Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
»Was hast du?«, rief Julie erschrocken. »Du bist plötzlich so bleich!«
Marc saß regungslos vor ihr. Um sie herum wurde es still.
»Marc? Sag doch was, Marc!«
Doch Marc hörte nicht auf Julie. Seine Freundin war in einer anderen Welt. Marc hörte einzig die tiefe Stimme, die ihm ins Ohr hauchte. Schreib es! Schreib es auf, sofort!
Vor ihm fiel der Putz von der Wand. Hässlich grüne Kacheln kamen zum Vorschein. Dann barsten auch diese und darunter kam das nackte Mauerwerk zum Vorschein. Schließlich rollte sich in Zeitraffer eine Tapetenbahn von unten nach oben darüber – ein herrliches Muster. Dichter wissen immer was sie zu schreiben haben, wie Maler immer wissen, was zu malen ist.
Etwas rüttelte ihn.
»Marc?«, rief Julie. »Marc!«
»Papier«, antwortete Marc ohne sie anzusehen.
»Ist etwas nicht in Ordnung Fräulein?« Die Bedienung sah verärgert aus.
»Nein, nein, es ist nur ...«
»Papier! Ich hätte gern etwas zu Schreiben, ich bin Schriftsteller«, unterbrach Marc seine Freundin mit fester Stimme.
»Natürlich«, antwortete die Bedienung schnippisch und machte kehrt.
»Was soll das Theater, Marc, ist es ...«
»Still!«
Julie verstummte. Noch nie hatte Marc ihr den Mund verboten. Ungläubig sah sie ihren Freund an. Sie wollte erst fragen, was los sei, doch dann sprang sie auf und ging. Erschrocken sah Marc ihr hinterher. Bleib! Warte auf dein Papier und schreib, Dichter!
Plötzlich wachte er wie aus einem Traum auf und sein Verstand setzte wieder ein. Marc sah sich misstrauisch im Alcazar um. Hatte niemand diese Stimme gehört? War er verrückt? Er sah mit prüfendem Blick auf die Wand ihm gegenüber. Er hatte keine Zweifel, da waren ganz sicher grüne, schäbige Kacheln darunter. Schreib! Du bist Dichter! Du musst fühlen, nur fühlen!
Marc fühlte sich großartig, als er endlich den Stift in der Hand hatte und einen kleinen Block damit bearbeitete.
Nach einer Weile setzte das Spiel aus und es blieb einen Moment ruhig. Linda betrachtete den Jungen am Flügel. Sie hatte solche Angst gehabt, dass er etwas zerstören würde, dabei war sein Spiel, wenn nicht fehlerfrei, so doch eine wunderbare Abwechslung. Und dass Jan diesen jungen Spieler nun auf Leinwand bannen wollte, war befremdlich und doch passend zugleich. Hatte Jan jemals ein Bild gemalt, auf dem ein Mensch zu sehen war? Nein, sie kannte all seine Bilder, auch wenn sie ihn selbst nicht so recht mochte. Du bist allein. Wohin willst du gehen, damit du nicht mehr allein bist?
Ein Stich in ihrem Kopf ließ ihre Hand zur Stirn fahren. Dort hinten an der Fensterseite saß dieses Paar. Die ganze Zeit befummelte die Frau den Mann unterm Tisch. Linda lächelte. Sie bewunderte diese Liebe. Du möchtest auch lieben.
Neben ihr, gleich am Ausgang saß dieser verrückte Mann, der nun schon seit über einer Stunde ununterbrochen die Blätter des Blockes beschrieb, den sie ihm gegeben hatte. Was hatte dieser Mensch so wichtiges zu Papier zu bringen? Gab es in ihrem eigenen Leben etwas, das so wichtig sein könnte? Doch keiner liebt dich zurück.
Schmerz in ihrer Brust ließ sie die Luft scharf einsaugen. Der Schriftsteller sah sie kurz an. »Ist alles in Ordnung mit ihnen?« Doch als hätte eine Stimme es ihm befohlen, senkte er seinen Kopf wieder über seine Schrift und ließ Linda außen vor. So musste sich Jan fühlen, wenn sie mit ihm sprach, ihn im Grunde aber nicht beachtete.
»Ich bin der, der aus der Nacht kommt. Ich bin der, den du nicht siehst. Ich bin der, der neben dir steht, der mit dir geht, und dich am Ende übernimmt«, murmelte Marc vor sich hin. Das war grandios! Eilig schrieb er es nieder. Und der unsichtbare Geist wird schließlich Fleisch werden.
