Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Juli 2003
Die Arena des Himmels
von Josef Th. Thanner


Dass das riesige glitzernde Gebilde im Wald, durch das er voller Neugier hindurch gegangen war, ein Dimensionstor war, hatte Thur nicht ahnen können. Solche Dinge kannte er nicht, dergleichen hatte er nie gesehen. Niemand aus seinem Stamm hatte dergleichen je gesehen. Nun aber stand er, nachdem ein heller Lichtblitz ihn sekundenlang umzuckt hatte, in dieser hellen, glänzenden, blauen Wolkenwelt und versuchte, seine fünf Sinne beieinander zu halten. Sein Herz raste wie verrückt, vor seinen Augen tanzten silberne Flecke, kleine und große, und der Speer war ihm entfallen – dieser war einfach in das Blau des Bodens eingetaucht und darin versunken wie ein Stein im Sumpf. Thur torkelte ein paar Schritte und merkte dabei, wie weich und uneben dieser Boden von der Farbe des Himmels war. Seine Füße und Zehen sah er nicht, die wurden umhüllt von dieser weißblauen, nebelartigen Substanz, die angenehm kühlte und sanft zur Haut war.
Nach kurzer Zeit spürte er, wie er ruhiger atmete. Jetzt konnte er fest auf seinen zwei muskulösen Beinen stehen. Seine Hand fuhr zur Hüfte und fand, was sie suchte: den Dolch aus dem langen Reißzahn des Tigerwolfs. Auch seinen Lendenschurz besaß er noch, und die Gebisskette, Zeichen seiner erfolgreichen Jagdzüge, hing um seinen mächtigen Hals und klickte bei jeder seiner Bewegungen.
Drohend und mit geballten Fäusten schaute er um sich: Wer immer ihm dies angetan hatte, sollte merken, dass man Thur nicht so einfach überwältigen konnte.
Aber so sehr er sich auch anstrengte – er entdeckte niemanden. Rings um ihn herum, oben, unten, einfach überall befand sich dieses helle, wolkenartige Blau.
Obwohl er versuchte es zu verbergen, war Thur sehr verwirrt.
Noch vor wenigen Momenten war er im Wald unterwegs gewesen in der Hoffnung, auf einen Säbelzahnbären zu treffen, den er für Theea erlegen konnte. Zu diesem Zweck hatte er seinen Speer mit einer Steinspitze bestückt und sie mit Lederriemen festgebunden. Wenn er dem Häuptling den Schädel eines Säbelzahnbären vorlegen könnte, würde er ihm Theea sofort zur Frau geben.
Nun stand er auf etwas, das wie der Himmel daselbst wirkte, und hier gab es nie und nimmer Säbelzahnbären. Hier gab es nicht einmal Stechmücken.
Aber er würde nicht aufgeben! Es gibt immer einen Weg zurück, es gibt immer eine Beute zu schlagen, eine Trophäe zu erringen, und wenn es nicht der Schädel eines Säbelzahnbären war, den er dem Häuptling vorlegen konnte, dann vielleicht etwas aus dieser Blauen Welt.
Er sank auf die Knie, verschwand dabei bist zur Hüfte in diesem hellblauen Nebel, und tastete nach dem Speer. Der Boden war rau und gab nach, wenn man fest auf ihn drückte, etwa wie die Haut eines Wals. Das wabernde Blau, das vom Boden her einige Zentimeter aufstieg, fauchte auseinander, wenn er schnell mit der Hand darüber schlug, zog sich danach sofort wieder zusammen.
Nachdem er geraume Zeit erfolglos gesucht hatte, gab er den Speer auf. Er hatte die Stelle, wo dieser in das Blau versunken war, mehrmals abgetastet, ihn aber nicht wieder gefunden.
Was mochte das nur für eine Welt sein, in der er gelandet war? War er tot? War es das Reich der Götter? Das Reich der Vögel? Tausend Gedanken überfielen ihn, bis sein Kopf schmerzte. Er fühlte sich plötzlich sehr müde, aber nicht aus körperlicher Erschöpfung.
Aber als er sich erneut umwandte, sah er eine schwarze, viereckige Öffnung.


Paul Karek war 45 Jahre alt, Schlosser, verheiratet mit Silvia, geborene Helmer, und hatte zwei Kinder, Paulchen und Grete. Karek arbeitete in einem mittelständischen Industriebetrieb in Lindau a. B., der eine eigene Schlossereiabteilung unterhielt, und seine Arbeitszeiten waren von halb acht bis zwölf, und eins bis halb fünf. Acht Stunden täglich hämmerte er verbogene Stahlrahmen gerade, schweißte abgebrochene Teile an, flexte und feilte Verstrebungen auf die passende Größe zu, tätigte Bestellungen und schrieb Rapporte auf Kostenstellen.
