Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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August 2003
Ein flotter Abend
von Klaus Eylmann


Bis vor einem Monat dachte Rita, sie habe ihr Leben im Griff. Doch die Welt sah anders aus, als sie ihren Job verlor.
Schneizlreuth. Ein Name, der Kühe, Lederhosen, Bier, Weißwürste vor das innere Auge rief und Ritas Blutdruck in die Höhe trieb. Sie verstand es nicht. Hier hatte sie ihre Kindheit erlebt. Warum lehnte sie sich nicht zurück und ließ die Abschnitte ihrer Karriere an sich vorüber ziehen? Weil sie erst zweiundvierzig Jahre alt war, Hergottnochmal! Vor einem Monat noch Geschäftsführerin der Filiale eines Bekleidungskonzerns in Bad Reichenhall. Und jetzt? Sie saß in der Küche des Bauernhofes ihrer Eltern. Bestecke klapperten. Rita blickte über Roy hinweg aus dem Fenster, wo die letzten Strahlen der Sonne Ziehbrunnen und Misthaufen in rötliches Licht tauchten. In dem Mist stecke ich, dachte sie. Mist, auf dem Ignoranz und Langeweile wachsen.
“Du siehst gut aus, doch wie lange hält das vor? Heirate endlich.”
Die gebetsmühlenartige Litanei ihrer Mutter trieb Rita das Blut ins Gesicht. Der Blick ihres Stiefvaters glitt über sie hinweg, und Rita dachte: ‘Und du bist verheiratet, liebe Mutter, doch wie lange hält d a s vor?’
Roy war ein stattlicher Mann, robust und durchtrainiert. Graumeliertes Haar, sonnengebräunt und einen unschuldigen Ausdruck im Gesicht. Als er sich finanziell verhob, hatte er sich auf dem Hof eingenistet. Ihre Mutter hat ihn geheiratet. Einfach so. Roy. Rita kam nicht über die Barriere, die zwischen ihr und der Mutter war.
Rita hatte gefragt: “Wieso hast du Roy geheiratet? So kurz nach Vaters Tod?”
“Du bist weggelaufen und hast mich allein gelassen. Wolltest unbedingt was Besseres werden. Wir sehen, was daraus geworden ist: Eine Frau in den Vierzigern, die mir auf der Tasche liegt.” Ritas Wut kochte auf kleiner Flamme.
Ihre Mutter, noch immer eine attraktive Frau. Ihr moderner Kurzhaarschnitt, ihr glattes Gesicht. Augen, klar wie der See. Attribute, die das Alter verleugneten. Ritas Mund verzog sich. Kein Wunder, bei der Tochter. Ihre Gedanken gerieten auf Abwege. Das Zwielicht der Dämmerung ließ in ihr das Gefühl aufkommen, sie sei in einer Fernsehfolge der Twilight Zone, in der sich der Abend ständig wiederholte. Wo Roy mit dem Fuß zwischen ihre Beine fuhr, sie vom Stuhl aufsprang und ihre Mutter in resignierendem Tonfall sagte: “Rita, was ist los? Du hast doch noch gar nicht aufgegessen.” Wo jeden Abend die Zukunft von ihr abhing. Überschaubar, wenn sie sich wie jeden Abend auf ihr Zimmer zurückzog. Unbestimmt, würde sie sich von Roy vögeln lassen. Dann fiel ihr eine weitere Alternative ein.
Roy legte den Arm um seine Frau, ließ seinen Blick wieder über Ritas Körper wandern und das Blut schoss ihr in den Kopf. Nun kommt der Fuß, dachte sie. Er schob sich zwischen ihre Beine und Rita sprang auf.
“Mamma,” Rita sah an Roy vorbei, “ich fahre zu Lisa. Wir haben uns fürs Kino verabredet.”

“Wollt ihr euch nen Pornofilm ansehen? Sieht aus, als wolltest du da mitspielen.”
Rita antwortete nicht, als sie die Treppe hinunter ging. Ihr war klar, dass das Minikleid den Blick auf ihre Schenkel freigab. Dann stand sie vor Roy und drückte seinen Kopf in ihren Ausschnitt.
“Komm heute nacht auf mein Zimmer, wenn ich zurück bin, aber lass das Licht aus.”