Marc nickte eifrig. Ja! Genau das, das ist es. Noch einmal sah er kurz auf, um die Bedienung anzusehen. Wie schön traurig ihre Augen waren. Solche Augen sollte die Frau seines Protagonisten auch haben. Traurig, weil der Geliebte tot war, und zerstört, als er später wiedergeboren zurückkehrte. Eine Tragödie! Fleisch durch die unbewusste Handlung der Kunst und des Erschöpfens.
»Und was aus der Nacht kommt, tritt hervor und zwingt das Licht hinab in den Grund. Denn was die Nacht letztlich frei gibt, will über das Licht herrschen bis zum Tod«, hauchte Marc, während der Stift über das Papier fuhr.
»Ich will nicht, dass du traurig bist, meine Süße, wir schaffen das schon mit dem Kind.« Karl sah seiner Clara in die glasigen Augen und fand dort die Liebe, die er schon so lange in ihnen vermisst hatte.
»Es wird klappen, ich weiß es«, seufzte Clara. »Mit Liebe wird alles werden.« Ihr schlanker Fuß war noch immer munter zwischen Karls feisten Beinen eingespannt. Das Tischtuch ist lang genug. Gib ihr einen Beweis.
Verführerisch lächelte Karl seine Frau an, während er langsam seine Hose öffnete. Lehne dich vor und öffne deine Bluse. Lass ihn sehen, was ihm gehören soll.
Clara kicherte leise, als sie den kleinen Knopf durch das Loch gleiten ließ und sich vorbeugte. Sie spürte das zarte und doch starke Objekt der Begierde an ihren Zehen.
»Wie wäre es, wenn Du meinen Fuß aus der Strumpfhose befreist?« Ihre Zunge strich kurz über ihre Oberlippe.
Karl zögerte nicht und zerstörte das Nylon mit einem kräftigen Ruck.
Jan setzte die Farbe eilig auf die bereits grundierte Fläche. Das Mischen schien ihm eine Ewigkeit zu dauern. Viel zu klar sah er das fertige Gemälde vor sich, die sanften Abstufungen des Raumes, die verschiedenen Gelbverläufe der typischen Beleuchtung des Alcazar. Denk an die Impastos. Nicht die Straßenkleidung. Male ihn im Frack, ganz altmodisch.
Hastig drückte er einen verschwenderischen Klecks Schwarz aus der Tube. Er konnte jetzt nicht an Sparsamkeit denken. Ohne zu zögern setzte er die Akzente für den Flügel an. Den Spieler hatte er bereits angedeutet, blau für die Jeans, helles Braun für das schmutzige Hemd. Das würde er korrigieren. Schnelle Pinselstriche hinterließen ihren Duktus. Denk daran das Schwarz nur als Hilfe zu nutzen. Schau genau hin. Das ist kein Schwarz, das darf kein Schwarz sein.
Fahrig quetschte Jan das Ultramarin leer, setzte ein Braun daneben, musste dafür sorgen, dass der Flügel nicht aus dem Bild fiel, sondern vom Gelb als Hintergrund aufgefangen wurde.
Sven fühlte sich benommen. Er hatte fast vier Jahre nicht mehr gespielt und nun fielen ihm nach und nach die Noten sämtlicher Lieder wieder ein. Gerade hatte er sogar ein Lied gespielt, dass er noch nie in Notenform vor sich gesehen hatte. Etwas Getragenes. Es war erstaunlich, wie seine Finger zu den Tasten fanden. Du solltest bei den ruhigen Stücken bleiben. Bei den schnellen Sachen verlierst du zu oft die Tasten.
»Jo, da haste recht man«, nuschelte Sven vor sich hin. »Ein wenig was Tragisches fürn Schluss.«
Flink liefen seine Finger über die weißen Tasten nach oben und setzten zum großen Schlusslauf an, der sich auf jeder Oktave wieder in den schwarzen Halbtönen verschnörkelte, bis schließlich der Moll-Akkord alles auflöste und seine Befriedigung frei gab. Spiel das Lied vom traurigen Sonntag.
»Jo, wird gemacht.«
Noch ehe Linda die ersten Töne des Liedes hörte, wusste sie, dass der Junge ihren Song spielen würde. Es war vorherbestimmt. Tränen stiegen in ihr auf und wollten geweint werden. Dann sang sie mit erstickter Stimme mit:
»Sunday is gloomy*
My hours are slumberless
Dearest the shadows
I live with are numberless ...« Du hast recht, so recht. Das ist dein Lied, lass es dir nicht nehmen.
