Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Omnec Onec wird immer eins, von der Erde vier, der sechs neuen Erden, größtes Rätsel bleiben. Mann kann guten Gewissens sagen, dass so gut wie keine Fakten über sie bekannt sind. Ihr Leben war samt und sonders Gegenstand von Vermutungen. Am erstaunlichsten ist, wie ein Wesen, das dermaßen in meinem Blickpunkt stand, sich eine solche Aura des Geheimnisvollen zu bewahren vermochte. Die Fragen unserer Liebe werden immer zahlreicher sein als die Antworten. Besaß sie je wirklich irgendwelche mystischen Kräfte, die Gabe der divinitischen Absorption oder überhaupt magische Fähigkeiten, oder erweckten nur ihr flinker Verstand und die spitze Zunge den Anschein, dass sie alles schon wußte, bevor es geschah? Wenn sie keine Hellseherin war, verstand sie sich doch meisterhaft auf Schattenboxerei und brachte mich, einen Menschen von der alten Erde dazu, ihr zu helfen, die Zukunft so zu gestalten, wie sie es für den vierten Planeten der sechs neuen Erden für richtig hielt.
*
Der vierte Planet war überzogen mit Eis und Schnee und verfügte über das beste Wasser der sechs neuen Erden. Die Temperatur von minus fünf Grad blieb dem Winter über konstant. Im Norden ergießt sich ein zugefrorener Fluß ins Meer, das den halben Planeten als riesige Eisplatte umspannte. Der Himmel gab sich am Tag achtundzwanzig Stunden lang blau. Die Nacht war achtundzwanzig Stunden stockdunkel. Die Hütten und Häuser zogen sich hier im Süden auf den lotrechten schwarzen Klippen wie Hochsitze dahin, von denen aus man auf das zugefrorene Meer hinunterschaute. Ursprünglich war die Siedlung, Giant-Rock, vor rund eintausenddreihundert Jahren von der interplanetarischen Konföderation zur Wassergewinnung errichtet worden. Wasser, dass die restlichen fünf neue Erden benötigten um dort Leben anzusiedeln. Vor ungefähr zweihundert Jahren war die Zivilisierung der fünf anderen Planeten abgeschlossen. Durch die angelieferten Wassermengen war eine eigene Atmosphäre entstanden. Es gab nun auch dort Winter und Schnee, Sommer und Regen.
Zu jener Zeit als die Konföderation die Wasserlieferungen zu den neuen Erden auf einen Monat im Jahr, und die Arbeiter auf ein drittel reduzierten, probten die Cons, die wolfsähnlichen Urbewohner des vierten Planeten den ersten Aufstand gegen die Wasserarbeiter und Siedler. Anstelle der Holzbauten errichtete man nun Häuser, Türme und Mauern aus den schwarzen Stein der Klippen und verankerte die Fundamente der Niederlassung tief im Fels.
Mit der folgenden Generationen wurden die Mauern weiter befestigt, die Türme höher und massiver. Seit damals ist die Niederlassung nie wieder in Feindeshand gefallen. Und seit damals gilt der Con als der schlimmste Feind der hier noch lebenden menschlichen Bewohner...
*
Weiß auf Weiß. Ein Ohr zuckte, und diese winzige Bewegung wurde zum Verräter.
„Siehst du das?“ fragte ich sie.
„Ich rieche.“
„Ich sehe es.“ Ich fasste die Beute ins Auge. Mehr war nicht notwendig.
„Ich sehe es auch.“ Sie sprang. Das Kaninchen schrak auf und stob davon, Omnec Onec ihm nach. Die weiße Pelzkugel flitzte über den weichen Schnee, während sie nach jedem Sprung einsank, schlug hacken, hin und her, um den Baum, um das Gebüsch herum und mitten hinein in die Dornen. Omnec Onec schnüffelte hoffnungsvoll, aber für sie war das Gestrüpp ein undurchdringlicher Verhau.
„Er ist weg“, erklärte ich.