Sein Privatleben war abgesichert. Er hatte eine Lebensversicherung über einhunderttausend Euro abgeschlossen, mit der seine Frau im Falle seines Todes das Häuschen abbezahlen konnte, falls ihm etwas zustoßen sollte. In seiner Freizeit bewanderte er mit Stobby, seiner Schäferhündin, die waldigen Gebiete zwischen Rehlings und Schönau. Beinahe regelmäßig fuhr er über die österreichische Grenze um zu tanken und über die schweizer Grenze um einzukaufen.
In seinem Plattenschrank befand sich eine CD von Louis Armstrong, die er nie hörte, zwei von Deep Purple, die er gelegentlich auflegte, und Joe Cocker, der quasi pausenlos lief. Von den Klassikern besaß er die Standards: Beethovens Fünfte, Schuberts Unvollendete und Mozarts Jupiter-Sinfonie. Das war seltsam für einen Schlosser und er wusste es, aber er brauchte es ja keinem zu erzählen. Sein Frau liebte leichte Schlagermusik, die sie aber lieber im Radio hörte.
Freitag abends kegelte Karek mit den Stammtischlern, regelmäßig, schon seit zwölf Jahren, nach dem Motto »natürlich ohne Frauen«, und da blieb es meist nicht bei zwei, drei Weizen.
Ach ja, und Filme, die er gerne ansah, wurden erst mit einer Flasche Weizenbier und einem belegten Wurstbrot zum vollendeten Genuss. Am liebsten hatte er Krimis oder Kriegsfilme, vorzüglich aus dem Zweiten Weltkrieg. Sciencefiction mochte er gar nicht. Das gab’s nicht. Unsinn, Quatsch, Kinderkram. Er zappte stets weiter, wenn ein Sciencefictionfilm lief.
Am frühen Morgen des 20. September erschien er wie üblich im Blauen Anton in der Firma, schloss die Schlossereiwerkstatt auf und betrat den Raum. Er erwartete den vertrauten Geruch von Schmieröl, Schweißgas und gefeilten Eisenspänen. Statt dessen begann es zu knistern und plötzlich umzuckten ihn zackige weiße Blitze. Geblendet presste er die Hand vor die Augen.


Jemand wollte offensichtlich, dass sich Thur durch diese Öffnung begab, denn sonst hätte derjenige sie nicht geöffnet. Thur war nicht so dumm, dass ihm dieser Gedanke nicht gekommen wäre. Es konnte eine Falle sein. Es konnte ein Ausweg sein. Es konnte alles mögliche sein.
Er griff nach seinem Tigerwolfmesser und riss es aus der Felltasche. Wer oder was auch immer ihn hinter dieser Öffnung erwartete, er würde es mit Thurs geballtem Zorn zu tun bekommen.


Paul Karek glaubte nicht an Sciencefiction. Stargate und Beamen waren fremde Worte für ihn. Als er sich nach einem einer Verpuffung ähnlichen Geräusch mit Blitzlichterscheinung in einem himmelblauen Gebiet wiederfand, dachte er zunächst daran, seinen Verstand verloren zu haben.
Himmelblau? Hatte er nicht seine Mutter irgend etwas von einem blauen Gewölbe, auf das sie sich zu bewegte, murmeln hören, als sie auf dem Sterbebett lag und letzte, unzusammenhängende Sätze von sich gab? Karek versuchte krampfhaft, sich zu erinnern. So musste es sein! Er war einem Herzschlag erlegen, als er die Werkstatt betreten hatte. Jetzt war er tot.
All diesen Unsinn über den Himmel hatte er nie glauben wollen. Jetzt wurde er eines Besseren belehrt. War denn der Himmel nicht angeblich nur den guten Menschen vorbehalten? Er hatte sich nie für einen besonders guten Menschen gehalten, dazu stufte er sich als zu egoistisch ein. Aber ein besonders schlechter Mensch war er auch nicht. Durchschnitt, sozusagen.
Dieses helle Blau hatte etwas beruhigendes an sich. Er entspannte sich, atmete tief ein. Nein, er brauchte keine Furcht zu haben, in eine Tiefe zu stürzen. Er spürte festen Boden unter sich. Obwohl... wenn er ein paar Schritte darauf machte, wippte dieser Boden nach. Das war das erste, was ihm auffiel. Dann wurde ihm gewahr, dass er diesen Boden gar nicht sah, denn so etwas wie himmelblauer Bodennebel verbarg ihm die Sicht.