Niemand sah sie an, niemand achtete auf sie. Und während Linda weiter mit ihrer zitternden Stimme den Text kaum hörbar dem Spieler beisteuerte, versteinerte sie. Eisern hielt sie sich hinter ihrem Tresen. Führte zwischendurch ein Glas mit Sekt, das ein Gast nicht ausgetrunken hatte, zu den Lippen und genoss das beißende Kribbeln. Tränen liefen ihr unbeachtet die Wangen hinunter. Sie sehen dich nicht. Du bist allein. Allein.
Linda fühlte das Glas in ihrer Hand. Wie hart und glatt es war, und doch so zerbrechlich. Ihre Finger schlossen sich immer fester.
»With shadows I spend it all
My heart and I have decided
To end it all ...«
Das Glas brach, kaum hörbar. Der plötzliche Schmerz war eine Befreiung. Und auch das ist ihnen egal. Wohin willst du gehen, wenn dich keiner mehr liebt?
Linda spürte kaum, wie sie eine Scherbe durch die dünne Haut ihres Handgelenkes drückte. Sie merkte nur, wie langsam, ganz langsam ihre Trauer davon schwebte.
Als sie dann das ganze herrliche Rot sah, das nicht auf Jans Leinwand, sondern auf ihrer Schürze kontrastierte, sank sie wie eine Feder zu Boden.
»Let them know
That I’m glad to go ...« Gute Nacht Mädchen.
am Boden liegend wisperte sie: »Death is no dream.«
Marc sah das Bedienungsmädchen hinter dem Tresen liegen. Er wollte aufspringen. Bleib! Du musst schreiben! Lebensmüde sterben und Schriftsteller schreiben!
Also blieb Marc und schrieb. Wie ein Wahnsinniger schrie er seinen Zwiespalt hinaus, während seine Hand trotzdem das Papier mit Worten füllte. Er wollte helfen, aber er musste schreiben. Schreiben!
»Der junge Mann dort, was ist mit dem?«, fragte Clara besorgt.
»Keine Ahnung, ein Irrer vielleicht. Weshalb sollte er sonst so wahnsinnig schreien?«, antwortete Karl, während er seiner Frau die Brüste knetete. Du musst sie kräftiger stoßen. Es soll ein Junge werden. Also kräftiger!
Clara seufzte und räkelte sich auf dem Tisch, während Karl heftiger in sie hinein rammte. So ganz konnte sie ihre Gedanken nicht von dem Verrückten am Eingang lassen. Genieße es, du wirst ein Kind bekommen. Heute Nacht wird es klappen, hier und jetzt!
Dann sah sie das schwitzende Gesicht ihres Mannes und hob das Becken leicht an, damit auch nichts verloren gehen konnte, wenn es denn soweit war.
Jan war in seiner Farbe vertieft. Seine Inspiration hatte recht gehabt. Kein Schwarz. Schwarz wäre tödlich gewesen. Aber mit dem Kopf des Spielers war er noch nicht zufrieden. Das sah alles noch ganz diffus aus. Du musst besser hinschauen. Alles ist dir im Vorbild gegeben.
Als Jan endlich seinen Kopf hinter der Leinwand hervorstreckte, sah er den Jungen mit dem Rücken am Flügel hängen.
»Ha! Was soll das?«, schrie er entsetzt. »Bist du wahnsinnig? Du ruinierst mein Bild!« Wütend zerrte er an seinem Spieler rum. »Setz dich gefälligst anständig hin und spiele weiter!«
»Lass mich, Alter, ich spiel hier nix mehr.«
Jan zog ein altes Rasiermesser aus seiner Hosentasche. Hastig klappte er es auf. Lass das. Das hat mir schon bei Gauguin** nichts gebracht.
Da raste es in Jans Kopf. Plötzlich war die Umwelt ausgeschaltet. Das war einer seiner Anfälle. Und er hatte es nicht gemerkt, hatte sich nicht darauf konzentrieren können ihn abzuwehren.
* Gloomy Sunday wurde 1933 von Rezso Seress komponiert, der damit ein weltberühmtes Trauerlied schuf, das immer wieder Menschen in den Suizid trieb. Der Komponist selbst nahm sich 1968 das Leben.
** Laut Gauguin geht Van Gogh am 23.12.1888 mit einem Rasiermesser auf diesen los. Danach schneidet sich der Künstler selbst den unteren Teil seines linken Ohres ab.
Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 16.56 Uhr Dieser Text enthält 22060 Zeichen.