“Ach. Wirklich. Warum hast du nicht geholfen?“
Ich schüttelte den Kopf: „Du musst lernen, allein zu jagen. Ich werde nicht immer bei dir sein.“
„Ein Con ist nicht dazu bestimmt, allein zu jagen.“
„Mag sein. Aber viele tun es. Und auch du wirst es lernen. Doch es war nicht meine Absicht, dass du mit einem Kaninchen anfangen sollst. Komm weiter.“
Sie trabte widerspruchslos hinter mir her; für sie war ich der Leitwolf und bestimmte die Richtung.
Wir hatten die Niederlassung verlassen, bevor auch nur der erste graue Morgenschimmer den Nachthimmel erhellte, der sich jetzt blau und weit und klar und frostig über uns spannte. Der Weg, dem wir folgten, war nicht mehr als eine weichrunde Rinne im tiefen Schnee. Bei jedem Schritt sank ich bis über die Knöchel ein. Im Wald ringsum herrschte winterliche Stille, hin und wieder durchbrochen vom Flügelschlag eines Vogels oder dem weit entfernten Ruf einer Krähe. Es war junger Wald, von Menschen der alten Erde erschaffen, neu aufgeschlossen; dazwischen ragten einige der Riesen empor, die als erste vor Jahrhunderten gepflanzt worden waren. Sommers gab es hier gute Weiden, für all die Tiere die der Mensch hier angesiedelt hatte. Es gab auf den vierten Planeten ausschließlich Nutztiere. Vor allem Ziegen, Schweine, Kühe, und Pferde. Vögel, Ratten, Mäuse und Kaninchen wurden angesiedelt um den Cons den Geschmack auf die Nutztiere zu nehmen.
Dieser Pfad führte zu einer baufälligen Hütte aus Feldsteinen, mit einem Pferch und Unterstand für die Herde. Im Winter stand alles leer.
Omnec Onec war hocherfreut gewesen, als ich am Morgen kam, um sie zu holen. Sie hatte mir den Weg gezeigt, den sie benutzte, um ungesehen in die Niederlassung hinein und hinauszukommen. Ein altes Viehgatter, seit langem zugemauert, war ihre Hintertür gewesen. Durch Erdverschiebung war ein Riss entstanden, groß genug für sie, und der flachgedrückte Schnee verriet, dass sie ihn oft benutzte.
Einmal außerhalb der Mauern, bewegten wir uns wie Schatten durch das Phantomlicht von Sternen und Monden auf weißem Schnee. In sicherer Entfernung von Giant-Rock hatte Omnec Onec damit begonnen, den Ausflug in eine Pirschübung zu verwandeln. Sie galoppierte voraus und lauerte im Hinterhalt, um sich dann auf mich zu stürzen, davon zu stürmen, in einem großen Bogen zurückzukehren und mich von hinten anzufallen. Ich hatte sie gewähren lassen, erstens, weil die Bewegung mich warm hielt, und zweitens aus reiner Freude am Herumtollen. Trotzdem achtete ich darauf, dass wir vorankamen, und als es schließlich hell wurde, waren wir meilenweit von Giant-Rock entfernt, in einem Gebiet, wohin sich zur Winterzeit kaum je ein Mensch wagte.
Die Jagd auf das Kaninchen hatte sich durch Zufall ergeben, für Omnec Onecs Bewährungsprobe hatte ich sogar noch bescheideneres Wild ausersehen.
„Weshalb sind wir hier hergekommen?“ wollte sie wissen, sobald wir die Hütte vor uns sahen.
„Um zu jagen“, antwortete ich und blieb stehen. Sie sank neben mir nieder und wartete. „Los, los“, ermunterte ich sie. „Geh und such!“
„Oh, das ist eine feine Jagd. Bei einer Menschenbehausung nach Abfällen schnüffeln. Sarkastisch!“
„Keine Abfälle. Geh und sieh’s dir an.“
Sie erhob sich aus ihrer halb liegenden, halb geduckten Haltung und bog ein Stück zu Seite aus, um sich in einem spitzen Winkel an die Hütte heranzuarbeiten. Ich beobachtete sie. Ich wollte, dass sie lernte, ohne mich auszukommen. Im Grunde genommen zweifelte ich nicht an ihren Fähigkeiten und mußte mir eingestehen, dass es sich bei dieser angeblichen Prüfung wieder nur um ein Hinauszögern des Unvermeidlichen handelte.
