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Mannes.
“Komm rĂŒber.”
Seine Muskeln verkrampften sich, als Furcht sich in ihm ausbreitete. Mit steifen Bewegungen nĂ€herte er sich der BrĂŒcke. Wo bin ich, fragte er sich, als er ĂŒber sie hinweg ging, und er blickte auf die Vögel mit den grĂŒnen FlĂŒgeln ĂŒber dem trĂ€g dahinfließenden GewĂ€sser. Wo bin ich? Äcker und Fischreiher waren verschwunden. Eine rostbraune Steppe dehnte sich bis zum Horizont, hin zu einer Bergkette. HĂ€user kauerten vor deren AuslĂ€ufern. Braune Echsen flĂŒchteten aus silbrigen und schwarzen GrĂ€sern und verschwanden hinter dornigen StrĂ€uchern und Disteln.
Der Fremde war alt. Ein grauer Bart verdeckte die untere HĂ€lfte des schmalen Gesichts mit der gekrĂŒmmten Nase und den zusammen gekniffenen Augen. Seine grauen Haare fielen auf den braunen Umhang, unter dem Beine wie weiße Stöcke aus SchnĂŒrstiefeln ragten. Er war nicht grĂ¶ĂŸer als der Holzkarren neben ihm. Ein Tier schnaubte, schĂŒttelte den Kopf hin und her und scharrte mit den Hufen. Sechs Beine, gepanzertes Hinterteil. Wo die Panzerplatten in Haut ĂŒbergingen, wellte die sich grĂŒnlich bis zur breiten Brust. Der kleine Kopf drehte sich zu ihm hin. Rote Augen starrten Luigi an.
“Steig auf”, rief der Mann. Sie kletterten auf den Bock, dann schnalzte der Alte mit der Zunge. Der Karren rumpelte ĂŒber die braune Ebene. Echsen schossen aus den GrĂ€sern hervor und liefen in alle Richtungen.
“Wo bin ich?”, fragte Luigi verwirrt.
“Willkommen in Neu-Italien.”
Neu-Italien? Mamma, dachte Luigi. Wie wird sie mich vermissen. Sie wird die Carabinieri gerufen haben und sein Foto ist sicher schon in der Sendung ‘Wer hat sie gesehen?’. Er sah im Geiste, wie Taucher den Fluss absuchten und fing an zu zittern.
“Ich muss zurĂŒck!”, rief er und sprang von der Karre.
Der Mann hielt den Wagen an. “Das hat noch niemand geschafft. Steig ein.”
Ein Pfeifen kam vom Himmel her, als ein metallenes Objekt auf sie zu schoss. Ein Feuerstrahl fraß sich neben Luigi in den Boden. Das FluggerĂ€t drehte ab.
“Der Vollstrecker!”, rief der Mann. “Hocke dich unter den Reno, andernfalls tötet er dich.”
“Der Reno?”
“Der Vollstrecker!”
“Und wer ist der Reno?”
“Das Tier hier! Mach schon!”, schrie der Alte und deutete auf das Zugtier.
Luigi hechtete zwischen dessen Beine und kauerte sich auf den Boden. Die Drohne pfiff ĂŒber sie hinweg. Luigi kroch unter dem Tier hervor. Das Objekt verschwand hinter einem GebĂ€ude am Fluss, das metallisch in der Sonne funkelte.
Der Alte folgte seinem Blick.
“Die Station”, meinte er. “Du brauchst einen Namen, musst dich registrieren lassen.”
“Ich habe einen”, protestierte Luigi. “Ich heiße Luigi.”
“Und ich Zehn. Luigi ist kein Name.” Zehn zog ein Halsband hervor. Luigi sah den metallenen AnhĂ€nger. Eine Zehn leuchtete rot. Unter dem Display befanden sich kleine Knöpfe in einem sechseckigen Feld.
Schweigend fuhren sie dahin. Steinmauern zogen sich um grĂŒne Felder. War es GemĂŒse? Es waren keine Pflanzen, die Luigi kannte. Kein Getreide. Luigi sah Mamma vor sich, wie sie den Nudelteig ausrollte.
Sie nÀherten sich der HÀusergruppe. Flache GebÀude aus behauenem Granit. Nummern neben den EingÀngen. 98 51. 26 33. Sie fuhren weiter und hielten vor dem letzten Haus. Luigi las 10 97.
