Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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August 2003
Eine Dreigroschengeschichte
von Gerlinde File


"Vergessen sie Rita Hainbauer!" brüllte Hubert ins Telefon. Wütend warf er den kleinen Glücksgroschen, den er gedankenverloren zwischen den Fingern hin- und hergedreht hatte, in eine Ecke des Büros. Das war der dritte Anruf an diesem Tag und so ging das nun schon beinahe seit einem Monat. Hubert Neumeister, der für Deutschland zuständige Personalchef eines internationalen Damenmodekonzerns, lehnte sich genervt in seinem Stuhl zurück. Vor lauter Ärger hatte er gar nicht richtig zugehört, doch das Telefongespräch hallte in seinen Ohren nach. Wie hatte sich diese hysterische Dame am anderen Ende der Leitung genannt? "Marie Dorothee Baumann?" – Diesen Namen kannte er doch. Aber woher?
Groß gewachsen, ohne Bierbauch und Glatze und obendrein mit einem ansehnlichen Einkommen hielt er sich für einen äußerst attraktiven Mann. Er konnte weder verstehen noch verwinden, daß ihn seine Ehefrau nach über zwanzig Ehejahren von einem Tag auf den anderen verlassen hatte, wegen sexueller Nötigung wie sie sagte. Sein einziger Trost in dieser Zeit war seine Beförderung zum Personalchef.
Und dann lernte er Rita kennen, eine extravagante Erscheinung, rote Stoppelfrisur, ausgefallener Schmuck, niemand hätte sie auf zweiundvierzig geschätzt. Die wußte, was Männer brauchen! Noch nie hatte er sich bei einer Frau so wohl gefühlt. Die roch nach frischer Wäsche und nach warmer Küche. Gott, konnte diese Frau kochen! Und er tat alles, um sie ganz für sich zu gewinnen: Blumen, Schmuck, ein gemeinsamer Urlaub in einem sündteuren Hotel auf den Malediven. Er hatte all seine Hoffnung in sie gesetzt und er hatte sie einfach nicht ernst genommen, wenn sie von ihrem Leben als Single schwärmte.
"Marie Dorothee Baumann" – so hieß doch die Frau des Konzernchefs! Herrn Neumeister setze für Sekunden der Herzschlag aus und sein Atem stockte. Das durfte doch nicht wahr sein! Was hatte diese Frau mit seiner kleinen Filialleiterin aus Bad Reichenhall zu schaffen? All die anderen Beschwerden wegen der Entlassung der offensichtlich sehr beliebten Verkäuferin hatte er ungerührt ignoriert, aber die Frau des Chefs! - Das konnte echt heikel für ihn werden.
* * *
Rita Hainbauer saß am Ufer der Seine und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Sie hatte ihre letzten Groschen zusammengerafft und den lange erträumten Urlaub in Paris gebucht. Nachdem sie ihre Arbeit verloren hatte, hatte sie Hals über Kopf ihr Appartement in Bad Reichenhall gekündigt und war zu ihren Eltern gezogen. Doch bereits nach drei Wochen im heimatlichen Schneizlreuth hatte sie ihre vorschnelle Entscheidung bitter bereut. Dieses ewige Getratsche! Diese vorwurfsvollen Blicke, weil sie nun einmal absolut keine Lust hatte, den Hafen einer Ehe anzusteuern! Ihre Welt war das nicht mehr. Sie liebte schöne Kleider, Schmuck und Kultur. Mit unglaublichem Talent verstand sie es, sich für wenig Geld immer ein bißchen ausgefallen aber doch geschmackvoll zu kleiden. Ganz besonders aber genoß sie es, die angesehenen Frauen der Gesellschaft bei kulturellen Anlässen in einer Garderobe zu sehen, die sie selbst liebevoll zusammengestellt hatte. Oft erntete sie dankbare Blicke und mit der Zeit auch das private Vertrauen der Kundinnen. Rita Hainbauer hörte zu, erzählte nichts weiter, gab manchen guten Tipp und war heilfroh, ein Single zu sein und sich nicht mit den Macken eines Ehemanns herumärgern zu müssen. Und jetzt hatte ausgerechnet sie ihren Job verloren, nicht etwa, weil sie die Arbeit nicht gut genug gemacht hatte, sondern einzig und allein, weil der Personalchef sich an ihr rächen wollte. Sie hatte ihm nicht zugetraut, daß er aus einer Kränkung heraus so weit gehen würde. Längst hatte sie bereut, daß sie sich überhaupt auf ihn eingelassen hatte.
Noch hatte sie Ersparnisse. Noch konnte sie sich diesen Urlaub in Paris leisten.
Die Aufregungen der letzten Zeit lagen hinter ihr und sie fragte sich immer wieder, was für einen Sinn das alles machte. Nein, sie wollte das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Sie hatte sich entschieden, und das war gut so. Aber wo würde sie mit ihren 42 Jahren noch eine neue Arbeitsstelle finden, eine, die wenigstens annähernd so befriedigend wäre wie die, die sie eben verloren hatte?
