Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
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In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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August 2003
Kreuzverhör
von Dagmar Cechak


„Name? Rita Hainbauer
Alter? 42
Familienstand? Ledig
Wohnort? Schneizlreuth“
Die Fragen des Kommissars, hallen wie Schüsse gegen eine Felswand, die Ritas Antworten als Echo zurückwirft.

„Arbeitsstelle?“

Zum ersten Mal lässt das Echo auf sich warten.
„Arbeitsstelle!“ Ungeduldig knallt der Kommissar die Frage an ihren Kopf.
Bis vor einem Monat, denkt Rita, wäre die Antwort leicht gewesen. Geschäftsführerin der Estelle Filiale in Bad Reichenhall.

Doch nun?

Arbeitslos.
Wie das klingt! Da würde er ihr ja gleich die Handschellen anlegen. Dann wäre doch alles glasklar für ihn.

Ja, denkt Rita, die Arbeit bin ich los. Mein bisheriges Leben auch. Was habe ich auch ausgerechnet mit Detlef flirten müssen.

Jetzt liegt er da, in einer Blutlache, die überhaupt nicht zu seinem eleganten Outfit passt. Sein Gesicht, denkt Rita, mein Gott, sein Gesicht. Ich habe nie bemerkt, wie schön er ist. Züge wie eine griechische Statue, so ebenmäßig und rein. Weiß, wie edelster Marmor, die Wangen wie gemeißelt. Rita muss sich beherrschen, zu gerne würde sie sich hinknien und ihre Finger und über dieses wunderbare Gesicht gleiten lassen. Aber dann müsste sie in diese grässliche Blutlache treten, die an den Rändern schon schwarz einzutrocknen beginnt. Blut, soviel Blut ist da. Detlefs Markenzeichen, sein weißer Schal, hat mit seinen Fransen die braunrote Farbe aufgesogen, sie wandert entlang der Stofffasern nach oben, bildet ein Muster an beiden Enden des Schals. Das roséfarbige Rohseidenhemd und die beige Hose wirken seltsam zweidimensional, in diesem Passepartout aus Blut. Der Körper, den sie umhüllen, scheint völlig unverletzt. Marmornweiß dieses überirdisch schöne Gesicht, und die Hände, deren Finger ausgestreckt sind, die Mittelfinger etwas tiefer als die anderen, wie bei einem Ballett-Tänzer. Ein Gemälde, denkt Rita, ein grausig schönes Gemälde arrangiert auf dem Dreschboden am Hof ihrer Eltern.

„Arbeitsstelle! Jetzt frage ich Sie schon zum dritten Mal“, donnert die Stimme des Kommissars.
„Derzeit keine“, sagt Rita. „Bin auf der Suche.“
„Kennen Sie den Toten?“
„Natürlich kennt sie ihn“ eine Stimme in einem unangenehmen Ton dringt an ihr Ohr. Rita dreht sich erstaunt um, der Kommissar sieht den Neuankömmling verärgert an.
Es ist Timo.

Er und Detlef waren für die Estelle-Filialen im deutschsprachigen Raum verantwortlich. Sie waren also so etwas wie ihre Vorgesetzten. Nur hatte Detlef sich nie so gebärdet. Timo hatte schon manchmal den Chef herausgekehrt. Sein Zuständigkeitsbereich waren die Umsatzzahlen. Die monatlichen Umsatzvorgaben und Rentabilitätsanalysen mit denen er seine Filialleiter „beglückte“ waren gefürchtet. Detlef war der kreative Teil, sein Bereich waren die Außenwirkung, die Dekorationen, die Werbung. Seine genialen Schaufensterkreationen trugen viel zum Erfolg bei. Immer wieder hatte Rita Kundinnen gehabt, die wegen der aufregenden Dekorationen das erste Mal in die Filiale gekommen waren. Zusammen waren Detlef und Timo ein großartiges Team gewesen, und Rita ihre beste Filialleiterin. Ihre Umsätze waren, gemessen an der Lokalgröße und dem Einzugsgebiet, die stärksten. Mehrfach hatten sie ihr angeboten, eines der großen Geschäfte in München oder Köln zu übernehmen.