Öllampen warfen ihre Schatten auf eine junge Frau, die in der KĂŒche vor einem Herd stand.
“Gib dem Mann zu essen!”, rief Zehn und polterte aus dem Raum. Die Frau kam mit einem Salatteller und einer Suppe. Sie setzte sich zu Luigi an den Tisch, sah an ihm vorbei und sagte: “Ma.” Nach einigen Sekunden sagte sie wieder “Ma”, und Luigi sah seine Mutter in ihrem geblĂŒmten Kleid vor sich, robust und wuchtig, mit Armen, von denen die Dörfler sagten, sie könne damit einen Ochsen zu Boden zwingen. Luigi sah, wie sie am Tisch saß, wenn Carlo, sein Bruder, ihr die Rente abnahm und Mamma erzĂ€hlte, dass es nur zu ihrem Besten sei. “Ma” sagte dann auch sie. Immer wieder “Ma”.
“Ist was passiert?” Wie hieß die Frau? Luigi konnte sich keine Nummern merken. Nach einer Pause sagte sie: “Sechsunddreißig ist tot. Er war mein Mann”.
“Mein tiefstes MitgefĂŒhl.” Luigi ließ eine Minute verstreichen. Dann setzte er zu einer weiteren Frage an: “Bauen Sie Getreide an? Kennen Sie Pizza, Polenta?”
Die Frau schĂŒttelte den Kopf. “Oder Pasta Asciutta wie Tortellini, Ravioli, Fettucine, Lasagna, Tagliatelle, Spaghetti?” Die Frau verneinte auch dies. Luigi hörte ihr “Ma”, wĂ€hrend er unglĂ€ubig in der Suppe stocherte. Er ließ den Löffel fallen. Dann kam es auch aus seinem Mund: “Ma”. Verzweiflung echote von einer Person zur anderen.
Zehn kam ins Zimmer. Er hielt ein Halsband hoch und steckte es in seine Jackentasche.
“Gehörte einem Verstorbenen. Fahren wir zur Registrierung, bevor es dunkel wird.” Er schaute zu seiner Frau hinĂŒber und schĂŒttelte den Kopf. Als sie in den Karren stiegen erklĂ€rte er: “Meine Frau kommt nicht ĂŒber den Tod von Sechsunddreißig hinweg. Sie war mit ihm zusammen, bevor ich sie bekam.”
“Bekam?”
“Im Sommerfest vor ein paar Tagen. Sechsunddreißig hat es nicht verwunden und sich in den Fluss gestĂŒrzt. Heute war ich wieder dort, um ihn zu suchen. Irgendwann kommen sie alle hoch.”
Sie fuhren in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Zehn lenkte das Tier zu dem metallenen GebÀude neben dem Fluss. Es stand schief am Ufer. Eine Seite war im Boden versunken. Wieder hörte Luigi das brummende GerÀusch.
“Was ist das?”
“Die Station.” Sie traten ein. Aggregate surrten. Luigi presste eine Hand gegen die vibrierende Wand. Das GebĂ€ude war grĂ¶ĂŸer als dieser Saal. Licht kam von der Decke. Bildschirme hingen an einer Wand. Einer war aktiv.
Zehn zog das Halsband aus der Jackentasche. Das Display des AnhÀngers zeigte nichts an.
“Die Sechsundreißig ist frei geworden, als er den Tod fand.” Der Registrierprozess war einfach. Zehn steckte den AnhĂ€nger in ein Loch unter dem Monitor, zog ihn heraus und hĂ€ngte Luigi das Halsband um.
“Und nun heißt du so.” Luigi betrachtete das Display, auf dem ihn die Sechsunddreißig anstarrte. Er ging zu den anderen Bildschirmen.
“Was zeigen die?”
“Das wissen wir nicht.” Zehn ging zum Ausgang. “Das Haus war bewohnt. Seltsame Wesen waren es. Sie zeigten unseren Urahnen, wie sie sich zu registrieren hatten, dann verschwanden sie.”
Als Zehn und Luigi auf den Wagen zu gingen, drehte sich Luigi noch einmal um.
“Wieso steckt das GebĂ€ude so schief im Grund?”
