Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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September 2003
Cappuccino und Mineral
von R. Funke


(“Entartete Kunst ist wie Unwetter – beides entbehrt jeglicher Existenz im Sinne der Begrifflichkeit.“)

Diese Frau ist nicht ganz dicht, aber ungefährlich
, schien mir die Gestik des Obers, mit vor der Stirn kreisendem Zeigefinger und gleichgültigem Achselzucken, anzudeuten.
Sie mochte um die achtzig oder älter gewesen sein, ihr grauer Filzmantel nur knapp jünger, und auf ihrem Bistrotisch stand ein erkalteter Cappuccino und ein Glas Mineralwasser. Sie war mir schon drei Tagen zuvor aufgefallen, als ich zum ersten Mal das Straßencafe am Ufer der Seine betreten hatte. Sie kam aus der abendlichen Gasse, setzte sich auf ihren Stammplatz und bestellte die beiden Getränke ohne sie anzurühren – kurz vor der Schließung des Lokals bezahlte sie und verschwand wieder in der Dunkelheit. Ich konnte mir dieses Verhalten nicht erklären, womit mein Interesse geweckt war.

In dieser Nacht folgte ich ihr – meine Verabredung war wieder einmal nicht erschienen. Die Gaslampen warfen bizarre Schatten an backsteinerne Wände, deren Mörtel einen aussichtlosen Kampf gegen Alter und Witterung führte. Ich blieb einige Meter auf leisen Sohlen hinter ihr. Die alte Frau ging gebückt, ihre Schritte hallten im Zusammenspiel ihres ungummierten Krückstocks triolisch von den Mauern wider. Ich kannte mich in dieser Stadt nicht aus und verlor schon nach kurzer Zeit die Orientierung.
Hinter mir gesellten sich weitere Schritte. Es war das Stampfen festen Schuhwerks – genietete Stiefel auf Kopfsteinpflaster. Sie marschierten im Gleichschritt. Die Alte begann zu laufen. Ich hatte Mühe mitzuhalten, stolperte, rutsche aus und fiel rücklings auf den Boden. Mein Knöchel schmerzte und ich verfluchte meine Neugier. In einem Hauseingang klopfte ich den Schmutz von meiner Kleidung, während eine Gruppe Uniformierter singend an mir vorbeimarschierte.
Der Letzte in der Reihe bemerkte mich, ging auf mich zu, hob den rechten Arm zum Gruß und verlangte in gebrochenem Französisch meine Ausweispapiere. Ich kramte in meinem Portmonee und zog meinen portugiesischen Pass hervor. Als ich jedoch wieder aufsah, war mein Gegenüber verschwunden. Ich drehte mich um und blickte in ein tiefschwarzes Treppenhaus – es kam mir vor, als hätte die Streife nicht mich, sondern eine andere, nichtexistente Person angesprochen. Wind pfiff durch das entkernte Gebäude und im Rauschen modulierten Stimmen – ein ängstliches Flüstern, das zu einem Wimmern und Klagen wie aus hundert Kehlen anschwoll. Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich bedeckte meine Ohren. Humpelnd und verwirrt lief ich, so schnell es mir mein schmerzender Knöchel erlaubte, den angenommenen Weg zurück und fand mein Hotel nach gut einer Stunde wieder.
Schweißnass ließ ich mich aufs Bett fallen und starrte an die Zimmerdecke. Ich hatte in meiner Karriere schon viele düstere Bilder kopiert, die den Wahnvorstellungen alter Meister entsprungen schienen – aber niemals zuvor hatte ich diese gotische Dunkelheit, den Schmerz und die Verzweiflung so leibhaftig gefühlt, wie in den alten Gassen dieser Stadt.

Am nächsten Morgen erreichte mich eine E-Mail meines Geschäftspartners. Er entschuldigte sich für seine Verspätung und bat mich, noch einige Tage zu verweilen. Zwischen den Zeilen las ich die Warnung, dass Europol meine Fährte bereits aufgenommen hatte, um den größten Bilderfälscher des jungen Jahrtausends, wie mich das Volksblatt nannte, dingfest zu machen. Noch kannten sie meine derzeitige Identität nicht, aber ihre Schlinge zog sich enger. Mit dieser Erkenntnis wechselte ich das Hotel und mietete mich in eine unauffällige Pension nahe des Straßencafés ein. Es gehörte zum Spleen meines Auftragebers, mich an Orten treffen zu wollen, die jenen meiner Ware ähnelten. In diesem Falle war es Van Goghs Nachtcafé.