Aber Rita hat ihre Prinzipien. Sie will nicht in der Großstadt leben, ebenso wenig, wie sie sich in einer festen Beziehung binden will. Sie lebt in zwei Zimmern am Hof ihrer Eltern. Als örtlicher Fixpunkt ist ihr das gerade recht. In ihrer Freizeit nützt sie ohnehin jede Möglichkeit um zu reisen, und als sie noch arbeitete, waren Zwölfstundentage die Norm. Hier muss sie sich um nichts kümmern, im Gegenzug sind ihre Eltern froh über den finanziellen Zuschuss, den sie mit ihrer Miete freiwillig leistet.

Doch in den letzten Wochen ist diese Welt plötzlich zusammengebrochen. Sie hat ihren Job verloren, Timo hat sie gekündigt.
Und nun liegt Detlef in seinem Blut in der Scheune.
Timo!
Moment mal, plötzlich wird Rita alles klar.

Wie durch einen Nebel hört sie den Kommissar seine Frage wiederholen, doch das ist jetzt ohne Bedeutung. Rita weiß nun, was passiert ist.

Es hatte wohl schon vor sechs Wochen begonnen. Detlef war mit den neuen Dekorationen für die Herbstkollektion gekommen. Rita hatte ihn beobachtet, wie er Herbstlaub und falsche Trauben befestigte. Sie hatte Lust auf ihn bekommen. Ja, warum nicht. Sie war Single, eine moderne Frau, warum sollte sie sich dafür schämen? Sie hatte gewusst, dass er nichts für Frauen übrig hatte. Aber genau das hatte sie gereizt. Drei Tage hatte er in Bad Reichenhall zu tun gehabt, sie waren jeden Abend ausgegangen. Rita war schnell klar geworden, dass Detlef sie nur als eine Art Freundin sah, der tiefe Ausschnitt und der knappe Rock am ersten Tag waren völlig ohne Wirkung geblieben. Aber noch nie zuvor hatte Rita mit jemandem so gute, so tiefgehende Gespräche führen können. Detlef war gebildet, sensibel, er hatte interessante Ansichten, man konnte mit ihm über alles reden. Nein, ganz stimmte das auch wieder nicht. Über Beziehungen, genauer über seine Beziehungen sprach er nicht. Nie hatte Rita herausbekommen, ob Detlef mit einem Partner lebte, geschweige denn, diesen kennen gelernt.
Am letzten Abend waren sie am Hauptplatz auf einer Bank gesessen. Detlef hatte sich hingelegt, sein Kopf lag in ihrem Schoß, ihre Hände hatten mit den Fransen seines Schals gespielt. Sie wusste es noch, die Diskussion ging über Eifersucht, als plötzlich ein dunkler Porsche bei ihnen vorbei donnerte. „Sieht aus, wie Timos Lieblingsspielzeug,“ hatte Detlef gesagt.

Am nächsten Morgen hatte sie bemerkt, dass die Buchhaltung der Filiale nicht stimmte. Eine unbelegte Überweisung war getätigt worden. Sie konnte nicht nachvollziehen, wer die Überweisung durchgeführt hatte. Weitere rätselhafte Kontoentnahmen folgten. Bei der Bank, hieß es jedes Mal, die Transaktion sei mit dem korrekten Passwort mittels e-banking erfolgt.

Bald darauf war Timo in der Türe gestanden und hatte Rita das Kündigungsschreiben der Firma präsentiert. „Aufgrund von finanziellen Malversationen“ stand darin. Und man würde wegen ihrer langen guten Arbeit von einer Strafverfolgung absehen.

Das war nun einen Monat her. Gestern hatte Detlef angerufen, er hatte nichts von ihrer Kündigung gewusst. Sie hatten ein Treffen vereinbart, er wollte sie zu Hause abholen. Rita hatte Hoffnung geschöpft, dass sich nun alles aufklären würde.

Doch nun liegt Detlef da, in diesem blutigen Gemälde.
Und Rita weiß plötzlich alles:
Dass Timo nicht gekommen ist, um sie zu rehabilitieren.
Dass er Detlef geliebt hat.

Warum nur stellt der Kommissar immer die gleiche Frage?

©Dagmar Cechak/August 2003

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 10.39 Uhr
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