“Es war bereits hier, als die ersten von uns in dieses Land kamen. Das sagen unsere Aufzeichnungen.” Luigi ging zurĂŒck. Seine Hand strich ĂŒber einen Vorsprung, der aus der MetallhĂŒlle ragte.
“Ein Sternenschiff”, meinte er.
“Vor Generationen wies die Haut Löcher auf, war von tiefen Rissen durchzogen. Jetzt sind sie nicht mehr zu sehen. Das Haus heilte sich selbst.”
Warum fliegt es dann nicht fort?, dachte Luigi. Von alledem fĂŒhlte er sich ĂŒberwĂ€ltigt. Wieso war er nicht in seinem Dorf? Wer hatte ihn in diese Welt gebracht? Was war mit Mamma?
Er hörte ein schabendes GerĂ€usch. Ein Loch öffnete sich in der HĂŒlle. Die Drohne flog heraus und verschwand am Horizont.
“Der Vollstrecker, er lebt hier?” Zehn sah dem Objekt nach.
“Es ist eine Maschine,” bemerkte Luigi.
Der Alte stieg auf den Karren. “Er ist es, der uns tötet.”

WĂ€hrend sie zum Dorf zurĂŒck fuhren, erklĂ€rte der Alte: “Kommen zu viele Kinder auf die Welt, fliegt der Vollstrecker herbei und tötet die Alten.”
“Zu viele?”, fragte Luigi.
“Unsere Zahl bleibt konstant”, antwortete Zehn. “Um die hundert Personen. Es können bis zu zwanzig mehr oder weniger sein. Doch mehr als hundertzwanzig werden vom Vollstrecker nicht toleriert. Sind es weniger als achtzig, werden Personen wie du aus der Heimat geholt.”
“Dann hast du ja zur Zeit nichts zu befĂŒrchten”. Absurd, das Ganze, dachte Luigi und schĂŒttelte den Kopf.
“Die ersten Generationen von uns wussten nicht, worauf der Vollstrecker hinaus wollte”, fuhr der Alte fort. “Er vernichtete die HĂ€user, in denen alte Personen lebten. Mit der Zeit fanden meine Vorfahren heraus, dass Alte den Kindern zu weichen hatten, und sie stellten PfĂ€hle auf dem Marktplatz auf, woran die Alten gebunden wurden. Damit blieben die HĂ€user verschont.” Zehn blickte Luigi von der Seite an. “Dann fing unsere Generation an, die Geburten zu regulieren.”
Im Dorf fuhr Zehn zu einem anderen Haus. “Bei uns kannst du nicht schlafen”, sagte er. “Meine Frau wĂŒrde an ihren verstorbenen Mann denken, sĂ€he sie deinen Namen.” Zehn deutete auf Luigis AnhĂ€nger. “Ich möchte, dass sie ihn vergisst.”
Neben dem Eingang war eine Dreizehn an die Wand gemalt. In der geöffneten TĂŒr stand eine Frau.
“Sechsunddreißig wird bei dir wohnen”, sagte Zehn zu ihr. “Behandle ihn gut.”
Luigi sprang vom Wagen und Zehn fuhr davon. Zögernd ging Luigi auf die Frau zu. Sie war hoch gewachsen und trug einen grauen Umhang. Die FĂŒĂŸe steckten in SchnĂŒrsandalen. Ihre langen braunen Haare umrahmten ein schmales und ernstes Gesicht. Sie war jĂŒnger als Luigi, der die Dreißig schon seit fĂŒnf Jahren ĂŒberschritten hatte. Die MĂŒdigkeit ihres Ausdrucks ließ sie Ă€lter erscheinen. Sie machte ihm Platz und schenkte ihm ein gequĂ€ltes LĂ€cheln. Luigi folgte der Frau in ein kleines Zimmer, in dem Öllampen ihr schwaches Licht auf einen niedrigen Tisch warfen. Felle lagen auf dem Boden.
“Ich möchte dorthin zurĂŒck, wo ich her gekommen bin”, sagte Luigi, und blickte sie fragend an. Die Frau sah an ihm vorbei.