Er wandte sich nach allen Seiten um, konnte aber keine lebende Seele entdecken.
Lebende Seele?
Ein Witz! Er verzog kurz den Mundwinkel. Konnten Tote Witze machen? Er überlegte, was er hier im Himmel wohl anfangen sollte. Gehen, bis er jemand anderen traf? Das würde ein langer Marsch werden, vielleicht jahrelang? Vielleicht war das die Art und Weise, in der man sich im Himmel die Zeit zu vertreiben hatte? Vielleicht eine etwas andere Art von – Hölle?
Etwas in seinem Magen regte sich. Ein Grummeln. Er hatte noch nicht gefrühstückt. Es war Zeit für sein Wurstbrot, das Silvia ihm immer in der Plastikbox mitgab... He, Moment mal! War er denn nicht tot? Tote hatten doch keinen Hunger. Oder etwa doch? Meine Güte, wo war er denn nur hingeraten?
Er entschloss sich gerade, schnurstracks in eine Richtung zu gehen, als er sich beobachtet fühlte. Er ruckte herum und sah in einem schwarzen Viereck, das zuvor noch nicht da gewesen war, einen Steinzeitmenschen auftauchen. Verflixt, er hatte ein primitives Messer in der Hand.
Karek zuckte zusammen. Beinahe wäre ihm der Schlüssel, mit dem er die Werkstatt aufgeschlossen hatte, entfallen. Na so was, er hielt ihn immer noch in der Hand. Seine einzige Waffe! So gut wie nichts gegen das Messer dieses Wilden. Der Affenmensch kam zielstrebig auf ihn zu. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Karek brach der Schweiß aus. Er spürte, dass er zitterte. Verdammt, das wollte er nicht, aber er zitterte.


Dieser fremde Mann in der seltsamen dunkelblauen Kleidung, die seinen Körper ganz bedeckte, musste an Thurs Albtraum schuld sein. Thur hielt das Tigerwolfmesser in gestrecktem Arm vor sich und ging in gebückter Haltung auf den Fremden zu. Der sollte nur nicht denken, dass Thur Angst hatte! Er stieß ein wildes Knurren aus und griff an.
Der Fremde hatte einen kleinen, blitzenden Gegenstand in der Hand – das konnte eine gefährliche Waffen sein. Aber Thur hatte in sekundenschnelle erkannt, dass der Fremde kein wirklicher Gegner für ihn war. Er würde ihn überwältigen und zwingen, ihm die Wahrheit über diese Blaue Welt zu sagen. Und dann würde er ihn zwingen, Thur in den Wolfswald zu seinem Volk zurück gehen zu lassen. Er hatte schreckliche Sehnsucht nach Theea, es brannte in ihm, ihr von diesem schrecklichen und dennoch seltsam friedlichen Ort zu erzählen. Wenn da nur nicht dieser bedrohliche fremde Mann gewesen wäre.
Da! Der Mann wich zurück. Thur würde leichtes Spiel mit ihm haben. Er schnitt mit dem Messer einige Male durch die Luft, sprang auf den Mann zu, grollte drohend. Dann stieß er einen furchtbaren Schrei aus, riss die Arme hoch und sprang auf den Mann zu, bereit, das Messer herunter sausen zu lassen, direkt hinein in den Leib des Schwächlings.


Paul Karek brachte im letzten Moment seinen Stiefel mit den Stahlkappen – gelobt seien die Sicherheitsvorschriften seines Betriebs – hoch und streckte das Bein nach vorn. Die Sohle krachte gegen den Brustkorb des Wilden und stoppte ihn mitten im Sprung. Er hörte, wie der Wilde Luft ausstieß und sah ihn zurücktaumeln. Himmel, das war in letzter Sekunde! Was wollte dieser Irre von ihn? Er hatte ihm doch nichts getan. Oder wohnte der Kerl etwa hier?
Karek hätte sonst etwas dafür gegeben, jetzt seinen schweren Schlosserhammer in der Hand zu halten. Eine Sekunde lang war er versucht, den Schlüssel als Messer zu missbrauchen und ihn dem Wilden in die Rippen zu rammen, einfach nur um ihm weh zu tun. Aber er atmete heftig ein und aus und tat nichts, während seine Gedanken fieberhaft dahin rasten, und dann war es vorbei. Er hatte seine Wut im Griff.
»Lass uns reden!«, rief er dem Wilden zu und machte eine beschwichtigende Handbewegung.
