Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Juli 2003
Tote Götter
von Birgit Erwin


„Fünf Tage dauert dieses Unwetter nun schon. Fünf Tage! Das hab ich doch nicht gewollt.“
Er ließ den Kopf in die Hände fallen und stöhnte gequält.
Rana legte den mageren Säugling in die Wiege und trat neben ihren Mann. Er bemerkte es nicht einmal.
„Es ist nicht gerecht“, sagte sie heftig. „Sie haben dich geliebt und verehrt. Sie haben dich…“
„Sprich es ruhig aus“, sagte er bitter und warf seiner Frau einen stumpfen Blick zu. „Sie haben mich vergöttert. Jetzt hassen sie mich.“
„Es ist nicht gerecht“, wiederholte sie.
„Das da draußen ist nicht gerecht“, sagte er und zeigte durch das Fenster in die Nacht. Nur dass es nicht Nacht war, es war später Nachmittag, aber die Blitze zerrissen einen tintenschwarzen Himmel. Das Baby wimmerte.
„Wie geht es ihm?“
„Er hat Hunger“, flüsterte Rana, und eine Träne lief über ihre Wange. „Jorel, sag mir, dass es einen Ausweg gibt. Es muss einen Ausweg geben. Der Preis ist zu hoch…wir können doch nicht…“
Schon im nächsten Augenblick bereute sie ihre Worte. Sein Gesicht verfiel vor ihren Augen. Hätte sie jetzt zwischen der Sonne und einem Lächeln von ihm entscheiden dürfen, sie hätte nicht gezögert. Aber sein Feuer, an dem sie sich einmal gewärmt hatte, schien erloschen.
„Lass uns gehen, Jorel“, sagte sie sanft. „Sie erwarten uns.“
Er protestierte nicht, dass sie ihm in das Unwetter folgen wollte, und dieses Schweigen erschreckte sie mehr als alles, was geschehen war, seit ihr Mann die Götter getötet hatte.

Es waren nur ein paar Meter bis zur Ratshütte, doch die Unwetter hatten die ehemals gut ausgebauten Straßen in tückische Sturzbäche verwandelt. Rana musste schreien, um das Brüllen des Donners zu übertönen.
„Da vorne!“
Er nickte nur, denn er brauchte seine ganze Kraft, um sich gegen den Sturm zu stemmen. Hinter den Fenstern der Hütte sah er deutlich die Gesichter, aber niemand würde ihm und Rana zu Hilfe kommen. Endlich bekam er den Türgriff zu fassen und stieß seine Frau ins Trockene.
Alle Gespräche verstummten bei ihrem Eintreten. Ein Feuer prasselte im Kamin und flackerte über starre Gesichter. Ganz langsam löste sich eine Frau aus der Runde, stolperte auf das Paar zu und spuckte dem Mann vor die Füße. Jorel wurde bleich. Dann fasste er die bebende Rana an der Hand und durchquerte den Raum, als sei nichts geschehen. Erst als er auf dem erhöhten Ratssessel saß, ergriff er das Wort.
„Ist die Entscheidung schon gefallen, oder habe ich eine Stimme?“
Sein Blick ruhte nacheinander auf jedem einzelnen Gesicht. Ein paar der alten Freunde senkten die Augen, aber die meisten erwiderten ihn mit feindseligem Starren.
„Mörder“, zischte die junge Frau, als sie an der Reihe war. Jorel wusste, dass ihr Kind gestern gestorben war. Er dachte an seinen eigenen hungernden Sohn daheim und senkte den Kopf.
Schließlich erhob sich der alte Rondar. Seine milchigen Augen suchten und fanden Jorel.
„Ja, Jorel, wir gestatten dir zu sprechen. Wir wollen hören, was du zu sagen hast. Du hast die Götter getötet. Du bist schuld, dass sie die Geschicke der Welt nicht mehr lenken. Du bist schuld, dass das Chaos über uns hereingebrochen ist.“
Jorel verkrampfte die Hand unter dem Tisch. War er wirklich der einzige, der sich an die Abstimmung erinnerte, die in diesem selben Raum abgehalten worden war. Alle hatten für den Krieg gegen die Götter gestimmt, jeder einzelne von ihnen. Ihre Segenswünsche hatten ihn begleitet. Aber als sie endlich begriffen, dass der Sieg nicht das goldene Zeitalter der Freiheit einläutete, war es zu spät gewesen. Die erste Missernte hatten sie noch für ein Unglück gehalten, die zweite für eine Katastrophe. Nach der dritten waren die ersten Schmiereien an seiner Hauswand erschienen. Aber die Götter waren tot und unwiederbringlich verloren.
Das hatten sie jedenfalls gedacht, bis Rondar die Vision gehabt hatte, die alles veränderte. Jorel starrte kalt in die blinden Augen des Alten.
„Ich akzeptiere meinen Teil an der Schuld. Tut ihr das gleiche?“
Stimmen erhoben sich in bösem Gezischel. Rana drückte seine Hand.
„Verwegener“, donnerte der alte Seher, „Schlächter unserer Götter! Du hast uns in diese Katastrophe gestoßen, du allein!“
„Nun gut!“ Ganz langsam zog Jorel das Schwert aus seiner Scheide und legte es auf den Tisch. Sie erkannten es alle. Der rote Knauf flammte im grellen Licht der Blitze. „Was also erwartet ihr?“
„Geh in die Unterwelt. Biete dich den Göttern als Opfer an.“
Jorels Hand schnellte vor und bekam Ranas Arm zu fassen. Die ehemalige Kriegerin keuchte fassungslos.
„Das kann nicht euer Ernst sein, ihr… ihr…“
„Es ist ihr Ernst“, sagte Jorel ruhig. Über die Forderung war er nicht überrascht, nur darüber, dass es noch wehtat. „Aber seid ihr sicher, dass die Götter dieses Opfer annehmen werden? Du selber, Rondar, hast uns letzten Monat ihre Forderung verkündet. Die Farben…“
„Schweig!“, kreischte der Blinde.
Jorel machte sich nicht mehr die Mühe, sein verächtliches Lächeln zu verbergen. Sie konnten die Wahrheit nicht ertragen, wollten nicht glauben, dass die Götter wirklich so grausam waren. Er wusste es besser.
„Ich werde gehen. Aber ich stelle eine Bedingung. Toma!“
Er drehte so plötzlich den Kopf, dass sein ehemaliger Waffengefährte und bester Freund keine Zeit fand, den Blick abzuwenden. Stumm blickten sich die beiden Männer in die Augen. Jorel fühlte, wie es ihn in der Kehle würgte.
„Sorg für Rana und mein Kind. Lass nicht zu, dass sie entgelten, was ich… getan haben soll.“
„Jorel, nein!“
„Es muss sein, meine einzig Geliebte. Du bist eine Kriegerin. Sei stark.“
„Ich bin stark. Ich kann mit dir gehen.“
„Es geht nicht… Toma?“
„Du hast mein Wort, Jorel.“
Der nickte kurz, während er seine Frau in die Arme nahm. Mit geöffneten Augen küsste er sie.
„Kommst du wieder?“
Hilflos zuckte er die Achseln. „Ich liebe dich“, sagte er. Es war die letzte Wahrheit, die ihm geblieben war.