SpĂ€ter, als sie stumm die Suppe in sich hinein löffelten, begann er mit sich und seinem Schicksal zu hadern. Als ihm Dreizehn im Bett den RĂŒcken zukehrte und die Geschehnisse der vergangenen Stunden an ihm vorbei zogen, war Luigi, als sei er in einem Alptraum gefangen. Bilder quĂ€lten ihn. Von Mamma, seinem Bruder Carlo, die seines Dorfes und erst als es heller wurde, gelang es ihm, die Attacke seiner Erinnerungen abzuwehren. SpĂ€ter trugen ihm die DorfĂ€ltesten die Geschichte ihres Dorfes vor.
“Vor vielen hundert Jahren hatte die Station die ersten von uns in dieses Land geholt. Sie war von Wesen bewohnt, die sich Noks nannten und unsere Sprache kannten. Diese Skizze haben wir aus den Aufzeichnungen kopiert.” Einer der MĂ€nner schob ein Bild ĂŒber den Tisch. Luigi sah einen Humanoiden, der ein Halsband in der Hand hielt. Die anderen drei HĂ€nde streckten sich ihm wie zum Gruß entgegen.
“Jedoch alles, was sie uns gaben, waren einhundertzwanzig HalsbĂ€nder mit AnhĂ€ngern. Sie befahlen uns, sich registrieren zu lassen, zeigten es uns und verschwanden.”
“Kennt ihr den Begriff Getreide? Oder die Wörter Weizen, Mais?”
“Aus dem Beginn unserer Aufzeichnungen. Unsere Vorfahren meinten, sie brauchten sie fĂŒr ihre Nahrungsmittel und unternahmen Versuche, hiesige GrĂ€ser zu kultivieren. Sie hatten keinen Erfolg.”
Soviel zu Tortellini, dachte Luigi resigniert. Die Alten trugen ihm auf, im Steinbruch zu arbeiten.

Die Italiens, so nannten sich die Dörfler, hatten die Siebentagewoche von der Erde ĂŒbernommen. Das Jahr war lĂ€nger, hatte dreiundsiebzig Wochen. Davon zog eine nach der anderen an Luigi vorbei, wĂ€hrend er die Felsen bearbeitete. Granit, der sich, wie die MĂ€nner sagten, zur Zeit der Gletscherwanderungen von den Bergen gelöst hatte. Luigi gewöhnte sich an das neue Leben, wollte es nicht mehr missen. Die Rauheit der Berge, der Steppe. Hier musste jeder Hand anlegen, damit das Gemeinwesen funktionierte. Hier war er Jemand.
Abends saßen die MĂ€nner im Wirtshaus um Luigi herum, tranken Schnaps, der aus den BlĂ€ttern des Kohls, den sie Collardo nannten, gebrannt wurde und lauschten seinen ErzĂ€hlungen. Sie wollten wissen: Wie ging es in der Welt zu, aus der ihre Ahnen stammten? Luigi erzĂ€hlte von Mammas Nudelteig, wie sie ihn ausrollte, mit flinken HĂ€nden die Pasta zu Tortellini formte. Luigi brachte den MĂ€nnern das Kartenspiel Briscola bei. Er hörte genug von ihnen, um Dreizehn zu verstehen. Luigi wusste, dass sie sich mit Webarbeiten ihren Lebensunterhalt verdiente, jetzt erfuhr er, wie die Frauen ihren MĂ€nnern untersagten, ein Wort an sie zu richten, wie sie aus dem Laden stoben, wenn Dreizehn ihre EinkĂ€ufe tĂ€tigte und Luigi dachte an Mamma. Auch sie war aberglĂ€ubisch, doch dies hier hĂ€tte sie nicht mitgemacht. Sie hĂ€tte den Frauen Bescheid gegeben, denn sie nahm kein Blatt vor den Mund wenn sie wĂŒtend wurde, und Luigi entschied, dass er Dreizehn mochte. An Feiertagen zeigte er sich mit ihr im Dorf.
“Ich bin Dreizehn, die UnglĂŒckszahl”. Sie sagte es nicht mehr so oft. Und wenn sie zu weinen anfing, setzte er sich mit ihr auf die Kissen vor dem flachen Tisch und wiegte sie in seinen Armen. Luigi spĂŒrte, dass auch er sich Ă€nderte. FrĂŒher, als Mamma geweint hatte, war er in die Bar gelaufen oder zum Angeln gefahren.