Sie hielt sich soweit wie möglich in der Deckung des verschneiten Buschwerks und näherte sich der Hütte wachsam, spähend und witternd. Alte Gerüche. Menschen. Ziegen. Kalt und blass. Plötzlich erstarrte sie, schob sich tastend einen Schritt weiter vor, ihre Bewegungen waren abgezirkelt und präzise. Die nach vorn gespitzten Ohren, die waagrecht ausgestreckte Rute verrieten ihre Spannung. MAUS! Sie sprang und hatte sie und schüttelte sie, ein kurzes Knacken, dann ließ sie das schlaffe Körperchen fliegen und fing es auf. Wieder schleuderte sie ihre Beute in die Höhe, hüpfte ihr nach und schnappte sie sehr manierlich mit den kleinen Vorderzähnen aus der Luft, nur um sie nochmals hochzuwerfen. Als sie schließlich die Lust verlor, war die Maus nur noch ein formloses Bündelchen Fell. Sie schluckte den Bissen hinunter und kam zu mir zurück. „Mäuse! Ganze Scharen. Überall kann ich sie riechen.“
„Wie ich vermutet habe. Die Schafhalter beschweren sich, die Mäuse würden diesen Ort überschwemmen und im Sommer ihre Vorräte verderben. Ich dachte mir, dass sie hier auch überwintern.“
„Erstaunlich fett für diese Jahreszeit“, urteilte Omnec Onec und machte sich mit Feuereifer daran, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, doch sobald sie ihren Hunger gestillt hatte, schloss sie sich mir an, als ich auf die Hütte zuging.
Das Innere bot einen trostlosen Anblick. Es gab einen primitiven Herd mit Rauchfang. Ein Stuhl und eine Bank bildeten die gesamte Einrichtung. Wenigstens war noch etwas Brennholz vorhanden, und ich zündete ein kleines Feuer an, gerade ausreichend, um mich zu wärmen und das Brot und Fleisch aufzutauen, das ich als Proviant mitgebracht hatte. Omnec Onec nahm ein paar Happen, nicht aus Hunger, nur, um mit mir zu teilen. Anschließend vertrieb sie sich die Zeit damit, die Hütte zu durchstöbern.
„Viele Mäuse!“
„Ich weiß.“ Es fiel mir schwer, aber dann überwand ich mich und fügte hinzu: „Du wirst hier nicht verhungern.“
Ruckartig hob sie den Kopf von der Stelle, an der sie geschnüffelt hatte. Sie kam steifbeinig ein paar Schritte auf mich zu, dann blieb sie stehen, ihre Augen suchten meine und hielten sie fest. Die Wildnis lauerte in ihren Tiefen.
„Du willst mich allein lassen?“
„Ja. Du hast hier genug Nahrung. Nach einiger Zeit werde ich zurückkommen, um zu sehen, ob es die gut geht. Ich denke, du wirst dich hier wohl fühlen. Du lernst zu jagen...“
„Du verrätst mich. Du verrätst die Cons.“
„Nein. Wir gehören nicht zusammen. Ich lasse dich frei, Omnec Onec. Wir kommen uns zu nahe, das ist nicht gut, für keinen von uns. Von Anfang an habe ich dir gesagt, dass ich keinen Bund schließen werde. Wir dürfen uns nicht gegenseitig so stark beeinflussen. Die weist was dir und mir blüht, sollte jemand unsere Verbundenheit aufdecken. Es ist besser für dich, fortzugehen, allein, um zu leben, wie es dir bestimmt ist. Dir ist bestimmt, einem Rudel von Cons anzugehören.“ Sie bannte mich mit ihren starren Blick. „Willst du mir sagen, es gibt Cons in der Nähe, solche, die einen Eindringling in ihrem Revier dulden und in ihr Rudel aufnehmen würden?“
Ich mußte zur Seite blicken. „Nein. Es gibt hier keine Cons. Man müsste viele Tage wandern, um einen Ort zu erreichen, wo noch Cons frei umherstreifen.
