Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten- Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
„Der Worte sind genug gewechselt, lasst endlich Taten sehen!“, schloss die Abgeordnete ihren Vortrag und die Teilnehmer des Ausschusses stimmten ihr applaudierend zu.
„Unserer Generation gehört die Zukunft und dieser wollen wir unbeschwert entgegensehen!
Ohne Kosten verursachende Altlasten!“ Sie lächelte in die beifallzollende Expertenrunde.
Die nächtelange, geheime Ausarbeitung war beendet und deren Ergebnis einstimmig beschlossen worden. Im Namen des Volkes, unter Ausschluss des Volkes.
„Ich habe Euch die Statistik des letzten Halbjahres vorgelegt!“, die Abgeordnete hielt ein mehrseitiges Schriftstück in die Höhe, „und teile Ihnen erfreut mit, dass unsere Erwartungen positiv übertroffen wurden! Wie Ihr wisst, gab es bisher zu den monatlichen Altenaktionen auch noch keine Einwände seitens der Bevölkerung.“ Sie lächelte.
„Vielleicht wäre es organisatorisch durchführbar“, meinte ein Experte aus der Runde, „dass wir das Altenprojekt auch auf die Heiminsassen ausweiten könnten, welche draußen noch Angehörige haben!“ Auch er lächelte: „Ich meine, nur, wenn es wirklich aussichtslose Fälle sind.“
Das Raunen und Wispern im Raum wurde von seiner Vorrednerin unterbrochen: „Wäre überlegenswert! Jedoch ist das Risiko der Aufdeckung dann sehr hoch und würde die bestehenden Aktionen gefährden! Außerdem! Herr Kollege! Das ist doch absurd, könnte es doch jeden Einzelnen von uns auch treffen bei Krankheit und Siechtum“, erwiderte die Abgeordnete, „aber ein Anfang ist zunächst gemacht für die Leute ohne Familie. Meine Damen und Herren, nun aber die Details: Wie sie aus der Statistik ersehen können, hatte die ... einschließlich der ... eine Kostenersparnis über... Euro. Diese Positiva sind…“ Alle lächelten höchst zufrieden.
Elisabeth hatte lange im Essen herum gestochert, bis sie aß: „Das ist nicht vergiftet! Und schmeckt auch!“
„Was hast Du gesagt?!“ Hermine hatte ihre Tischnachbarin nicht verstehen können, denn der Plattenspieler war sehr laut eingestellt. Sie zupfte ihr Haar zurecht und schob ihren Gehwagen im Takt vor und zurück. Ein argentinischer Tango. Wie damals. Nur die Beleuchtung war greller und die alten Möbel mit den Schnitzereien hatte man durch moderne ersetzt. Der Mokka zum Dessert war heiß, stark und zuckersüß. Wie damals.
„Autsch! Pass doch auf! Hast mir wieder Deinen Wagen an das Schienbein gestoßen! Du weißt doch, dass die mir keine Knochen... „
„Operation bezahlen, ja ja, Elisabeth, ich weiß, das lohnt in Deinem Alter auch nicht mehr. Aber wenigstens mir hätten sie für diesen Abend ein Hörgerät zur Verfügung stellen können“, und nahm einen zweiten Schluck aus der feinen Porzellantasse. Hermine fühlte sich glücklich und selig an früher erinnert, wo die Mokkatassen zierlich und hauchdünn sein mussten. Die Ober stoben eifrig um die Tische herum und kredenzten einen Menügang nach dem anderen. Füllten leere Gläser auf. Wie damals.
„Und nun einen Walzer von Richard Strauß!“, tat ein Alter an den hinteren Tischen seinen Musikwunsch kund und wischte sich mit einem karierten Taschentuch den kalten Schweiß von der Stirn. Man war halt das opulente Mahl in dem hohen Alter nicht mehr gewöhnt. Zuvor noch die Busfahrt in die Stadt, wo der Magen bereits hin- und hergeschaukelt worden war. Ein Mitarbeiter schaltete das grelle Licht herunter und erste Gäste wurden hinaus gebracht `Wenn man im Alter nichts verträgt, dann sollte man auch nicht so viel trinken´, dachte Hermine und hielt ihr Glas Rotwein gen Deckenspot. Wie das funkelte und blitzte. Sie prostete ihrem Hubert , Gott habe ihn selig, zu. Eins-Zwei-Drei, Eins-Zwei-Drei, Eins... ach, hätte er doch auch noch mal einen Walzer mit ihr getanzt! Heute könne sie eh nicht mehr tanzen. Damals die Flucht im Winter, weit vor ihrer Zeit mit Hubert, die eisige Kälte mache sich erst im Alter bemerkbar, sei ihr halt in den Knochen hängen geblieben.
`Früher hingen hier schwere, dunkelrote Samtvorhänge´, erinnerte sich Hermine und fand, dass Elisabeth ein wenig blass um die Nase wirkte.
„Mir ist so schwindelig“, bemerkte Hermine leise und tastete zitternd nach ihrem Gehwagen.
„Erschütternd!“, würde die junge Mutter zu ihrem Mann sagen und ihr Baby im Arm wiegen, „was ich da im Zwischendeckel der Hutschachtel gefunden habe. Durch Zufall! Weil ich sie zerreißen und weg werfen wollte.“
Aber ihr Mann würde kein Ohr haben für derlei Gespräche, weil er in der Zeitung einen Artikel über den neuesten Polit-Skandal lesen würde: „Hm.“ Wäre zunächst alles, was er ihr geistesabwesend antworten würde.
„Da hat die alte Dame, Du erinnerst Dich? Der Hut. Sie hatte da ein Tagebüchlein versteckt! Stell Dir vor, in Ostpreußen hatte die als blutjunges Geschöpf auf der Flucht ein Kind geboren und es dort bei einer Familie gelassen, weil die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung zustande gekommen war! Sowas Schreckliches aber auch! Aus Scham hatte sie sich nicht einmal ihrer Mutter anvertraut! Kannst Du das verstehen?“
„So eine Schweinerei! Das ist Mord! Zigfacher Mord!“, würde der junge Vater schreien und die Zeitung wütend vom Tisch werfen, „so kann man doch keine gesunde Zukunft aufbauen! Und alles hinter dem Rücken der Wähler! Dass da keiner der Mitarbeiter stutzig geworden ist! Alle! Die mussten doch alle unter einer Decke gesteckt haben!“
Das Baby würde zu weinen beginnen.
„Du immer mit Deiner Politik“, würde die junge Frau sagen, „Einzelschicksale wie das der alten Dame, Du erinnerst Dich? Der Hut! Sowas interessiert Dich nicht!“ Sie würde das Kind beruhigen und denken: `In welches Heim die alte Dame wohl gekommen ist? Vielleicht vermisst sie das Tagebuch? Vielleicht würde die Alte gerne wissen wollen, wie es ihrem damaligem Kind ergangen ist? Das herauszufinden, dabei könnte ich ihr doch behilflich sein. Schließlich bin ich selbst Mutter.´
Anne Zeisig, September 03
Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 08.51 Uhr Dieser Text enthält 18600 Zeichen.