Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten- Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
(“Entartete Kunst ist wie Unwetter – beides entbehrt jeglicher Existenz im Sinne der Begrifflichkeit.“)
Diese Frau ist nicht ganz dicht, aber ungefährlich, schien mir die Gestik des Obers, mit vor der Stirn kreisendem Zeigefinger und gleichgültigem Achselzucken, anzudeuten.
Sie mochte um die achtzig oder älter gewesen sein, ihr grauer Filzmantel nur knapp jünger, und auf ihrem Bistrotisch stand ein erkalteter Cappuccino und ein Glas Mineralwasser. Sie war mir schon drei Tagen zuvor aufgefallen, als ich zum ersten Mal das Straßencafe am Ufer der Seine betreten hatte. Sie kam aus der abendlichen Gasse, setzte sich auf ihren Stammplatz und bestellte die beiden Getränke ohne sie anzurühren – kurz vor der Schließung des Lokals bezahlte sie und verschwand wieder in der Dunkelheit. Ich konnte mir dieses Verhalten nicht erklären, womit mein Interesse geweckt war.
In dieser Nacht folgte ich ihr – meine Verabredung war wieder einmal nicht erschienen. Die Gaslampen warfen bizarre Schatten an backsteinerne Wände, deren Mörtel einen aussichtlosen Kampf gegen Alter und Witterung führte. Ich blieb einige Meter auf leisen Sohlen hinter ihr. Die alte Frau ging gebückt, ihre Schritte hallten im Zusammenspiel ihres ungummierten Krückstocks triolisch von den Mauern wider. Ich kannte mich in dieser Stadt nicht aus und verlor schon nach kurzer Zeit die Orientierung.
Hinter mir gesellten sich weitere Schritte. Es war das Stampfen festen Schuhwerks – genietete Stiefel auf Kopfsteinpflaster. Sie marschierten im Gleichschritt. Die Alte begann zu laufen. Ich hatte Mühe mitzuhalten, stolperte, rutsche aus und fiel rücklings auf den Boden. Mein Knöchel schmerzte und ich verfluchte meine Neugier. In einem Hauseingang klopfte ich den Schmutz von meiner Kleidung, während eine Gruppe Uniformierter singend an mir vorbeimarschierte.
Der Letzte in der Reihe bemerkte mich, ging auf mich zu, hob den rechten Arm zum Gruß und verlangte in gebrochenem Französisch meine Ausweispapiere. Ich kramte in meinem Portmonee und zog meinen portugiesischen Pass hervor. Als ich jedoch wieder aufsah, war mein Gegenüber verschwunden. Ich drehte mich um und blickte in ein tiefschwarzes Treppenhaus – es kam mir vor, als hätte die Streife nicht mich, sondern eine andere, nichtexistente Person angesprochen. Wind pfiff durch das entkernte Gebäude und im Rauschen modulierten Stimmen – ein ängstliches Flüstern, das zu einem Wimmern und Klagen wie aus hundert Kehlen anschwoll. Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich bedeckte meine Ohren. Humpelnd und verwirrt lief ich, so schnell es mir mein schmerzender Knöchel erlaubte, den angenommenen Weg zurück und fand mein Hotel nach gut einer Stunde wieder.
Schweißnass ließ ich mich aufs Bett fallen und starrte an die Zimmerdecke. Ich hatte in meiner Karriere schon viele düstere Bilder kopiert, die den Wahnvorstellungen alter Meister entsprungen schienen – aber niemals zuvor hatte ich diese gotische Dunkelheit, den Schmerz und die Verzweiflung so leibhaftig gefühlt, wie in den alten Gassen dieser Stadt.
Als die Sonne ihre letzten Strahlen über die Stadt warf, befand ich mich wieder an meinem angestammten Bistrotisch, und nach kurzer Zeit tauchte auch die alte Frau wieder auf und bestellte Cappuccino und Mineralwasser. Sie schien nervös zu sein, schaute mit gesenktem Haupt mal hier mal dorthin und ihre Hände umkrampften eine Handtasche.
Meine Neugier war erneut entfacht. Ich stand auf, ging an ihren Tisch und stellte mich unter meinem portugiesischen Namen vor. Ihre Augen leuchteten und sie bot mir lächelnd einen Stuhl an.
„Ich habe Sie schon erwartet, junger Mann“, flüsterte sie in einem Französisch mit hartem deutschem Akzent, „warum kommen Sie erst jetzt?“
„Ich wurde aufgehalten, Madam“, erwiderte ich spontan.
Sie griff in ihre Handtasche und zog ein Bündel alter, entwerteter Reichsmark heraus. Es musste einmal ein Vermögen wert gewesen sein.
„Das ist alles, was ich habe. Bitte helfen Sie uns.“
Dann schob sie mir einen Umschlag über den Tisch und blickte sich ängstlich um.
„Das muss bis morgen Abend erledigt sein, mein Herr.“
Sie schluckte ihren Cappuccino hastig herunter, beglich die Rechnung, gab mir einen Kuss auf die Wange und verschwand in der Dunkelheit wie zuvor. Klak-klak-klak, triolisch.
Ich nahm das Mineralwasserglas, beobachtete die aufsteigenden Gasperlen, setzte an und leerte es in einem Zug. Es war eine sternenklare Nacht; und die Sterne erschienen mir viel größer und leuchtender als je zuvor. Auch an diesem Abend war meine Verabredung nicht erschienen, und mittlerweile wurde auch ich nervös.