Als die Sonne ihre letzten Strahlen über die Stadt warf, befand ich mich wieder an meinem angestammten Bistrotisch, und nach kurzer Zeit tauchte auch die alte Frau wieder auf und bestellte Cappuccino und Mineralwasser. Sie schien nervös zu sein, schaute mit gesenktem Haupt mal hier mal dorthin und ihre Hände umkrampften eine Handtasche.
Meine Neugier war erneut entfacht. Ich stand auf, ging an ihren Tisch und stellte mich unter meinem portugiesischen Namen vor. Ihre Augen leuchteten und sie bot mir lächelnd einen Stuhl an.
„Ich habe Sie schon erwartet, junger Mann“, flüsterte sie in einem Französisch mit hartem deutschem Akzent, „warum kommen Sie erst jetzt?“
„Ich wurde aufgehalten, Madam“, erwiderte ich spontan.
Sie griff in ihre Handtasche und zog ein Bündel alter, entwerteter Reichsmark heraus. Es musste einmal ein Vermögen wert gewesen sein.
„Das ist alles, was ich habe. Bitte helfen Sie uns.“
Dann schob sie mir einen Umschlag über den Tisch und blickte sich ängstlich um.
„Das muss bis morgen Abend erledigt sein, mein Herr.“
Sie schluckte ihren Cappuccino hastig herunter, beglich die Rechnung, gab mir einen Kuss auf die Wange und verschwand in der Dunkelheit wie zuvor. Klak-klak-klak, triolisch.
Ich nahm das Mineralwasserglas, beobachtete die aufsteigenden Gasperlen, setzte an und leerte es in einem Zug. Es war eine sternenklare Nacht; und die Sterne erschienen mir viel größer und leuchtender als je zuvor. Auch an diesem Abend war meine Verabredung nicht erschienen, und mittlerweile wurde auch ich nervös.

Am Tisch meines Pensionszimmers überprüfte ich die alten Geldscheine. Sie waren echt – echter als meine Bilder – und dennoch ohne reellen Wert. Der Umschlag war vergilbt und abgegriffen. Kleine, rostige Nietenkreise schimmerten durch das Papier. Ich öffnete ihn vorsichtig mit einem Skalpell, das ich immer in einem Lederetui bei mir trug.
Drei Dokumente befanden sich im Kuvert: Zwei Erwachsenen- und ein Kinderausweis. Sie waren über sechzig Jahre alt und längst ungültig. Der Mann auf dem Passbild trug einen feinen Anzug mit Binder, die Frau einen rüschenbestickten Kragen und das Kind einen Matrosenanzug. Sie schienen glücklich und ich fragte mich nach dem Sinn des Ganzen ...
... bis ich den leicht verblichenen Stempel erkannte, der über den Namen und Passbildern prangerte.
In meinem Reisegepäck befanden sich alle Utensilien, die einen professionellen Fälscher ausmachen – Säure, Farbstoffe und Lacke, Skalpelle, Dokumententinten, Spezialpapiere, Nieten- und Perforationszangen, UV-Lampen, Lupen und Stempelmasse. Es war nicht besonders schwer, die Stempel zu entfernen und anstelle derer einen weiteren aufzusetzen, der dem Alter und Gebrauch dieser Ausweise entsprach. Weder Barcodes, Metallstreifen noch Hologramme befanden sich auf den Papieren, die jeder Lehrling meines Fachs zu fälschen im Stande war. Es machte mir sogar Spaß, ausnahmsweise ohne Bezahlung zu arbeiten, da ich mich diesmal auf dem Boden der Legalität befand. Es war nicht wirklich verboten, an abgelaufenen Ausweisen von Personen zu arbeiten, deren Ausstellungsbehörden seit langem nicht mehr existierten. Zudem lenkte mich die Tätigkeit von meiner eigenen Anspannung ab.

Gegen zwölf besuchte mich überraschenderweise mein Geschäftspartner. Er gab an, am Zoll durch Deklarationsbürokraten aufgehalten worden zu sein – was nichts anderes bedeutete, als dass seine Frachtbriefe nicht unbedingt dem Inhalt der Verpackungen entsprochen hatten. Ich überlegte, ob es nicht besser wäre, den Kontakt mit ihm abzubrechen, da ich es nicht gewohnt war, mit Stümpern zu arbeiten. Doch ich brauchte dringend Geld, um mich für eine unbestimmte Zeit nach Lateinamerika abzusetzen. Wir verhandelten über mein Nachtcafé und tranken die ganze Nacht hindurch bis zum frühen Morgen. Daraufhin verabschiedeten wir uns, ohne handelseinig geworden zu sein und legten einen weiteren Termin fest.