“Ich bin nicht aberglĂ€ubisch”, sagte Luigi nun und kreuzte die Finger hinter seinem RĂŒcken.
Wenn sie zusammen im Bett lagen, bedrÀngte Luigi sie. Doch Dreizehn wehrte sich.
“Ich kann keine Kinder bekommen”, hatte sie einmal gesagt.
“Um so besser,” hatte er geantwortet und Dreizehn mit KĂŒssen bedeckt.
“Nein, nicht wie du denkst. Sie wollen nicht, dass ich ein Kind bekomme und meinen, es brĂ€chte UnglĂŒck. Sie wĂŒrden es nicht registrieren lassen, und dann wĂ€re es nur eine Frage der Zeit. Der Vollstrecker wĂŒrde es töten.” Doch es war nur eine Frage der Zeit, dass Dreizehn Luigis DrĂ€ngen nachgab.

Nachts trĂ€umte Luigi davon, eine MĂŒhle an einem Gebirgsbach zu bauen. Er sah, wie sich ein Wasserrad drehte und die MĂŒhle Mehl machte, dann wachte er auf. Getreide. Er brauchte Getreide. Mamma, er wollte Mamma, und er dachte an das Tortellinifest. Jedes Jahr gab es in Buona Compra das Tortellinifest, das eine ganze Woche andauerte und zu dem hunderte von Menschen aus den benachbarten Dörfern kamen. WĂ€hrend dieser Zeit machten die Frauen des Dorfes Tortellini fĂŒr die GĂ€ste. Mit KĂŒrbis, Sahne, Salami, Schinken.

Der Herbst zog vorbei. Die braunen StrĂ€ucher und Disteln der Steppe wurden wĂ€chsern. Dreizehn wurde schwanger, und fĂŒr Luigi begann eine schreckliche Zeit. Er musste ansehen, wie Dreizehn sich in ihr Innerstes zurĂŒck zog und sich ihm verweigerte.
“Mein Kind”, weinte sie. “Sie werden es töten.” Doch meistens blieb sie stumm und tat, als sei Luigi nicht vorhanden, und sie ging nicht mehr aus dem Haus.

Die Eidechsen verzogen sich in ihre Löcher als der Winter kam, und mit ihm das Winterfest. Wie das Sommerfest wurde es begangen, um fĂŒr die vergangene Ernte zu danken und eine gute Ernte im neuen Jahr zu erbitten. Es gipfelte in dem Erntetanz. Luigi und Dreizehn wurden nicht eingeladen, und Luigi war froh darĂŒber. Er wusste: Getanzt wurde in der Erntehalle. Paare stellten sich im Kreis auf. MĂ€nner auf der Innenseite, Frauen außen. WĂ€hrend die Musik spielte, tanzten die Paare ein paar Figuren. Die MĂ€nner rĂŒckten nach links, die Frauen nach rechts und tanzten die gleichen Figuren mit dem neuen Partner. Der Partnerwechsel setzte sich so lange fort, bis die Musik aufhörte. Die neuen Paare blieben fĂŒr ein halbes Jahr zusammen. Kinder blieben bei der Frau. Die Wochen danach zerrten an den Nerven der Dörfler, und manch einer konnte sich nicht mit einem neuen Partner abfinden.
“Machen alle mit?”, hatte Luigi gefragt. “Ja,” wurde ihm geantwortet.
“Bis auf Kinder, Kranke und diejenigen, die keinen Partner haben.”
Zehn, der glĂŒckliche Bastard, dachte Luigi. Das letzte Mal hat er es gut getroffen.
“Wie froh bin ich, dass man uns die Teilnahme verboten hat”, sagte er zu Dreizehn. “Ich möchte dich nicht verlieren”. Und er nahm sich vor, zu dem Sternenschiff zu fahren, welches die Dörfler Station nannten. Das Winterfest war der geeignete Zeitpunkt. Luigi zog den Reno aus dem Stall, spannte ihn vor den Karren. Als er los fuhr, kam Dreizehn schreiend aus dem Haus gerannt und lief hinter dem Karren her.