Der Wilde hatte seinen sicheren Stand wieder gefunden und starrte ihn verblüfft an, eine Verblüffung, die vielleicht von der Art der Gegenwehr rührte, die ihm entgegen geschlagen war. Karek war aufgefallen, dass der Wilde zwar dreckig war wie sieben ungewaschene Schlosser, aber er war barfuß und an vielen Stellen ungeschützt, nur um seine Lenden hing dieser lächerlicher Lederschurz. Wenn der Kerl es darauf anlegte, würde er ihm nochmals eine verpassen, seine Stiefel waren seine beste Waffe, sie waren schwer, und Karek hatte Kraft in seinen Füßen. Er würde ihm auf die Zehen treten. Aber so richtig!
Doch er wollte keinen Krieg schüren und mimte den Friedfertigen.
»Lass uns reden, nicht schlagen«, sagte er.
Wieder hielt er seine Hand weit vor sich, die Handfläche nach oben, und machte eine einladende Geste.
Der Wilde erwiderte mit einem unfreundlichen Knurren. Das Messer war wieder in Gesichtshöhe, und er fuchtelte damit durch die Luft.
»Idiot«, zischte Karek. »Du nix verstehen, Idiot, nix verstehen!«
»Nikkkks!«, rief der Wilde.
»I-di-ot!«, dehnte Karek.
»I…. di….«
»Ja, du bist ein Idiot! Und jetzt steck’ dein Messer weg.« Karek kannte sich selbst nicht wieder. Noch vor einer Minute hatte er vor Angst beinahe in die Hose gemacht, jetzt redete er zu dem Wilden wie ein gleichwertiger Gegner, oder – besser noch – wie der Überlegene. Wäre gut, wenn der Wilde das auch endlich begriffe.
»Steck’ es weg, und wir reden.«
Doch der schien nicht einmal im Traum daran zu denken. Mit einem wilden Aufschrei sprang er erneut heran.


Der fremde Mann hatte Thur weh getan. Es war nur ein kurzer Augenblick der Unachtsamkeit gewesen, da war das, was Thur für die Beines des Mannes hielt, was in Wirklichkeit jedoch Knüppel waren, auf seine Brust getroffen und hatte ihm den Atem geraubt. Doch jetzt war Thur wieder im Vollbesitz seiner Kräfte. Hier konnte er Beute schlagen, hier konnte er die begehrte Trophäe erringen. Dieser Fremde war in sein Territorium eingedrungen, und Thur würde seinen Schädel dem Häuptling präsentieren – seine Trophäe als Preis für Theea.
Er riss das Messer erneut hoch und sprang auf den fremden Mann zu. Diesmal erwischte er ihn besser. Er hatte genau aufgepasst und diesmal war es dem Fremden nicht gelungen, den schwarzen Knüppel gegen Thurs Brust zu schlagen; Thur war im letzten Moment zur Seite ausgewichen und hatte seinen Angriff auf das andere Bein verlagert. Der Knüppelschlag des Fremden war ins Leere gegangen.
Thur traf ihn mit der Faust an der Schläfe und der Fremde sank zusammen. Jetzt schrie er sogar vor Schmerz. Ja, jetzt würde Thur ihn töten, und danach die Trophäe abschneiden, und danach zu seinem Stamm zurückkehren.
Thur warf sich auf den Fremden. Dieser war benommen auf die Knie gesunken. Thur setzte nach, stieß ihm das Knie in die Brust. Der Mann hechelte nach Luft. Nun war der Moment für den letzten Stoß gekommen. Thur hob das Messer. Ohne Genugtuung, mit dem Herz eines erfahrenen Jägers, verharrte er einen Moment, dann stieß seine Hand blitzschnell nach unten.


Paul Karek saß zusammengekrümmt auf dem weichen Boden. Blut troff von einer Platzwunde an der Stirn und lief ihm übers Gesicht, den Hals entlang und in den Kragen seines Arbeitshemdes. Er hatte den Wilden maßlos unterschätzt. Dieser Kerl war geschickt seinem zweiten Tritt ausgewichen, hatte seine Verteidigung ins Leere laufen lassen und ihm einen Schlag ins Gesicht versetzt, der ihm beinahe das Bewusstsein geraubt hatte. Flirrende Punkte vor seinem Gesichtsfeld. Dann folgte der Tritt des Knies des Wilden in seine Brust; dem hatte Karek nichts entgegen zu setzen und er kämpfte unter Schmerzen und Tränen um jeden einzelnen Atemzug.
Das war sein Ende. Der Wilde hatte sich erhoben. Karek sah es nicht, aber er ahnte, wie der Wilde die Hand mit dem Messer hob.
Es war das Ende eines Schlossers, der sein ganzes Leben lang kaum an den Himmel und schon gar nicht an Sciencefiction geglaubt hatte.