Ich wachte erst am späten Abend auf und mein Kater ermahnte mich an einen gesunden Lebenswandel. Die bearbeiteten Ausweisdokumente und die aufgewerteten Geldscheine lagen griffbereit – ich war gespannt, welche Geschichte ich von der alten Frau zu erwarten hatte.
Als ich das Café erreichte, war ihr Tisch verwaist.
Auf Nachfrage beim Ober teilte dieser mir mit, dass die Dame vor einigen Minuten das Lokal verlassen hatte. Er wusste nicht wohin, und es war ihm auch egal.
Ich eilte die Gasse hinunter – so einfach sollte sie mir nicht entkommen.
Die Gebäude erschienen mir viel moderner als zuvor. Die Außenwänden befanden sich in tadellosem Zustand. Es roch sogar nach frischer Farbe: Rot, Weiß, Schwarz und Gelb. Von fern heulten Sirenen und Marschmusik quäkte aus frequenzarmen Lautsprechern.
Stiefelabsätze dröhnten durch die engen Straßen und Hinterhöfe. Kinder weinten und Schüsse fielen. Menschen in altertümlichen Kleidern rannten mir schreiend mit verzweifelns-angstvollen Gesichtern entgegen.
Ich glaubte, mich in einem schlechten Film zu befinden, versteckte mich in einem Hauseingang, der dem vorgestrigen ähnelte und wartete ab. Wieder liefen Uniformierte durch die Gassen, doch diesmal entdeckten sie mich nicht.
Aus dem Dunkel des Treppenhauses erschienen drei Personen. Eine junge Familie. Der Mann in feinem Anzug und Binder, die Frau mit rüschenbesticktem Kragen und ein kleines Kind im Matrosenanzug. Mann und Kind nahmen mich nicht wahr, schauten regelrecht durch mich hindurch. Die Frau kam jedoch direkt auf mich zu und sagte: „Haben Sie unsere Papiere?“
„Ja“, antwortete ich konsterniert, „Ihre Papiere und auch die Geldscheine.“
Sie war noch keine Dreißig, von vollkommener Schönheit und besaß die selben leuchtenden Augen wie die alte Frau im Café. Ich verspürte eine unsichtbare Aura aus unbändiger Kraft, Mut und Lebenswillen, die von ihr auszugehen schien, sich durch dunkle Flure und Treppenhäuser entfaltete und in alten, schmiedeeisernen Fahrstühlen gen Freiheit entfloh. Ihre innere Stärke bemalte die überkommenen, rissigen, schmutzigen Wände in Flieder, Beige und Azur – ein Teil der Moderne und Erneuerung ging von ihr aus. Sie glich einem wandelnden Kunstwerk, welches kein Künstler zu erschaffen im Stande war.
Plötzlich erkannte ich die bemerkenswerteste Expressionistin des vergangenen Jahrhunderts in ihr wieder. Ich hatte sie so oft kopiert, wie keinen anderen Maler jener Epoche, hatte Öl, Deckweiß, Spachtelmasse und Blut geschwitzt, um ihrem Ausdruck nah zu sein und war nicht selten an der Einzigartigkeit ihres Strichs und Farbtons zerbrochen. Nun stand ich ihr in persona gegenüber und hätte sie am liebsten in mein ledernes Etui zu den anderen Heiligtümern meiner Kunst geschoben, um sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit herauszuholen.
„Eigenständigkeit und Mut zum Ich“, flüsterte sie mir ins Ohr, doch ich verstand nicht, was sie damit meinte.
Tausend und eine Frage wollte ich ihr stellen.
„Mit wem redest du, Mutter?“, fragte das Kind.
Ich übergab ihr Dokumente und rückentwertete Reichsmark. Sie strahlte erleichtert, küsste mich auf die Wange und riss die gelben Sterne von ihrem Filzmantel und der Bekleidung ihrer Familie.
Gelbe Sterne, wie aus dem tiefblauen Himmel des Nachtcafés.
Aus der Gasse rief jemand: „Hier entlang!“, und bog in unseren Hauseingang ein.
„Ausweise!“, brüllte er.
Die Frau reichte sie dem Schwarzuniformierten. Er studierte sie gewissenhaft.
Es war mein Kunstwerk und erneut kochte die angsterfüllte Hitze in mir auf. Nie zuvor war mir die Qualität meiner Arbeit dermaßen wichtig gewesen.
„Arier?“, fragte die Uniform mit gekünsteltem Sarkasmus, als er die Stempel genauestens überprüfte.
„Arier“, antwortete die Frau gefasst während ich mich im Schatten der Hauswand verbarg und den Griff meines Skalpells umkrampfte – zitternd, doch bereit zuzustechen, sollte die Fälschung nicht meinem Ruf gerecht werden. Ich erschrak vor meiner Absicht, ein Leben zu vernichten, um drei andere zu retten und war mir immer noch nicht vollends bewusst, worum es in dieser irrealen Szene letztendlich ging.
Mein Geist schien blockiert – längst verlorengeglaubte Instinkte kämpften mit dem puren Menschenverstand – animalische Beschützerinstinkte, die von einem starken, stolzen Tier aus der Blütezeit der Erdgeschichte stammten. Es schlich auf leisen Tatzen, umkreiste eine Meute hungriger Hyänen, die seiner Brut zu nahe gekommen waren, beleckte die messerscharfen Eckzähne und verwandelte die Steppe in einen grausigen Ort aus zerbissenen Knochen und Gedärm – um sich anschließend zu seinen Jungen zu legen und ihnen liebevoll-schnurrend das Fell zu lecken. Aus dem Augenwinkel beobachte das Tier Giraffen und Elefanten auf Stelzbeinen, die mit zerfließenden Taschenuhren und sodomierenden Brotlaiben um die Wette rannten; Obstköpfe von abstruser Anormalität bestiegen Treppen, die ihren architektonischen Anfang im Ende fanden.
Was wäre noch alles erschaut und entdeckt, diskutiert und zu bewundern gewesen, wenn der selbsternannte Rassen- und Kulturmensch nie das Licht der Welt erblickt hätte ...
Der Blick der Streife schien wie in Zeitlupe zwischen den Papieren und den Gesichtern ihrer Besitzer zu schwenken.
Komm, sag, dass alles seine Richtigkeit hat und lebe weiter!
Das Gaslicht spiegelte sich in meiner Klinge und warf einen grünen Schimmer auf den Nacken des Kontrolleurs. Zwischen dem vierten und fünften Halswirbel gedachte ich anzusetzen, um ihn fachgerecht zu sezieren und Unverstand und Unmenschlichkeit aus seinem gemeinen Geist zu schneiden.
Die Frau sah mir, an ihm vorbei, starr in die Augen und schüttelte ganz langsam ihren Kopf, so als wollte sie mich beruhigen und von meinem Vorhaben zurückhalten.
Der Unformierte bemerkte ihren Blick, folgte ihm und drehte sich abrupt in meine Richtung um. Auge in Auge stand ich mit der Hyäne. Ich konnte ihren Atem riechen, der von Verwesung kündete, fuhr meine stählerne Kralle aus und hackte wie besessen auf sie ein.
Karminrot ergoss sich über die Uniformität gleichgeschalteter Quader, die Dalis Wüstenlandschaft eine völlig neue Aussage vermittelte. Giraffen, Elefanten und gemeine Tiger stoben auf überdimensionalen Krücken auseinander – kurz aufgeschreckt von dem wütenden Heulen eines prähistorischen Gewissens. Der Rausch ergötzte sich an malerischen Landschaften, kämmte eine Zäsur auf zähem Öl, ließ Windmühlen in endlosen Getreidefeldern zum Leben erwachen, Kornblumen in einem See abgeschnittener Ohren erblühen und vermochte ein einziges Mal, meinem Dasein einen Sinn zu geben.