„Was gibt es denn hier für mich?“
„Nahrung. Freiheit. Dein eigenes Leben, unabhängig von mir.“
„Einsamkeit.“ Sie zeigte mir die Zähne, dann ging sie in einem weiten Bogen um mich herum zur Tür. „Menschen“, hörte ich bitter. Auf der Schwelle blieb sie stehen und sah über die Schulter zu mir zurück. „Menschen sind es, die glauben, sie könnten anderer Leben beherrschen, ohne sich mit ihnen zu verbinden. Denkst du, einen Bund zu schließen oder nicht, das ist allein deine Entscheidung? Mein Herz gehört mir. Ich gebe es, wem ich will. Ich gebe es nicht einem der mich von sich stößt. Ich werde nicht einem gehorchen, der die Bruderschaft mit einem Con leugnet. Hast du geglaubt, ich bleibe hier, um in diesem Menschenbau herumzuschnüffeln und die Mäuse zu fressen, die kommen, um sich von deren Abfall zu ernähren? Um zu sein wie die Mäuse und Ratten, ein Schmarotzer? Nein. Wenn wir nicht einen Bund schließen und keine Brüder sind, dann schulde ich dir gar nichts, am allerwenigsten Gehorsam. Ich werde nicht hier bleiben. Ich werde leben, wie es mir gefällt.“
„Du darfst mir nicht zurück nach Giant-Rock folgen. Ich verbiete es dir!“
„Du verbietest! Du verbietest? Soviel Recht hast du nicht. Du verbietest.“ Sie schnaufte verächtlich und wandte sich von mir ab. Sie wollte mir trotzig die Zähne zeigen, doch ich kam ihr zuvor und schrie: „Geh! Geh jetzt!“
Ich machte einen Satz auf sie zu. Sie floh, würdelos, mit schwerfälligen Sätzen und Sprüngen durch den tiefen Schnee. Ich versagte es mir, ihr zu folgen, um sicherzugehen, dass sie nicht stehen blieb. Nein. Das war vorbei. Was ich getan hatte, war mehr, als mich von ihr zurückzuziehen, ich hatte jede Verbindung zwischen ihr und mir durchtrennt, endgültig. Doch während ich auf die Stelle im Unterholz starrte, wo sie verschwunden war, fühlte ich eine Leere, einen brennenden Schmerz von etwas, das nicht mehr da ist, das fehlt. Vergleichbares habe ich von Menschen gehört, denen ein Glied amputiert wurde. Das Suchen des Körpers nach einem Teil, der unwiederbringlich verloren ist.
*
Ich hatte getan, was notwendig war. Ich versuchte mir einzureden, dass ich keinen Grund hatte, mich zu schämen. Nicht daran denken. Nein. Omnec Onec würde sich an das neue Leben gewöhnen. In der Freiheit war sie besser aufgehoben als bei mir. Was für ein Dasein wäre das gewesen für dieses Geschöpf der Wildnis, sich im Revier des Menschen herumzudrücken, immer in Gefahr, entdeckt zu werden, von Hunden, von Jägern oder durch Zufall. Vielleicht war sie allein, vielleicht war sie einsam, doch sie war frei.
Ich stapfte weiter und widerstand dem Impuls, mich nach ihr umzusehen. Sie würde mir nicht folgen. Nicht, nachdem ich sie mit solcher Entschiedenheit weggestoßen hatte.
Wäre ich nicht so tief in Gedanken gewesen, so darauf bedacht, mich in mir selbst zu verschanzen, hätte ich es bemerkt. Ich weiß nicht, ob sie mich verfolgten oder ob ich nichtsahnend an ihrem Versteck vorbeimarschierte, jedenfalls kam der Angriff für mich aus heiterem Himmel.
Ein Gewicht prallte gegen meinen Rücken, und ich fiel vornüber in den Schnee. Erst dachte ich, es wäre Omnec Onec, die einen Machtkampf ausfechten wollte. Ich rollte herum, und fast wäre es mir gelungen aufzuspringen, bevor ein anderer nach meiner Schulter griff. Sol-Tecs. Entfremdete. Nachkommen von einst abtrünnigen Wasserarbeitern, drei Männer, einer jung, zwei groß und früher einmal sehr muskulös. Ich registrierte die Fakten schnell und genau, als wäre dies eine Kampfübung. Einer der Entfremdeten hielt ein Messer gezückt, die beiden anderen hatten Knüppel. Zerrissene, schmutzige Kleider. Von der Kälte gerötete, schorfige Haut, verfilzte Bärte, struppiges Haar. Blutergüsse, Platzwunden im Gesicht – Spuren von Kämpfen untereinander, oder hatten sie vor mir schon jemanden überfallen?