Doch der tödliche Hieb blieb aus.
Karek wagte nicht zu hoffen, als er den Blick langsam hob.
Der Wilde stand bedrohlich vor ihm, mit einer wilden Grimasse, das Messer hoch erhoben. Und rührte sich nicht. Nur das Messer müsste er noch herunter schlagen, dann wäre es aus mit Karek. Aber der Wilde rührte sich nicht.
»Er schläft.«
Karek fuhr zusammen. Er hatte den alten Mann gar nicht bemerkt. Ein verhutzelter kleiner Kopf schaute aus einem langen, violetten Mantel heraus, ein grauhaariger Bart wehte im leichten Wind. Irgendwo aus dem Mantel kam dann auch diese lange goldene Stange mit ihrer Verbreiterung am oberen Ende.
Karek schaute den Alten fragend an. Er musste wie ein Trottel drein geschaut haben, dachte er später. Doch der Alte war redselig, bemerkte es nicht.
»Ich habe ihn in den Stehenden Schlaf versetzt.«
Karek tastete über seine Stirn, geflissentlich um die Wunde herum, die der Wilde geschlagen hatte. Seltsamerweise pochte der Schmerz gar nicht.
»Gleichsam ein Schlaf mit offenen Augen. Er kann sich nicht rühren. Seine Muskeln versagen ihm den Dienst. Übrigens – willkommen in Talokan!«
Karek war zu aufgebracht, um den Gruß zu registrieren oder gar zu erwidern. »Er wollte mich töten«, krächzte er.
»Du darfst es ihm nicht übel nehmen. Er ist eine unterbelichtete Kreatur aus einer fernen Welt. Und mit fern meine ich nicht die Entfernung, sondern die Dimension.«
»Ich... verstehe nicht.«
»Verschiedene Dimensionen, sie existieren nebeneinander. Gleichzeitig. Du und er, ihr gingt beide durch ein Dimensionstor.«
»Ich ging durch die Tür der Schlosserei. Ich gehe jeden Tag da durch. Noch nie kam ich hierher.«
»Einer der seltenen und unfreiwilligen Scherze der Talokaner. Du musst ihnen verzeihen.«
»Was muss ich?« Wut wallte in Karek auf. Was, um alles in der Welt, fiel diesem...
»Verzeih’ ihnen, es ist das beste, was du tun kannst. Sie taten es nicht aus Bosheit. Sagam, einer der ihren, ist verschwunden, und sie glauben, dass er in einer anderen Dimension gestrandet ist. Sie bringen überall diese Tore an, damit...«
»He, Moment mal! Ich komme nicht mit. Was soll das alles heißen? Stehender Schlaf, Talokan, Dimensionstor, Scherze, Sagam... ich weiß nichts von alldem!«
»Ich will dir der Reihe nach erzählen, Fremder. Aber lass uns von hier fort gehen, damit er seine Ruhe wieder finden kann.« Bei diesen Worten deutete er auf den Wilden. Karek erhob sich und sie gingen eine Strecke über den hellblauen, welligen Boden. Als Karek sich nach einer Weile umschaute, war der Wilde verschwunden.
»Ich verstehe das alles nicht«, begann er.
Der Fremde, der bislang geschwiegen hatte, setzte an.
»Ich bin Kloop. Lass mich dir erzählen. Sagam aus dem Land Talokan verschwand eines Tages. Seine Brüder fanden nur einen...«
»Moment mal, was ist das Land Talokan überhaupt.«
»Wir befinden uns gerade hier an diesem besagten Ort.«
»Aber ich sehe niemanden. Wo sind denn diese Talokaner?«
»Nun, du siehst sie nicht, aber sie sind doch da. Sie sind hier, da drüben, und dort. Hier, und da, noch einer.«
Karek folgte mit seinem Blick dem Zeigefinger des Alten, aber er sah überall nur dieses Himmelblau.