Am Tisch meines Pensionszimmers überprüfte ich die alten Geldscheine. Sie waren echt – echter als meine Bilder – und dennoch ohne reellen Wert. Der Umschlag war vergilbt und abgegriffen. Kleine, rostige Nietenkreise schimmerten durch das Papier. Ich öffnete ihn vorsichtig mit einem Skalpell, das ich immer in einem Lederetui bei mir trug.
Drei Dokumente befanden sich im Kuvert: Zwei Erwachsenen- und ein Kinderausweis. Sie waren über sechzig Jahre alt und längst ungültig. Der Mann auf dem Passbild trug einen feinen Anzug mit Binder, die Frau einen rüschenbestickten Kragen und das Kind einen Matrosenanzug. Sie schienen glücklich und ich fragte mich nach dem Sinn des Ganzen ...
... bis ich den leicht verblichenen Stempel erkannte, der über den Namen und Passbildern prangerte.
In meinem Reisegepäck befanden sich alle Utensilien, die einen professionellen Fälscher ausmachen – Säure, Farbstoffe und Lacke, Skalpelle, Dokumententinten, Spezialpapiere, Nieten- und Perforationszangen, UV-Lampen, Lupen und Stempelmasse. Es war nicht besonders schwer, die Stempel zu entfernen und anstelle derer einen weiteren aufzusetzen, der dem Alter und Gebrauch dieser Ausweise entsprach. Weder Barcodes, Metallstreifen noch Hologramme befanden sich auf den Papieren, die jeder Lehrling meines Fachs zu fälschen im Stande war. Es machte mir sogar Spaß, ausnahmsweise ohne Bezahlung zu arbeiten, da ich mich diesmal auf dem Boden der Legalität befand. Es war nicht wirklich verboten, an abgelaufenen Ausweisen von Personen zu arbeiten, deren Ausstellungsbehörden seit langem nicht mehr existierten. Zudem lenkte mich die Tätigkeit von meiner eigenen Anspannung ab.
Mein Skalpell durchschnitt pfeifend die staubgeschwängerte Luft des Hausflurs – ohne auf einen physischen Widerstand zu treffen. Ich schlug regelrecht durch ihn hindurch.
Er wandte sich, als sei nichts geschehen, wieder der Familie zu:
„Ihre Papiere scheinen in Ordnung zu sein. Machen Sie, dass sie hier wegkommen. Dieses Viertel ist ab heute Sperrbezirk und untersteht dem Reichsamt für innere Sicherheit.“
Der Kapo stiefelte zackig davon, seine Schritte verhallten zwischen Gaslicht und Backstein. Von fern ertönte ein Requiem aus Schreien, Knüppelschlägen und Trillerpfeifen, wurde leiser und erstarb. Das Gemälde des jüngsten Gerichts tauchte vor meinem geistigen Auge auf- es war weder alt noch rissig und wies auch keine Spuren der Restauration auf.
„Tauschen Sie das Geld in Schmuck und Gold. Die Scheine könnten vielleicht schon morgen nichts mehr wert sein“, sagte ich und war überrascht von meinem wiedererwachten Pragmatismus ... aber die Familie war bereits verschwunden. Putz bröckelte von den Wänden und zerstob auf den Treppenabsätzen. Tock, tock, tock – triolisch.
Häuser und Gassen lagen in ihren letzten Zügen, das Gebälk knirschte jammernd und flehend – hoffend auf eine Erneuerung, eine Reinkarnation der verlorenen, vernichteten Substanz – bittend, jedoch ohne Glauben ... in der Einsicht der Erkenntnis bekümmert – weit entfernt auf den Schalen brustgarnierender Hummern, durch ein von der Brüstung gestoßenes steinernes Ei, unwiederbringlich zerplatzt.
Ich war allein mit meinen Gedanken, rutschte an der Wand zu Boden, starrte auf die drei gelben Stofffetzen, die von einer Windbö hinfort getragen wurden, atmete flach-rhythmisch, um meine Angst zu kontrollieren und begann an meinem Verstand zu zweifeln. Wäre solch ein Erleben Grund genug gewesen, sich ein Ohr abzuschneiden, um mit dem realen Schmerz gegen den Wahnsinn anzukämpfen, dachte ich noch, bevor das Dunkel der Nacht mich tröstend-liebevoll in ihrer Geräuschlosigkeit umarmte.
Mein Steckbrief vergilbte mit der Zeit und mein letztes Verbrechen verjährte. Brasilien war gewiss nicht für jeden ein Paradies – doch zumindest für jene, die kein anderes mehr besaßen.
Wenn sich eine alte Dame an einen Tisch meines Bistros setzt, dann geselle ich mich zu ihr, höre mir ihre Geschichte an und bestelle uns Cappuccino und Mineral auf Kosten des Hauses , ohne mit dem Zeigefinger vor der äußeren oder inneren Stirn zu kreisen.
Man weiß nie, welche Schicksale mit dem Interesse für den Mitmenschen verbunden sind.
Und am frühen Morgen, wenn sich die Tische lichten, drücke ich auf metallene Tuben, mische, male, male und male ... mich der letzten Antwort und unsterblichen Freiheit einer bezwungenen, kontrollierbaren Zeit des Irrealen entgegen. Einer Epoche, in der das Chaos die Linearität des dogmatischen Gleichschritts endgültig ersetzt und seine neuen mutigen Meister liebevoll umarmt.