Kinder sind wir gewesen, dachte er bitter, dumme, verantwortungslose Kinder.
Nein, sie hatten nie darüber nachgedacht, was mit Göttern geschah, wenn sie starben. Lachend und siegestrunken hatten sie die toten Unsterblichen umtanzt, während Götterblut in Strömen von seiner geweihten Klinge geflossen war. Aber sie hatten niemand gehabt, um den leeren Panthenon zu füllen. Und dann war der Tag gekommen, an dem Rondar ihnen verkündet hatte, dass die Seelen der Götter in die Unterwelt gefahren waren und warteten.
Worauf warten sie? hatten die Menschen gefragt. Er allein hatte die Antwort gekannt. Auf Rache warteten sie. Auf Macht. Auf das, was das Leben der Götter lebenswert machte.
Und er hatte Recht behalten. Sie hatten noch eine Weile versucht, die Augen vor derWahrheit zu verschließen, aber lebendig wie tot hatten Götter mehr Zeit als Menschen. Irgendwann waren die ersten Kinder und Alten an Hunger und Krankheit gestorben.
Deshalb war er jetzt hier. Die Reise ans Ende der Welt hatte ihm das letzte abverlangt, aber er merkte kaum, wie die alten Wunden brannten und seine Muskeln vor Schwäche zitterten.
Er fühlte nur die alles verschlingende Einsamkeit, die ihn bis hier begleitet hatte.
Langsam zog er sein Schwert aus der Scheide und kappte die Zügel, die sein Pferd an den Baum banden. Das Tier hob erstaunt den Kopf und stubste ihn mit seiner weichen Nase.
„Geh“, sagte er leise. „Geh schon. Du brauchst mich nicht mehr. Und begleiten kannst du mich auch nicht. Nicht dahin.“
Das Tor zu den Toten gähnte grau und kalt vor ihm. Er zog den Mantel um die Schultern und wusste doch, dass es gegen diese Kälte keinen Schutz gab.
Das Pferd wieherte.
„Bitte geh!“, bat er leise. „Geh doch schon. Mach es mir nicht so schwer.“ Es waren die Worte, die er beim Abschied zu Rana gesagt hatte.
Das Pferd blieb stehen. Einen Augenblick verschwand seine Gestalt hinter einem heißen Tränenschleier, dann wandte Jorel sich schroff um und durchschritt das Tor, das entgegen der Legenden nicht bewacht war.
Warum auch? dachte er noch. Er holte tief Atem und begann seinen schwersten Gang.