»Du hast recht, ich sehe wirklich niemanden.«
»So sagte ich. Dein Verstand kann ihre Daseinsform nicht begreifen, daher siehst du sie nicht. Aber nun sieh’ zu, dass du wenigstens verstehst, was ich dir erzähle. Hihi. Wie schon gesagt, Sagam, der arme Sagam, ist verschwunden. Seine Brüder fanden eines Tages nur seinen Mantel und ein paar Schuhe und eine qualmende Wolke bestehend aus purem Nichts. Zwölf Jahre ist das jetzt her. Das ließ nur den einzigen Schluss zu, dass Sagam in eine andere Dimension geschleudert wurde. Sagam war nämlich Wissenschaftler, muss du wissen, und er experimentierte gerne mit Dingen, die er nicht verstand. Und mit den Dimensionen ist es so ein Sache, weißt du, deren gibt es nämlich Tausend mal Tausend mal Tausende. Nun, in welcher Dimension hielt er sich auf? Sagams Brüder wussten es nicht.«
»Und was jetzt?«
»Sie stellten auf vielen Welten Dimensionstore auf, um Sagam die Möglichkeit zu geben, in seine Welt zurück zu kehren, die die nämliche hier auf Talokan ist.«
»Was du nicht sagst! Aber das weiß ich inzwischen. Ich möchte nicht undankbar erscheinen, aber da wären noch ein paar...«
»Pssss.« Der Alte legte den knochigen Zeigefinger auf die Lippen. »Hör’, was ich dir sage, denn es ist für dich die Zeit gekommen, wo du gehen musst.«
Karek, der jetzt ganz sicher war, dass er nicht tot war – schon allein der aufziehende Schmerz in seinem Brustkorb und am Kopf bezeugte dies – nickte. Es war logisch, dass er, da er nicht hierher gehörte, wieder dorthin zurück ging, wo er her kam. Logisch. Also nickte er.
Der Alte fuhr fort. »Immer wieder geschieht es leider, dass auf bevölkerten Welten einige Dummköpfe in so ein Dimensionstor geraten und – Schwupps! – nach hierher verfrachtet werden, ehe sie ihren eigenen Namen buchstabieren können. Der, gegen den du gekämpft hast, stammt von Khoronan, einer grausamen Stammeswelt, in der es viele gefährliche Tiere gibt. Ich selbst stamme von Amjoporis. Und du?«
»Mein Planet heißt Erde.«
»Dummkopf. Mein Planet heißt auch Erde. Wir leben auf dem gleichen Planeten, aber in einer anderen Dimension! Hast du das noch nicht begriffen?«
»Ich... weiß nicht so recht...«
»Wie heißt deine Welt? Die Welt, in der du lebst?«
»Erde«, versetzte Karek mit Nachdruck.
Der Alte schüttelte verständnislos den Kopf. »Der Wilde da hätte das schon längst kapiert. Meine Güte, bist du ein Hufschmied oder so was ähnliches?«
»Ich bin...«
»Lenke mich jetzt bitte nicht ab. Tatsache ist, wir alle leben auf dem Planeten Erde. Auch die Talokaner leben auf der Erde. Gleichsam befinden wir uns jetzt auf der Erde! Nur in dieser Dimension heißt die bekannte Welt, das Land gleichsam, Talokan. Meine Welt heißt Amjoporis. Die Welt des Wilden heißt Khoronan. Und nun, zum letzten Mal: Wie heißt die Welt, aus der du stammst?«
»Nun, mal sehen, ob ich das richtig zusammen bringe. Meinst du vielleicht Deutschland?«
»Ich weiß nicht, ob ich Deutschland meine, werter Besucher, denn ich komme ja nicht von dort. Aber du musst es wissen.«
»Na gut, dann ist es vielleicht eher Bayern.«
»Oh. Ein edler und majestätischer Name. Bayern. Und die Bewohner heißen...?«
»Bajuwaren.«
»O, wunderbar! Eine neue Welt. Ist sie schrecklich? Ist sie schön? Ist sie... Ach, vielleicht statte ich ihr eines Tages einen Besuch ab. Aber nun Beeilung, ich muss zusehen, dass ich dich in dein Bayernland zurückbringe!«
Karek atmete auf. Der Alte kam ihm zwar ganz schön merkwürdig vor, aber wenn er es ihm ermöglichte, nach Hause zurück zu gelangen, wollte er für dieses Mal ein Auge zudrücken.