Sie fuhren zur Station. Es schneite. Ein kalter Wind zauste StrĂ€ucher und Disteln. Wachsbleiche Wellen wogten ĂŒber die Steppe. Luigi zog sich die Kapuze ĂŒber den Kopf.
Das Brummen der Station schien intensiver. Die Position des Schiffes hatte sich verĂ€ndert. Es arbeitet sich aus dem Grund, dachte Luigi. Im Saal waren vier weitere Bildschirme aktiv. Der Boden vibrierte unter seinen FĂŒĂŸen, dann spĂŒrte er eine ErschĂŒtterung.
“Es ist anders als sonst”, rief Luigi Dreizehn zu, als er die Reihe der Bildschirme entlang ging. Die Station erwachte. So schien es ihm, und er fĂŒhlte, dass nicht mehr viel Zeit blieb. FĂŒr was? Ein Display zeigte eine Halle. Mannshohe Zylinder standen nebeneinander an den WĂ€nden, BehĂ€lter aus einem plastikĂ€hnlichen Material. Die meisten waren geöffnet und leer. Andere waren verschlossen. Hinter der HĂŒlle sah Luigi Schatten, Rumpf, Beine, vier Arme. Bewegungslos.
Ein anderes Display zeigte das Ufer des Flusses. Unter dem Bildschirm befanden sich Tasten in einem sechseckigen Feld. Wie auf Luigis AnhĂ€nger. Vier Tasten leuchteten. Luigi zog eine Spange aus Dreizehns Haar. Es fiel ihr ĂŒber die Schultern. Wie schön sie ist, dachte Luigi und versank in ihren Augen. Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Sie trug sein Kind. Ein kleines LĂ€cheln umspielte ihren Mund. TrĂ€nen liefen ihre Wangen hinab. Luigi blieb wie verzaubert, bis der Boden unter seinen FĂŒĂŸen bebte. Er zog das Halsband ĂŒber den Kopf, ergriff den AnhĂ€nger und drĂŒckte mit der Haarspange die winzigen Tasten, wie sie auf der Konsole leuchteten.
Dreizehn wollte etwas sagen, brach mitten im Wort ab, stand mit großen Augen vor dem Monitor. Er zeigte Luigis Angelfluss. Luigi nahm Dreizehn an die Hand und zog sie zum Ausgang. Sie sprangen auf den Wagen und fuhren weiter auf das Ufer zu. Eine glasige, undurchsichtige Barriere stellte sich ihnen in den Weg. Luigi sah, dass sie sich bis in den Himmel ausdehnte.
“Was jetzt?” Luigi blickte Dreizehn fragend an. Sie zog eine weitere Spange aus ihrem Haar, sah Luigi an und dann ihren AnhĂ€nger. Als sie mit der Spange die Tasten bearbeitete, löste sich die Barriere auf. Ihnen zeigte sich der vertraute Fluss mit den Inseln aus rotblĂ€ttrigen BĂ€umen. Sie fuhren ĂŒber die BrĂŒcke ans andere Ufer.
“Die Tasten!”, rief Luigi und Dreizehn wiederholte die Prozedur. Nebel zog ĂŒber sie hinweg, und als Luigi sah, dass er sich an seinem Angelfluss befand, schaute er nach seinem Auto. Es war fort.
Die Leute von Buona Compra rieben sich die Augen, als Luigi mit Dreizehn durch den Ort fuhr. Der Reno mit sechs Beinen, seinem gepanzerten Hinterteil, dem Winterfell. Sie rieben sich die Augen, die Leute von Buona Compra, und bevor jemand die Carabinieri hÀtte rufen können, hatte Luigi den Wagen hinter dem Haus von Mamma abgestellt.
“Mamma! Mamma!”, rief er und öffnete die TĂŒr. Mamma rang nach Luft, als sie ihn sah und fing an zu weinen.
“Mamma, das ist Dreizehn. Wir sind gekommen, dich zu uns zu holen. Oder, Dreizehn, willst du hierbleiben?”
Luigi dachte an die Einwanderungsbehörde. Wie heissen Sie? Dreizehn. Dreizehn? Woher haben Sie gesagt, kommen Sie? Aus Neu-Italien? Und dann dachte er an Carlo.