Eine halbe Stunde später saß Rita in Lisas Wagen.
“Wie hältst du es hier nur aus?”
“Nur mit dir, Lisa. Nur mit dir.” Rita stieß einen Seufzer aus und blickte ihre Freundin an, die angestrengt nach vorn blickte. Dressed to kill, dachte sie und sah, wie das Kleid Lisas Schenkel hochrutschte.
“Und wie geht es Roy?”
“Wie immer.”
“Was? Hat er wieder seinen Fuß beauftragt, mit dir Kontakt aufzunehmen? Wieso fällt ihm nichts anderes ein?” Lisa lachte. “Und deine Mutter?”
“Ich komme immer noch nicht darüber hinweg. Warum hat sie einen Mann genommen, der so viel jünger ist als sie?”
“Das spricht doch für deine Mutter”. Lisa bog von der Straße ab. “Du bist ihre jüngere Ausgabe.”
“Er hofft, er bekommt uns im Doppelpack.”
“Na, so wie du gebaut bist, muss ihm das Blut in jedes Körperteil schießen.” Lisa lachte wieder. “Hat er dich jemals vorher in dem Kleid gesehen, das du jetzt anhast? Ich hätte nichts dagegen, mich von ihm flachlegen zu lassen.”
“Du kannst ihn haben. Heute Nacht.”
“Meinst du das im ernst? Du bist eine echte Freundin.” Lisa fuhr auf den Parkplatz des Plötzener Landhauses. Gelbe Plakate leuchteten unter den Scheinwerfern des Wagens auf.
“Was heißt ‘California Dream Men’?”
“Wirst du noch sehen.” Lisa zog Rita mit sich.
“Hat sich nicht viel geändert.” Die mit dunklem Holz getäfelten Wände, die Bar auf der einen Seite, dunkle Tische und Stühle auf der anderen. In der Mitte die Tanzfläche. Rechts davon eine Bühne. Darüber hing das gelbe Banner mit ‘California Dream Men’.
Rita und Lisa setzten sich an die Bar. Von dort hatten sie ein gute Sicht auf Tanzfläche und Bühne. Frauen tanzten oder saßen an den Tischen. Männer. Wo waren sie?
“Männer Strip. Das ist es also. Ich dachte, wir wollten zum Tanzen?”
“Können wir doch.” Lisa sprang vom Hocker und zog Rita auf die Tanzfläche.
Hüften schwangen, Beine stampften. Sie tanzten inmitten ausgelassener Frauen. Mit ihrer Freundin fühlte sich Rita um zwanzig Jahre jünger. Arme von sich gestreckt, schüttelten sie ihre Brüste, sahen sich an und lachten. Rita spürte, wie Lisa sie keinen Moment aus den Augen ließ, näher an sie heran kam, hautnah mit ihr tanzte, und Rita spürte Ameisen auf ihrer Haut. Lisa schlenkerte den Kopf im Takt, ihre schwarzen langen Haare flogen über Ritas Gesicht. Die Musik wurde lauter.
“Und nun, meine Damen, kommen die Männer, die Ihr Blut zum Kochen bringen. Einen Applaus für Luca, Marko, Wilhelm, Hans und Wilfried, unsere California Dream Men.”
“Das ist Luca”, hauchte Lisa, griff nach Ritas Hand und pilgerte mit den anderen Frauen zur Bühne.
Trotz des Straßenanzuges, den er trug, sah Rita: der Mann war athletisch gebaut. Schwarze, schulterlange Haare, Indiogesicht, brennender Blick, fließende, einstudierte Bewegungen. Nach einer Minute war er im Slip, kniete sich vor sie hin, ließ das Becken nach vorn schnellen. Frauen kreischten, klammerten sich an ihre Geldscheine, Hände strichen über Lucas Körper, ehe das Geld in seinem Slip verschwand. Rita öffnete ihr Portemonnaie. Sie hatte einige Fünf-Euro-Noten und etwas Kleingeld.
Marko war der nächste und Rita mochte ihn nicht. Er schien nicht bei der Sache zu sein. Blickte über das Publikum hinweg. Seine Bewegungen waren die eines Automaten und Rita öffnete ihre Geldbörse. Ehe sie dazu kam, Marko ein paar Münzen in den Slip zu schütten, sah sie einen anderen Mann, der ihnen den Rücken zu drehte und sich mit geübten Bewegungen Jacke, Hose und Hemd vom Körper zog.
‘Knackarsch.’ Rita sah kurz zu den Tischen und zur Bar hinüber. Leer. Es gab keine Frau, die nicht vor der Bühne stand.
“Wilhelm das Dreibein”, rief Lisa und angelte nach ihren Geldscheinen. Wilhelm drehte sich um und ging in die Hocke. Seufzen, Stöhnen überlagerten die Musik. Schreie brachen sich an den Wänden. Wie hypnotisiert blickte Rita auf die Phyton, die aus dem Slip ragte und vor ihren Augen tanzte.
Frauenhände streckten sich. Rita tastete nach ihrem Geld, sah die Fünf-Euro Scheine. Zu klein. Sie griff in Lisas Handtasche, und zog einen Hunderter aus dem Portmonnaie. Dann holte sie ein Feuerzeug hervor und hielt den Schein über die Flamme.
“Wa-was machst du da?”, schrie Lisa als Rita mit beiden Händen den Schein auf Wilhelms Penis spießte.
“Du Schlampe!” Staunen lag in Lisas Stimme. Rita spürte eine Hand im Nacken, die sie nach vorn drückte. Das einäugige Monster kam näher. Rita öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, dann konnte sie es nicht mehr. Jemand schrie, Frauen stöhnten, der Lärm verflüchtigte sich, und Rita hörte nur noch das Pochen ihres Blutes.
‘O Gott, was mach ich da!’ , dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Wasser. Rita spürte Wasser im Gesicht und öffnete die Augen. Lisa stand über ihr. Rita blickte sich um. Sie lag in einem Toilettenverschlag.
“Wach geworden?” Lisa zog sie zu sich hoch und umklammerte sie mit beiden Armen.
Lisas Brüste pressten sich an ihren Körper und ihre Lippen näherten sich. “Das war so scharf, wie du den Hunderter über seinen Schwanz gezogen hast. Und der Mann, der da dran hing. Du hättest sein Gesicht sehen sollen.” Lisas Zunge tanzte in Ritas Mund. Benommen ließ diese es mit sich geschehen, erwiderte den Kuss, dann löste sie sich von ihrer Freundin.
“Was hab ich da gemacht! Ich gehe nicht mehr in den Saal zurück.” Rita stolperte zum geöffneten Toilettenfenster und zwängte sich hindurch. Lisa folgte kichernd. Dann saßen sie in ihrem Auto.
“Und was ist mit Roy?” Lisa lenkte den Wagen mit einer Hand, während sie mit der anderen über Ritas Beine fuhr.
“Was?”
“Du sagtest doch, heute Nacht könnte ich.”
“Bei meiner Schlafzimmerlampe habe ich die Birne rausgedreht. Und rede nicht mit ihm. Er soll denken, ich sei es.”
“Du hast es geplant, du Luder. Du hast was vor. Hat er dich schon mal stöhnen gehört?”
“Natürlich nicht.”

