| | Vincent von Monique Lhoir
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„Madame, möchten Sie etwas trinken?“
Marlies schreckte aus ihren Gedanken hoch.
„Oui, Monsieur, einen Pastis.“
Sie trank nie am Nachmittag, aber dies war ein ganz besonderer Nachmittag – sie war fast am Ziel – nur noch ein kleiner Schritt.
Den ganzen Tag über hatte sie im Auto gesessen, bei brütender Hitze, war von Nord-Deutschland in einem Stück bis nach Süd-Frankreich gereist. Ihre Haare klebten am Kopf, die Kleidung war schweißnass. Aber sie war da. Genau da, wo sie seit dreißig Jahren hinwollte. Sie war in Arles, in Süd-Frankreich.
Der Garçon brachte ihr den Ricard und einen Krug Wasser. Sie goss etwas zum Ricard und schaute zu, wie sich die Flüssigkeit milchig verfärbte. Dann nahm ich einen großen Schluck. Ein wohlig warmes Gefühl machte sich in ihrer Magen breit und hellte gleichzeitig ihre Stimmung auf.
Das war es, „das“ Lebensgefühl. Sie saß in einem Straßencafé mitten in Arles am Place du Forum. Ob er wohl damals auch so gefühlt hatte wie sie jetzt? Ob er vielleicht sogar hier gesessen hatte?
Sie schaute sich um. Es war nicht so, wie sie es in Erinnerung hatte, aber es war erst später Nachmittag und die Sonne stand noch am Himmel.
„Noch einen Pastis, Madame?“
„Non merci, Monsieur.“ Sie sah ihn bedauernd an. „Ich habe einen Termin und muss noch mit dem Auto fahren.“ Aus dem Café dröhnte „Milord …“ von der Piaf.
Sie bestieg ihren alten Fiat und fuhr in Richtung Saint-Remy, so hatte die Agentur es ihr angegeben. Die Straßenkarte, die sie besaß, war nicht mehr die neueste, jedenfalls verfuhr sie sich zweimal, bis sie endlich da war.
Ein schwarzer Peugeot stand vor dem kleinen, gelb gestrichenen Haus. Sie stellte ihren Fiat dahinter, stieg aus und ging den Kiesweg entlang, der zum Gebäude führte. Das Anwesen war mit einer alten Steinmauer umgeben, die teilweise abgebröckelte. Der Garten war vollkommen verwildert und wies die unterschiedlichsten Blumensorten in allen Farben auf.
‚Das ist es’, durchfuhr es sie freudig. ‚Genau das ist es, dieses „Gelb“, dieses „Blau“. Besser konnte es gar nicht sein. Sie lief beschwingt den Kiesweg entlang. Vor dem Haus stand ein Mann in einem zerknitterten grauen Anzug.
„Madame Schneider?“ Er sah sie fragend an. Sie nickte hektisch. Eine Locke ihres dunklen Haares fiel ihr in die Stirn
„Mein Name ist Meunier. Wir haben einen Termin?“ Er beugte sich leicht über ihre Hand und streifte sie fast mit den Lippen. Sie sah ihn irritiert an.
„Oui, Monsieur“, sagte sie knapp. Er ließ ihre Hand abrupt los.
„Aber es ist noch zu früh“, sagte sie sanfter, fast bedauernd. „Die Sonne ist noch nicht untergegangen.“ Er lächelte sie an. Hatte er bemerkt, dass sie rot geworden war?
„Sie wird heute bestimmt noch untergehen“, versicherte er amüsiert. „Wollen Sie nicht dennoch erst das Haus besichtigen?“
„Aber natürlich, das Haus.“ Sie stiegen die zwei alte Steinstufen hinauf und er öffnete die Tür.
„Es ist nicht sehr komfortabel und schon sehr alt, aber wenn man es saniert und an die Wasser- und Stromversorgung anschließen lässt, wird es bestimmt außergewöhnlich.“
Sie nickte wieder und betrat aufgeregt den Raum. Alter Holzfußboden und Steinwände, die nicht tapeziert waren.
„Die Möbel müssten entfernt werden“, erklärte Monsieur Meunier. „Dann kann man sicherlich daraus etwas machen.“
„Und die anderen Räume?“, fragte sie.
„Das Haus hat nur vier Räume“, erklärte er bedauernd. „Neben diesem Raum gibt es noch eine kleine Küche und zwei Schlafzimmer, leider noch kein Badezimmer, nur eine primitive Toilette.“
„Zeigen Sie mir die Schlafzimmer.“
Sie war aufgeregt. War es das, was sie suchte?
„Aber Madame, die Sonne ist immer noch nicht untergegangen.“ Monsieur Meunier öffnete eine Tür. Marlies reagierte nicht auf seine Bemerkung, sondern betrat den Raum. War sie am Ziel ihrer Träume?
Es war nur ein kleiner Raum. In der Ecke stand ein altes Holzbett, kahl und ohne Bettzeug. Daneben ein ebenso alter Nachttisch, worauf noch eine alte Wasserkanne und ein Waschbehälter standen. Sonst nur noch zwei alte Holzstühle. Ein kleines Fenster, mit Butzenscheiben, war leicht geöffnet und ließ die tiefstehende Nachmittagssonne herein und machte auf die Staubschicht aufmerksam. Verträumt blieb sie stehen.