»Du gehst einfach durch das Dimensionstor hier, und – Schwupps! – bist du wieder Zuhause.«
»Wie? Ich sehe kein Dimensionstor.«
»Natürlich nicht, mein tapferes Bayerlein, denn hast du vielleicht schon vergessen, dass dein Verstand die Dinge hier nicht versteht, und du sie deshalb nicht siehst?«
»Das habe ich natürlich nicht vergessen.«
»Ich glaube aber doch, denn warum würdest du sonst immer wiederholen, dass da nichts wäre? Vertrau’ mir einfach und geh durch das Tor, das ich dir zeige.«
»Na schön. Aber eine Frage noch...«
»Ja, was ist denn?«
»Was machst du eigentlich hier? Wieso kann ich dich sehen?«
»Weil ich, wie ich schon zwei Mal sagte, von Amjoporis stamme. Ich bin kein Talokaner.«
»Aber du kommst und gehst hier aus und ein, als wärst du hier Zuhause?«
»Das sieht nur für dich so aus. Nun gut, ich will ehrlich sein: Ich genieße hin und wieder die Gastfreundschaft der Talokaner, wenn ich von Amjoporis die Nase voll habe. Manchmal geht es dort drunter und drüber. Als ich das Dimensionstor entdeckte, war ich richtig froh, der Hektik meiner Welt zu entkommen. Ich fertigte Pläne der Konstruktion an und baute mir selbst eines. Doch sag’, fühlst du dich hier nicht auch wie im Siebten Himmel?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Und was machst du mit dem Wilden?«
Der alte Kloop machte eine weit ausholende Geste. »Ich werde ihn in seine Welt zurück schicken.«
»Hm. Da wäre noch etwas. Das Tor auf der Erde... ich meine in Bayern, ist gerade auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz platziert. Viele Leute gehen täglich hindurch. Sag’ den Talokanern, dass sie es abbauen müssen.«
»Das ist nicht nötig. Jedes Tor kann nur ein einziges Mal benutzt werden. Wenn Sagam auf eurer Welt, in Bayern, wäre, hätte er gespürt, dass seine Brüder das Tor für ihn eingerichtet haben und wäre hindurch gegangen. Da statt seiner du gekommen bist, heißt das, dass er nicht in Bayern ist. Die Talokaner haben noch Tausende von Welten vor sich, in denen sie ein Dimensionstor platzieren müssen – und genauso oft kann ungebetener Besuch erscheinen.«
»Dieses verflixte Tor hat etwas von einer Mausefalle an sich.«
»Ich verstehe nicht...«
»Ich meine, es können so viele Unkundige versehentlich hinein tappen.«
»So. Wie du meinst. Das ist nun mal der Lauf der Dinge. Na gut, ich gestehe, dass die Talokaner auch einen gewissen Spaß an denen haben, die versehentlich hinein tappen. Aber nun geh’, ich habe von deinen Fragen genug.«
»Und ich dachte, es macht dir Freude zu reden, alter Mann.«
»Manche Leute denken eben nur, dass sie denken. Geh’ jetzt durch das Tor, tapferes Bayerlein!«


Es zischelte und funkte und blendete. Paul Karek kniff die Augen zusammen und ließ die Verpuffung über sich ergehen. Als er die Augen öffnete, fand er sich in seinem Wohnzimmer stehend wieder.
Silvia saß am Esstisch und bei ihr saß – ein fremder Mann!
Kareks Puls stieg sofort auf 180.
»Was, zum Henker, ist denn hier los!«
»Paul! Mein Gott, Paul!« Silvia fiel ein Stück Papier aus den Händen und ein Kugelschreiber kullerte unbemerkt über die Tischplatte bis zum Rand.
»Ja, ich bin’s! Kaum bin ich weg, treibst du dich mit...«
»Paul! O meine Güte! Du bist ja wieder da! Nach all den Wochen!«
»Wie? Wochen?«
Silvia stürmte auf ihn zu, schlang ihre Arme um ihn und presste ihn an sich. Ihre Küsse wollten gar kein Ende nehmen.
»Paul, o Paul. Weißt du denn nicht, wie lange du weg warst? Ich dachte, du hast mich verlassen. Oder wärest ermordet worden. Oder entführt. Oder sonst etwas. Zwei Wochen lässt du mich allein! Die Polizei fahndet nach dir. Und dieser Herr von der Versicherung... wir unterhielten uns gerade darüber, ob sie die Summe ausbezahlen oder nicht.«
»Ich wette, nicht«, versetzte Karek zynisch.
»Nun... Sie müssen verstehen«, sagte der Vertreter sichtlich unbeeindruckt, »dass wir feste Regeln haben, die es uns verbieten...«
»Ich muss gar nichts«, fuhr Karek ihn an.
»Aber sei doch nicht so grob, Paul. Er kann ja nichts dafür. Er hatte mir eine Erhöhung des Versicherungsbetrags zu sehr guten Konditionen angeboten.«
»Aha. Sehr gute Konditionen. Für wen sehr gut?«
»Ach Paul, jetzt setz’ dich erst. Meine Güte, diese Wunde an deiner Stirn muss ganz schön weh tun. Was hast du da nur gemacht? Irgendwo gegen gerannt? Warte, ich hole dir einen nassen Waschlappen. Und etwas zu trinken. Was möchtest du gern?«
Karek winkte ab. »Nichts. Gar nichts. Vorläufig jedenfalls.«
Silvia verschwand ins Bad, den Waschlappen holen.