Mein Skalpell durchschnitt pfeifend die staubgeschwängerte Luft des Hausflurs – ohne auf einen physischen Widerstand zu treffen. Ich schlug regelrecht durch ihn hindurch.
Er wandte sich, als sei nichts geschehen, wieder der Familie zu:
„Ihre Papiere scheinen in Ordnung zu sein. Machen Sie, dass sie hier wegkommen. Dieses Viertel ist ab heute Sperrbezirk und untersteht dem Reichsamt für innere Sicherheit.“
Der Kapo stiefelte zackig davon, seine Schritte verhallten zwischen Gaslicht und Backstein. Von fern ertönte ein Requiem aus Schreien, Knüppelschlägen und Trillerpfeifen, wurde leiser und erstarb. Das Gemälde des jüngsten Gerichts tauchte vor meinem geistigen Auge auf- es war weder alt noch rissig und wies auch keine Spuren der Restauration auf.
„Tauschen Sie das Geld in Schmuck und Gold. Die Scheine könnten vielleicht schon morgen nichts mehr wert sein“, sagte ich und war überrascht von meinem wiedererwachten Pragmatismus ... aber die Familie war bereits verschwunden. Putz bröckelte von den Wänden und zerstob auf den Treppenabsätzen.
Tock, tock, tock – triolisch.
Häuser und Gassen lagen in ihren letzten Zügen, das Gebälk knirschte jammernd und flehend – hoffend auf eine Erneuerung, eine Reinkarnation der verlorenen, vernichteten Substanz – bittend, jedoch ohne Glauben ... in der Einsicht der Erkenntnis bekümmert – weit entfernt auf den Schalen brustgarnierender Hummern, durch ein von der Brüstung gestoßenes steinernes Ei, unwiederbringlich zerplatzt.
Ich war allein mit meinen Gedanken, rutschte an der Wand zu Boden, starrte auf die drei gelben Stofffetzen, die von einer Windbö hinfort getragen wurden, atmete flach-rhythmisch, um meine Angst zu kontrollieren und begann an meinem Verstand zu zweifeln.
Wäre solch ein Erleben Grund genug gewesen, sich ein Ohr abzuschneiden, um mit dem realen Schmerz gegen den Wahnsinn anzukämpfen, dachte ich noch, bevor das Dunkel der Nacht mich tröstend-liebevoll in ihrer Geräuschlosigkeit umarmte.