Sie ließen Lisas Wagen hundert Meter vor dem Haus stehen und gingen zu Fuß weiter, huschten die Treppe empor, in Ritas Schlafzimmer hinein. Rita hörte das Rascheln der Kleider. Lisa drapierte das Bett mit ihrem Körper und Rita setzte sich neben sie.
“Ich beneide den Kerl”, flüsterte sie und strich über Lisas Brüste.
“Geh nicht weg. Lisa hielt ihre Hand fest. “Wie wäre es, wenn wir beide…”.
“Ich muss.” Rita stand auf. “Diesen Triumpf gönne ich ihm nicht.”
Dann verließ sie leise den Raum und schlich die Treppe hinab, hielt einen Augenblick inne. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie Lisa benutzte, und sie wunderte sich, dass diese mitmachte. Rita stapfte laut die Stufen hoch und schlich sich in die Besenkammer. Dort hatte sie eine Taschenlampe deponiert. Es war bizarr. Sie, Rita, eine gestandene Frau von zweiundvierzig Jahren, auf Horchposten im Abstellraum.
Rita hörte, wie sich eine Tür öffnete, dann gedämpfte Schritte. Eine andere Tür schloss sich leise. Rita wartete einige Minuten, griff nach der Taschenlampe, ging in das Schlafzimmer der Mutter und schüttelte ihre Schulter. Die Frau hatte einen tiefen Schlaf und brauchte einige Minuten, um zu begreifen, was Rita ihr erzählte.
Rita zog ihre Mutter aus dem Bett und führte sie über den Flur. Stöhnen, Grunzen, Quietschen von Bettfedern. Geräuschlos öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer und schaltete die Taschenlampe ein.

Dunkle Wolken hingen über Schneizlreuth und Regen prasselte gegen die Fenster. Als Rita am nächsten Morgen ihre Koffer packte, entprach das Wetter ihrer Stimmung. Sie hatte einen Fehler begangen. Ihr Plan, die Beziehung zu ihrer Mutter zu festigen, indem sie das Hindernis Roy aus dem Weg räumte, war nicht aufgegangen. Ihre Mutter hat sie aus dem Haus geworfen. Alle beide.
Sie stand weinend hinter dem schlierenverhangenen Fenster, als Rita den Wagen aus der Garage fuhr. Rita stieg aus, lud ihr Gepäck ein und blickte zu Roy hinüber, der mit seinen Koffern vor dem Eingang auf ein Taxi wartete. Dann sah sie Lisas Auto. Die kurbelte die Scheibe herunter und warf Rita eine Kusshand zu.
“Fahr hinter mir her. Du wohnst ab jetzt bei mir.”















Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 10.46 Uhr
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