Die Legenden logen. Jorel fragte sich, ob er jemals Gelegenheit haben würde, die Wahrheit zu berichten. Es gab keine Kreise der Hölle, keine klagenden Toten, die ihn mit kalten Händen zu berühren versuchten. Es gab nichts. Kalt und grau erstreckte sich die Unendlichkeit. Jetzt erst, mit kaltem furchterfülltem Herzen begann er, die Forderung der Götter zu verstehen. Der Rest Hoffnung, den er sich durch Sturm und Regen bewahrt hatte, erfror.
Plötzlich blieb er stehen.
„Ich bin hier“, sagte er leise. „Ich gehöre euch.“
„euch….euch…ch…“ höhnte ein leises Echo in seinem Kopf.
„Ich bin hier“, wiederholte er. „Ich bin der Abgesandte der sterbenden Menschheit.“
Und sie kamen. Blutlose Schatten ihrer selbst, die er auf der Höhe ihres Ruhmes gesehen hatte. Lassa, die Göttin der Liebe und ihr blutschänderischer Bruder Bela, der Krieg und Zandor, der Vater der Götter. In jeder Brust klaffte farblos die Wunde, die Jorels Schwert ihm geschlagen hatte. Schweigend schlossen sie ihren Kreis um ihn.
„Knie nieder, Menschlein.“
Er folgte ihrem Befehl wortlos. Mochten sie es für Demut halten oder Furcht. Er wusste, dass ihn in diesem Augenblick das Mitleid auf die Knie zwang.
„Sprich!“, befahl der Gott, der einmal die Welt beherrscht hatte. „Was bringst du uns?“
„Ich bringe mich selber“, sagte Jorel und sah ihm in die Augen. „Die Menschen haben mich euch als Opfer geschickt.“
Er lauschte in die Stille, aber es gab nichts, sie zu füllen. Wo kamen die toten Vögel wohl hin?
„Und was wollen die Menschen?“, fragte Lassa. Ihre Stimme war ein süßes Echo ihrer selbst. Sie hatte Tränen in den Augen gehabt, als er ihr das Schwert ins Herz gestoßen hatte. Er auch, aber seine Hand hatte nicht gezittert.
„Sie erhoffen von neuem euren Schutz. Sie glauben, dass ihr ihre Geschicke regeln könnt. Von hier. Sie glauben wieder an auch. Das ist es doch, was ihr braucht, Glauben.“
„Du klingst bitter. Haben sie dich wie uns verstoßen?“ Die Stimme Zandors war kalt und voller Befriedigung.
Jorel schwieg.
„Und nun bist du ihr Opferlamm. Wie sehr ihr Menschen die Opfer liebt. Aber du reichst nicht. Du bist nicht genug, Jorel von Ansalom.“
„Ich weiß.“
„Du weißt?“
„Ich wusste es in dem Augenblick, in dem ich eure neue Welt betrat. Ich verstand. Ihr wollt die Farben unserer Welt. Nichts anderes wird euch zufrieden stellen.“
Die farblosen Augen der Götter funkelten hungrig. Jorel war kalt, so unendlich kalt. Er dachte an den blauen Himmel, der über ihm und Rana gestrahlt hatte, an grünen Wald und die gelben Schlüsselblumen in ihrem Haar am Tage ihrer Hochzeit.
„Wir wollen die Farben euer Welt, ja“, nickte Bela, der Krieg. Seine Stimme grollte. „Aber wir sind gnädig. Eine Farbe. Du kannst entscheiden.“
„Und dann?“
„Dann werden wir euch helfen. Für den Anfang.“ Der tote Gott lächelte böse.
Langsam stand Jorel auf. Er blickte in das graue Nichts. Blauer Himmel, grüner Wald… die bernsteinfarbenen Augen seiner geliebten Frau…
„Nehmt mich…“, flehte er.
„Dich werden wir ohnehin bekommen, Sterblicher. Früher oder später.“
Die Augen der Götter waren kalt und erbarmungslos. Er hatte die Welt ändern wollen. In diesem Augenblick erkannte er das ganze Ausmaß seines Versagens. Er brach in die Knie.
„Dann… nehmt das Rot!“, flüsterte er mit brechender Stimme.

Sie waren verschwunden. Jorel stolperte auf die Füße. Seine Schritte waren schleppend wie die eines alten Mannes. Durch Kälte und Zeitlosigkeit kehrte er zurück in seine Welt.
Er sah sich um, und ein Schrei erstarb in seiner Kehle. Er dachte an die Worte des Kriegsgottes. „Für den Anfang.“
Die Rache der Götter hatte eben erst begonnen.
Er stieg auf sein Pferd, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Daheim würden sie ihn töten.
Für den Anfang ritt er geradeaus, dem grauen Sonnenuntergang entgegen.




Letzte Aktualisierung: 26.06.2006 - 23.08 Uhr
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