Das Wasser um ihre Füße war angenehm kühl. Ein Fisch kam vorbei und berührte sie fast. Sie hielt die Luft an. Das war einer der seltenen Augenblicke, wo etwas ganz Unwahrscheinliches passiert. Rita hatte das Gefühl, als ob der Fisch ihr ganz persönlich etwas sagen wollte. Ja, wie ein Fisch im Wasser, so wollte sie sein, frei und ungebunden, selbst entscheiden, ob sie Nähe zulassen oder Abstand halten wollte, sich treiben lassen und sich nicht allzuviele Sorgen um die Zukunft machen. Ein Schwarm von winzigen Mücken riß sie aus ihrer Betrachtung. Abrupt stand sie auf. „Ich weiß, was ich kann!“, sagte sie sich. „Irgendein Weg wird sich sicher auftun.“ Ihre Gedanken wanderten zu Marie Dorothee, ihrer größten Hoffnung. Es war Festspielzeit in Salzburg. Sicher hatte sie bereits das Kurhotel in Bad Reichenhall bezogen und erfahren, daß man sie gekündigt hatte.
* * *
"Vergessen sie Rita Hainbauer!" Was nahm sich dieser Lümmel eigentlich heraus? Der mußte auf seinen Job keinen Groschen mehr wetten, dafür würde sie sorgen! Marie Dorothee bebte vor Wut.
Sie hatte Rita auf Kur in Bad Reichenhall kennengelernt, als sie aus Neugier die kleine Filiale betrat, die zusammen mit vielen anderen das Geld aufbrachte, das sie getrost mit vollen Händen ausgeben konnte. Die etwas untersetzte und mit äußeren Reizen wenig ausgestattete Gattin des Konzernchefs blieb in der Öffentlichkeit lieber im Hintergrund und genoß es, unerkannt den Angestellten ein bißchen auf die Finger zu schauen. Durch Zufall geriet sie sofort an Rita. Nach zwei unglaublich schnell vergangenen Stunden verließ sie das Geschäft mit vier Tüten voller Kleidern in der Hand, ohne zu wissen, wie ihr geschehen war, und außerdem mit einem ganzen Warenkorb voller Ratschläge: "Schauen Sie mal beim Juwelier nebenan, da liegt eine Kette in der Auslage, die würde unglaublich zu Ihrem Typ und zum neuen Kleid passen." Ja sogar: "Zu diesem Rock würde ich mir diese entzückende geblümte Bluse kaufen, die es drei Häuser weiter gerade im Abverkauf gibt." Sie traute ihren Ohren nicht. Diese Verkäuferin schickte sie ohne mit der Wimper zu zucken geradewegs zur Konkurrenz, ein höchst ungewöhnliches Verhalten. Es beschäftigte sie bis spät in die Nacht hinein und gleich am nächsten Tag ging sie wieder in die Filiale, stellte sich vor und lud Rita zu einem Gespräch bei Kaffee und Kuchen in einer gemütlichen Konditorei ein. Das war der Beginn einer jahrelangen Freundschaft, die sie allerdings fast ausschließlich während ihrer Kuraufenthalte in Bad Reichenhall pflegte.
Und jetzt hatte dieser Idiot von Neumeister der eben noch angebeteten Rita einfach gekündigt, nur weil sie es gewagt hatte, seinen Heiratsantrag zurückzuweisen. Marie Dorothee hatte natürlich längst von dieser Romanze gewußt. Es war ihr nie so ganz wohl dabei gewesen und sie hatte Rita gewarnt, aber vergeblich. Daß dieser Mann eine Frau zum Heiraten wollte, dafür hatte sie Verständnis, aber sie hatte absolut kein Verständnis dafür, daß er seine Macht mißbraucht und einer Frau den Job aufgekündigt hatte, nur um sich an ihr zu rächen.
Etwas mußte sie unternehmen, das war sie sowohl ihrer Freundin als auch ihren eigenen Interessen schuldig. Sie hatte diesem Hubert am Telefon ins Gewissen reden und ihn umstimmen wollen, aber der Versuch war fehlgeschlagen. Sicher hatte er nicht einmal realisiert, mit wem er da geredet hatte, sonst hätte er gewiß nicht gewagt, so zu reagieren.
Allmählich ließ ihre Wut nach. Was konnte sie tun? Ihren Mann wollte sie nicht einschalten. Sie hatte ihm nie von Rita Hainbauer erzählt, weil sie genau wußte, daß er ihre Freundschaft zu einer kleinen Filialleiterin mißbilligt hätte.
Kurz entschlossen griff sie nach einem Blatt Papier und schrieb in großen Lettern: "Sehr geehrter Herr Neumeister! Ich erwarte von ihnen, daß sie die Kündigung von Rita Hainbauer umgehend zurücknehmen. Andernfalls müssen Sie selbst mit Ihrer Entlassung rechnen. Hochachtungsvoll – Marie Dorothee Baumann, die Frau Ihres obersten Vorgesetzten."

* * *
Und weil das Ganze nicht mehr ist und auch nicht mehr sein soll, als eine liebenswürdige kleine Dreigroschen-Geschichte, zieht Hubert Neumeister resigniert seinen Schwanz ein, nimmt, unterstützt von einem großen Blumenstrauß, die Kündigung zurück und beschließt wehmütig, der Filiale in Bad Reichenhall sowie ihrer attraktiven Filialleiterin künftig so weit wie möglich fern zu bleiben. Rita Hainbauer kehrt glücklich an ihren gewohnten Arbeitsplatz zurück und kann sogar ihr vertrautes Appartement wieder beziehen, weil der Vermieter noch keinen ihm genehmen Nachmieter gefunden hat. Marie Dorothee Baumann fährt weiterhin jedes Jahr auf Kur nach Bad Reichenhall und bessert in freundschaftlicher Atmosphäre für ein paar Groschen ihre Gardarobe auf.

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 10.11 Uhr
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