Ich riss mich los und sprang zurück, um soviel Abstand wie möglich von ihnen zu gewinnen. Das Gürtelmesser war meine einzige Waffe; in der Annahme, es gäbe keine Entfremdeten mehr in der Nähe von Giant-Rock, hatte ich mich nicht für eine Situation wie diese gerüstet.
Noch waren die drei Sol-Tecs unschlüssig, wiegten sich hin und her, traten von einem Fuß auf den anderen und beobachteten aus schmalen Augen jede meiner Bewegungen. Keiner war erpicht darauf, den Anfang zu machen. Ich schob mich auf eine Lücke im Kreis zu. Sie rückten nach, um mir den Weg abzuschneiden.
„Was wollt ihr?“ brüllte ich sie an. Für einen Moment schaute ich einem von ihnen geradewegs in die Augen. Leer. Nichts war darin zu finden, nur das dumpfe Elend von körperlichem Unbehagen und Mangel. Ich starrte ihn an, und er blinzelte.
„Fleisch.“ Er stieß es hervor, als hätte ich das Wort aus ihm herausgepresst.
„Ich habe kein Fleisch, überhaupt nichts zu essen. Von mir könnt ihr nichts bekommen, außer einem Kampf!“
„Du“, grunzte einer seiner Spießgesellen und ließ etwas wie ein schnaufendes Lachen folgen. Freudlos, herzlos. „Fleisch!“
Ich stutzte, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit, und schon sprang mich einer von hinten an, umschlang meinen Oberkörper und einen Arm, und dann schlug er seine Zähne in die Beuge zwischen Hals und Schulter. Fleisch! Ich?
Ein Grauen jenseits aller Vernunft erfüllte mich, und ich kämpfte. Kämpfte wie bei jenem ersten Mal, als Entfremdete mich angegriffen hatten, mit einer rücksichtslosen Brutalität, die ihrer gleichkam. Ich hatte den langen Winter auf meiner Seite, denn sie waren geschwächt von Frost und Entbehrungen. Ihre Hände waren kältesteif und gefühllos, und wenn uns auch allen der Wille zu überleben ungeahnte Kräfte verlieh, war meiner aber noch heiß und stark, der ihre hingegen untergraben von der gnadenlosen Härte ihres Daseins als Ausgestoßene.
Es kostete mich Haut und Fleisch, doch ich riss mich von dem ersten Angreifer los. Zwischen den Rippen des jüngeren Angreifer zerbrach mir das Messer. Während ich mit einem rang, drosch ein anderer mit dem Knüppel auf meinem Rücken, bis es mir gelang, seinen Kumpan herumzudrehen, so dass ihn die Schläge trafen. Irgendwie scheine ich den Schmerz der Hiebe nicht wahrgenommen zu haben, und die Fleischwunde an meinem Hals war nur eine warme Stelle, aus der Blut trat. Meine Begierde, sie alle zu töten, war stärker als mein Selbsterhaltungstrieb. Ich konnte nicht siegen, drei Gegner waren zu viel. Der jüngere lag im Schnee und hustete Blut, doch von den beiden anderen hatte einer die Hände an meiner Kehle, während der andere sich bemühte, sein Schwert freizubekommen, das sich zwischen meinem Arm und Ärmel verfangen hatte. Ich trat und schlug um mich, ohne irgendwelche Wirkung zu erzielen, während die Welt sich langsam in Schwärze hüllte und der Himmel sich zu drehen begann.
„Bruder! Mein Freund!“
Sie kam. Schnappende Kiefer und ihr Gewicht trafen unser verschlungenes Knäuel wie ein Rammbock. Wir stürzten alle zusammen in den Schnee, und der Würgegriff um meinen Hals lockerte sich so weit, dass ich einen dünnen Luftstrom in meinem Brustkorb saugen konnte. Mein Kopf wurde klar, und plötzlich hatte ich wieder das Herz zu kämpfen, ohne Rücksicht auf Schmerzen und Wunden, zu kämpfen. Ich schwöre, ich habe mich selbst gesehen, das Gesicht blau angelaufen, Blut, das quillt und strömt, und der Geruch war so erregend, dass ich die Zähne fletschte. Dann riss Omnec Onec meinen Gegner zu Boden und von mir los und attackierte ihn mit einer Behändigkeit, der ein Mensch nichts entgegenzusetzen hatte, schnappte zu und sprang zurück, bevor die greifenden Hände sich in ihr Fell krallen konnten.