»Die Konditionen sind wirklich gut, Herr Karek. Wir konnten die Versicherungssumme zwar nicht ausbezahlen, da wir keinen Nachweis für Ihren Tod hatten – Verschwinden allein genügt nicht –, aber bei der Prüfung Ihrer Police bin ich darauf gestoßen, dass Sie mit unserem neuen Tarif wesentlich besser fahren: Zwanzigtausend Euro mehr Versicherungssumme zum selben Beitragssatz. Na, ist das nichts?«
Der Vertreter nickte Karek lächelnd zu und wartete auf eine Erwiderung.
Plötzlich prangte in Kareks Gesicht auch ein Lächeln.
»Na gut, wenn das so ist... ich bin einverstanden, Herr... äh, wie war doch gleich Ihr Name?«
»Gestatten, Johannes Sagam.«


Thur blickte fest in die Runde. Die älteren Männer und alle Jäger hatten sich auf dem Großen Platz versammelt, um seine Geschichte zu hören. Theea hielt sich bei den Frauen auf, die sich eingefunden hatten, um schweigend dem Rat zu lauschen.
Er hatte alles wahrheitsgemäß erzählt, hatte erzählt, dass er in der Arena des Himmels verschleppt worden war, wo er gegen einen schrecklichen Gegner antreten musste. Er hatte nicht verschwiegen, dass der gewalttätige Fremde Keulen statt Beine hatte und er ihm eine dieser schwarzen Keulen gegen die Brust geschlagen hatte, sodass ihm die Luft weggeblieben war. Er hatte nicht verschwiegen, dass ein anderer, ein alter Mann, ihn in einen Schlaf mit offenen Augen und Ohren versetzt hatte, sodass er die anderen zwar sehen und hören, nicht jedoch angreifen konnte. Und er hatte erzählt, wie er nach Abfallen des Schlafes dem zweiten, dem alten Mann, gefolgt war, es ihm aber nicht gelungen war, ihn einzuholen, bis es um ihn, Thur, herum blitzte und zischte, und er sich plötzlich im Wald von Khoronan wieder gefunden hatte.
Er hatte alles wahrheitsgemäß erzählt und aufgrund dieser Geschichte gehofft, vom Häuptling die Hand Theeas zugesprochen zu bekommen. Thurs Mutter, die bei den Weibern stand, keuchte bei Thurs Ausführungen heftig und es schien, als wäre sie dem Todesvogel sehr nahe gekommen. Der Rat und die Jäger hatten Thur finster angeblickt, waren gegangen und berieten sie sich nun.
Die Chancen, dass er Theea zur Frau erhielt, standen schlecht – das musste sich Thur eingestehen. Niemand schien ihm zu glauben. Aber — Thur ein Lügner? Niemals! Wer das behauptete, den würde er sofort und ohne zu zögern... ja, das würde er. Aber wie wollte er seine Worte beweisen?
Er sah es dem Blick des Häuptlings an, als der Rat und die Jäger zum Versammlungsplatz zurück kamen.
Mit eisiger Stimme verkündete er: »Thur wird nicht gewährt, Theea zur Frau zu nehmen. Es besteht Gefahr, dass Thur krank ist. Wir müssen abwarten.«
Abwarten? Abwarten? Was dachten sich diese Männer eigentlich? Thur war jung und kräftig! Er konnte nicht mehr abwarten! Wollte nicht mehr abwarten.
Die Menge starrte ihn an. Er starrte zurück, eine ganze Weile lang. Dann, als sich nichts mehr tat, wandte er sich um und ging davon. Die Menge löste sich auf, zurück blieben Grüppchen, die zusammen standen und tuschelten. Zwei Frauen stützten seine Mutter auf ihrem Weg zurück zu ihrer Hütte.
Thur schritt aufrechten Hauptes durch das Lager. In ihm kämpften Wut und Resignation.
Abwarten!
Wie lange denn noch? Hatte er denn nicht seinen Mut längst schon bewiesen?
Und wenn inzwischen ein anderer Jäger eine Trophäe vorlegte und um die Hand von Theea bat?
Da sah er eine katzenhafte Bewegung rechterhand vor sich. Ein Büschel schwarzes Haar, das hinter einer Hüttenwand verschwand. Er trat herzu.
»Ich glaube dir, Thur.«
Theea flüsterte es nur, aber er verstand sie genau.
»Ich werde mit dir kommen, wenn du heute nacht das Lager verlässt.«
Er nickte. Er gestattete dem Lächeln nicht, in sein Gesicht zu treten. Aber als er den Rest des Weges zu seiner Hütte schritt, atmete er befreit auf.

– Ende –

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