„Es reicht höchsten für zwei Personen“, weckte sie Monsieur Meunier aus ihren Träumen.
„Und der andere Raum?“, fragte sie.
„Madame, der andere Raum ist etwas ganz Besonderes.“ Er ging ihr voraus. „Er hat eine Tür zum Garten. Der Raum ist hell und die Fenster gehen nach Süden. Leider ist der Garten nicht sonderlich gepflegt. Da müsste man noch ein viel Arbeit reinstecken.“
Der Raum war völlig leer. Monsieur Meunier öffnete die Flügeltüren. Sie trat hinaus. Die Sonne ging gerade unter.
„Herrliche Farben!“, rief sie überwältigt. „Dieses Gelb und dieses Blau der Blumen in der untergehenden Sonne. Genau das ist es. Dieses Farbenspiel beider Töne. Genau so habe ich es mir vorgestellt.“
„Sie mögen so etwas?“ Monsieur Meunier sah sie erstaunt an.
„Ja, der Garten ist perfekt“, erwiderte sie, ohne ihn weiter zu beachten.
„Madame. Wollen Sie dieses Haus allein bewohnen?“, fragte er.
Sie drehte sich zu ihm um: „Nein. Es ist für einen von Freund von mir. Einem langjährigen Freund. Ich möchte es ihm schenken. Und ich glaube, es ist genau das Richtige für ihn.“
Monsieur Meunier lächelte. „Sie wollen es also kaufen?“
„Ja“, erwiderte sie strahlend. „Ich kaufe es.“
„Ihr Freund kann sehr stolz auf Sie sein. Sie haben einen guten Geschmack. Auch ich liebe dieses Haus. Wie heißt Ihr Freund?“
„Vincent“, gab sie zurück und sah ihn spitzbübisch an. „Er ist ein Freund, der mich schon ein ganzes Leben lang begleitet hat. Er ist ein großer Künstler und dieses Haus wird ihm gefallen.“
Monsieur Meunier verließ mit Marlies das Haus und schloss ab.
„Fahren wir in den Ort zurück?“, fragte er. „Dort können wir auch alle Einzelheiten besprechen.“
„Gern. Ich habe dort sowieso ein Zimmer reserviert.“
Er stieg in seinen Peugeot, sie in ihren Fiat. Er fuhr vor und sie hinterher.
Am Place du Forum hielt er an. Sie stiegen aus.
„Madame, darf ich Sie zu einem Glas Rotwein einladen?“
Wieder war sie im „ Café van Gogh“, wie schon am Nachmittag. Sie saßen auf der Terrasse.
„War dies das ehemalige Café „Alcazar“?“, fragte sie Monsieur Meunier und beugte sich interessiert vor.
„Ich glaube, ja“, erwiderte er amüsiert.
Sie tranken Rotwein, aus der Musik-Box erklangen französische Song-Song nach draußen. Und auch die Sonne untergegangen. Helle Sterne waren am klaren Nachthimmel zu sehen.
„Jetzt habe ich endlich mein Ziel erreicht“, sagte sie erleichtert und nahm einen großen Schluck Rotwein. Die Papiere über den Hauskauf lagen vor ihr, sie mussten nur noch unterschrieben werden.
„Ja, das Haus ist wunderschön. Ihr Freund wird Ihnen bestimmt dankbar sein.“
„Mein Freund?“
„Ja, wollen Sie das Haus denn nicht für Ihren Freund Vincent kaufen?“ Nun war Monsieur Meunier an der Reihe, irritiert zu sein.
Marlies lachte befreit auf.
„Aber natürlich. Ich will es für Vincent kaufen. Für das Bild „Night-Cafe“ von van Gogh. Dafür möchte ich das Haus, damit es einen passenden Rahmen hat. Das war immer mein Traum.“
Monsieur Meunier verschluckte sich an seinem Rotwein, hatte sich aber wieder schnell im Griff.
„Malen Sie auch?“, fragte er atemlos.
„Ich? Nein. Ich träume und manchmal schreibe ich. Und Sie?“
„Ich verkaufe Häuser und male“, erwiderte er lachend. „Und? Kaufen Sie nun das Haus?“
„Ja“, sagte sie fest. „Ich kaufe.“
Er bestellte eine neue Flasche Rotwein und goss ein.
„Das ist ein Wort“, sagte er ernst. “Und Sie sind genau die richtige Frau für dieses Objekt.“
„Warum?“, fragte sie beschwipst „Weil ich schon Zeit meines Lebens van Gogh liebe oder weil ich verrückt bin?“
„Nein, weil Sie wissen, was Gefühle bedeuten. Und dieses Haus ist Gefühl und Farbe.“
Marlies unterschrieb schwungvoll. Sie nahmen ihre Gläser und prosteten sich zu.
„Monsieur Meunier, sagen Sie mir, wie heißt ein Mann mit Vornamen, der Häuser verkauft und malt?“, fragte Marlies.
„Mein Name ist Vincent“, war seine Antwort und er sah ihr tief in die Augen.
„Vincent...?“
Die Sonne war untergegangen, wie sie jeden Tag untergeht.
© Monique Lhoir
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Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 11.07 Uhr Dieser Text enthält 8421 Zeichen. Druckversion | | | | |