Ich weiß, ich spürte, wie Omnec Onecs Zähne sich in den Hals des Mannes gruben. Ich spürte das Todesröcheln zwischen meinen eigenen Kiefern und den sprudelnden Blutquell, der mein Maul füllte und über meine Lefzen rann, bis der volle Strom seines Lebens sich ungehemmt über seine stinkenden Kleider ergoss.
Dann nichts.
Dann saß ich im Schnee, mit dem Rücken an einem Baum gelehnt. Omnec Onec hatte sich nicht weit von mir niedergelassen. Sie leckte sich das Blut von den Vorderläufen, eine sorgfältige, langsame, methodische Säuberung ihres ganzen Felles folgte. Ich wischte mir mit den Ärmel über Mund und Kinn, und was ich abwischte war Blut. Nicht mein Blut. Ich warf einen kurzen Blick auf den Leichnam, schaute zur Seite. Seine Kehle war aufgerissen.
Ich kniff die Augen zu. Ich saß ganz still. Kalte Nase an meiner Wange. Ich holte tief Luft und hob die Lider. Sie saß neben mir und sah mich an.
„Omnec Onec, ich danke dir.“
„Nachtfalke“, berichtete sie mich. „Meine Mutter nannte mich Nachtfalke.“
Sie schniefte und mußte niesen, dann schaute sie zu den Toten hin. Der jüngere war an dem Messerstich gestorben, aber nicht schnell. Die anderen beiden...
„Ich habe schneller getötet“, bestätigte Nachtfalke. „Ich habe nicht die Zähne einer Kuh. Aber du hast dich gut gehalten für einen deiner Art.“ Sie stand auf und schüttelte sich. Blut, kalt und warm, spritzte auf mein Gesicht. Mit einem angeekelten Laut wischte ich es ab, erst dann begriff ich. „Du blutest.“
„Du auch. Er zog die Klinge aus deinem Leib, um sie in mich zu stoßen. Lass mich die Wunde ansehen.“
„Warum?“
Die Frage hing zwischen uns in der kalten Luft. Über uns verflochten sich die Äste der Bäume zu schwarzen, spröden Arabesken unter dem nachmittäglichen Winterhimmel. Ich brauchte kein Licht, um zu sehen. Ich brauchte sie nicht einmal zu sehen. Muss man ihr Ohr sehen, um zu wissen, dass sie zu einem gehört? Ebenso unsinnig zu leugnen, dass Nachtfalke zu mir gehörte.
„Wir sind Freunde. Wir sind Brüder. Wir gehören zusammen“, gab ich zu.
„Wirklich?“
Ich füllte ein Suchen, ein Tasten, ein Verlangen nach meiner Aufmerksamkeit, wie ich es schon einmal gespürt, jedoch zurückgewiesen hatte. Diesmal nicht. Ich öffnete mich, konzentrierte mich ganz auf sie. Nachtfalke war da. Fell und Zähne, Muskeln und Krallen, und ich nahm sie an. Ich spürte den Schwertstich in meiner Schulter, wo die Klinge genau zwischen zwei Muskeln eingedrungen war. Sie hielt die Pfote angewinkelt. Ich zögerte und empfand sofort ihren Schmerz über dieses Zögern. Deshalb warf ich alle Bedenken über Bord und griff nach ihr wie mir danach war.
Vertrauen ist kein Vertrauen, solange es nicht vollkommen ist, dachte ich mir. So nah waren wir uns. Einen Augenblick nahm ich die Welt auf zweierlei Art war, als Nachtfalkes Sinneseindrücke die meine überlagerten; wie für sie die Toten rochen; Geräusche, das Näherkommen der aasfressenden Füchse, die sich zum Festmahl sammelten; monochrom, aber scharf umrissen. Dann war es vorbei, und ich hatte Teil an ihren Sinnen und sie an meinen. Wir waren verbunden.