“Lieber nicht”, beantwortete Luigi seine Frage. “Dreizehn, unterhalte dich mit Mamma. Ich muss noch mal los, Saatgut besorgen. Und Dreizehn”,
Luigi strahlte, “wir werden Getreidefelder anlegen, Mehl herstellen. Mamma wird Tortellini machen. Esskultur! Wir bringen Esskultur nach Neu-Italien!”
Luigis Auto stand allein in der Garage. Carlo sitzt in der Bar und verprasst Mamas Rente beim Videopoker, dachte Luigi. Diesmal war er froh darĂŒber.
Der SaatguthĂ€ndler wuchtete zwei SĂ€cke mit Weizen und Mais in seinen Wagen. Luigi nahm noch ein paar TĂŒten Tomatensamen mit. “Bezahlt Carlo”, sagte er. Zu Hause sah er Mamma hĂ€nderingend vor dem Reno, der mit dem Karren in ihrem GemĂŒsegarten stand und einen Salatkopf nach dem anderen fraß. Luigi lud die SĂ€cke auf den Karren.
“Mamma, steig auf. Die Zeit wird knapp.”
“Und Carlo?”
“Den holen wir spĂ€ter.”
Luigi und Dreizehn fuhren so schnell es nur ging durch den Ort auf den Fluss zu. Mit offenem Mund sahen ihnen die Leute nach, beobachteten, wie Mamma sich an den SĂ€cken fest hielt. Kinder folgten johlend und schreiend auf ihren RĂ€dern.
Am Fluss drehte sich der Reno zu den Kindern um. Seine roten Augen hielten sie auf Abstand. Dreizehn nahm ihre Spange und drĂŒckte die Knöpfe. Als sich der Nebel verzogen hatte, fiel Mamma in Ohnmacht. Neu-Italien. Luigi blickte auf seinen AnhĂ€nger.
“Dreizehn. Unsere Namen sind weg!”
“Wir mĂŒssen uns registrieren lassen! Und ich bekomme einen neuen Namen und kann mein Kind behalten!”, rief sie lachend und kĂŒsste ihn. Und ich habe sie nur noch bis zum Sommerfest dachte Luigi. Und was wĂŒrde aus ihrem Kind? Ihm wurde ĂŒbel.
“Sieh dort!”, rief Dreizehn und zeigte in die Richtung des Dorfes. Luigi sah schwarze Punkte am Horizont. Wie Kakerlaken, die aus einer Dose krabbelten. Doch kamen sie schnell nĂ€her. Gespanne aus dem Dorf. Dörfler auf dem Weg zur Station.
Luigi brachte den Wagen ĂŒber die BrĂŒcke und hielt an. Es war, als sei das ganze Dorf unterwegs. Die Drohne in der Luft umkreiste die Gespanne wie ein Hirtenhund. Zehn jagte mit seiner neuen Frau an Luigi vorbei. Der fuhr mit seinem Wagen hinterher.
“Wo bist du gewesen?”, rief Zehn.
“Was ist los?”, brĂŒllte Luigi zurĂŒck.
“Wir haben keine Namen mehr!” Zehn zeigte auf seinen AnhĂ€nger, dann nach oben. “MĂŒssen uns alle registrieren lassen!”. Lautes Brummen vermischte sich mit dem Rattern der Wagen. Das Sternenschiff schwebte einige Zentimeter ĂŒber dem Boden. Dann fing es an zu pfeifen. Schreiend sprangen die Dörfler ab und drĂ€ngten sich durch den Eingang. MĂŒtter trugen Kinder, Alte schleppten sich in das Schiff. Die Drohne schob sich in die Wand.
“Bleib hier!” brĂŒllte Luigi, doch es war zu spĂ€t. Entsetzt sah er, wie Dreizehn mit den anderen im Raumschiff verschwand.
“Dreizehn, komm zurĂŒck!” heulte er und kletterte vom Wagen. Was interessierte es ihn, ob sie eine neue Nummer bekam. Er wollte sie, er wollte sein Kind. Dann drehte er sich um. Mamma richtete sich stöhnend auf. Die Triebwerke des Sternenschiffes sprangen an. Luigi lief auf das Raumschiff zu, kehrte um, sah auf Mamma und weinte, sah wie sich die Luke schloss, das Sternenschiff in die LĂŒfte stieg und im Blau des Himmels verschwand.




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