*
„Wir müssen uns auf den Weg machen. Zu Hause kümmere ich mich um unsere Blessuren, doch erst müssen wir ins Warme kommen.“
Ich fühlte ihre Zustimmung. Unterwegs hielt sie sich neben und nicht – wie vorher – hinter mir. Einmal hob sie den Kopf um den Wind zu lesen. Kalt. Schnee. Sonst nichts. Ihre Nase vermittelte mir der die Gewissheit, dass keine neue Gefahr von irgendwelchen Sol-Tecs drohte. Die Luft war rein, bis auf den Gestank der Toten hinter uns.
„Du hast dich geirrt“, meinte sie. „Allein ist keiner von uns ein guter Jäger. Außer du glaubst, du hättest meiner Hilfe nicht bedurft, vorhin.
“Ein Con ist nicht dazu bestimmt, allein zu jagen“, antwortete ich, bemüht, einen Rest Würde zu wahren. Sie ließ die Zunge aus dem Maul schlenkern.
„Keine Angst, mein Freund. Mein Bruder, ich werde bei dir sein.“
Wir gingen weiter durch den knirschenden Schnee und die mit schwarzer Tinte gezeichneten Schatten der Bäume.
„Wir haben nicht mehr weit nach Hause“, ermunterte Nachtfalke mich. Ich fühlte den starken Zustrom ihrer Kräfte, als wir müde und humpelnd das letzte Stück Weg in Angriff nahmen.
*
Ich wachte auf. Oder vielmehr, ich kam wieder zu mir. Ich lag in meinem Bett, umhüllt von Wärme und Weichheit. Ohne mich zu rühren, versuchte ich festzuhalten, wie es mir ging. Ich fühlte mich müde und zerschlagen, wie es manchmal der Fall ist, nachdem Schmerzen abgeklungen sind. Ein Frösteln lief mir über den Rücken. Nachfalke lag nackt neben mir, ihr Atem strich warm über meine Schulter. Es war entweder sehr spät oder sehr früh. In meinem Haus schien alles zu schlafen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie ich in mein Bett gekommen war. Nachfalke erwachte.
Sie schmiegte sich enger an mich und murmelte verschlafen: „Ich liebe dich.“ Dann fielen ihre Augen wieder zu.
„Nachtfalke?“ Plötzlich konnte ich nicht fragen, wollte es nicht wissen. Ich lag still und fühlte mich elend, traurig und hatte Mitleid mit mir selbst.
„Ich habe versucht, dich zu wecken, aber du warst noch nicht stark genug, um bei mir zu sein. Dann habe ich eine divinitische Absorption vorgenommen.“
„Du hast was...?“ Ich ließ den Gedanken unvollendet. „Danke, dass du über mich gewacht hast.“
Was hätte ich sagen sollen? Sie wegschicken? Ich seufzte. Warum das Unvermeidliche hinausschieben. Ich mußte sie wieder in ihre Welt zurückschicken. Sie durfte nicht mehr hier sein, wenn Giant-Rock erwachte.
„Nachtfalke?“
Sie regte sich.
„Es tut mir leid, aber ich muss dich wegschicken.“
„Ich weiß. Ich hätte mich nie mit dir in einem Bett legen dürfen.“ Ich legte ihr einen Finger auf die Lippen, und sah ihr tief in die Augen. Sie schob meine Hand zur Seite und küsste mich liebevoll, dann schlüpfte sie aus dem Bett. Ich erhob mich langsam. Sie schaute mich an, ihr Blick war voller Sehnsucht. „Du weist. Eine divinitische Absorption ist nur möglich, wenn ein Mensch und ein Con sich verbrüdern. Wenn sie Geliebte werden...“
„Eines Tages...“ unterbrach ich. Diesmal war sie es, die mir den Finger an den Mund legte.
„Davon wollen wir jetzt nicht reden mein Liebster. Lassen wir die heutige Nacht, wie sie ist. Vollkommen.“ Sie gab mir noch einen Kuss, glitt aus meinen Armen und dann aus der Tür. Vollkommen!