„Sagen Sie mal: Wo ist denn die Dame abgeblieben, die immer an jenem Tisch saß?“
Der Ober schaute mich verdutzt an und kreiste innerlich mit seinem Zeigefinger vor der Stirn, „welche Dame meinen Sie?“, fragte er mit zusammengekniffenen Augenlidern, einer demonstrativ hochgezogenen Oberlippe und beleckte sich die Schneidezähne.
Auch er gehört der Gattung der Hyänen an.
„Sie kommt jeden Abend, bestellt Cappuccino und Mineralwasser und wohnt irgendwo dort hinten in den Gassen.“
„Dort wohnt seit Ewigkeiten niemand mehr – höchstens ein paar streunende Hunde verirren sich noch in den Ruinen des ehemaligen Ghettos.“
Streunende Hunde, Säbelzahntiger, dünnbeinige Elefanten und andere Geschöpfe, die du in deiner desinteressierten Beschränktheit niemals zu Gesicht bekommen wirst.
Ich verspürte Lust, ihn zu beißen und den Vorplatz des Cafés im fauligen Sud seiner Ignoranz zu ertränken ...
Bin ich denn der einzige Sehende unter all den Blinden?
„Enrice Montoya?“, fragte ein Botenjunge der plötzlich an meinem Tisch stand, „Ich habe eine Depesche für Sie.“
Der Umschlag enthielt einen Einzahlungsbeleg meines Schweizer Nummernkontos. Fünfzigtausend Euro waren unter dem Stichwort Nachtcafé eingegangen, obwohl ich das Bild noch gar nicht verkauft hatte. In der zweiten Zeile des Verwendungszwecks stand der Name eines Ortes an der Holländischen Küste.
Der Einzahler nannte sich Isaac Kornblum, genau so wie das Kind jener seltsamen Familie, bevor ich ihre Namen in meinem Pensionszimmer mit Säure und Lack arisiert und somit der unheilvollen Kreativität eines gewissen E.T.A. Hoffmann den Schrecken genommen hatte. Der Check war auf den Tag meines ersten Cafébesuchs vordatiert.
Ich notierte Flieder, Beige und Azur in meinem Notizbuch, beglich meine Rechnung und strich das Trinkgeld. Während unweit des Cafés Abrissbirnen und Bagger die letzten Spuren einer unbequemen Vergangenheit zu planieren begannen, begab ich mich in Richtung Holland zu einem Wiedersehen nach sechzig Jahren – auch wenn es mir wie gestern erschien.

Isaac erinnerte sich persönlich nicht mehr an mich – er war damals vier Jahre alt gewesen, als er mit seinen Eltern floh, um über Frankreich die neue Welt zu erreichen. Aber seine Mutter hatte ihm von mir erzählt und ihm gesagt, dass sie mir noch Geld schulde, das nach heutiger Währung gut fünfzigtausend Euro entsprach. Er bestätigte mir ihren Mädchennamen unter dem sie als Expressionistin Bekanntheit erlangt hatte. Auf einer Münchener Vernissage lernte sie den Musiker Hans Kornblum kennen, verliebte sich und heiratete ihn kurz vor Inkrafttreten der Rassengesetze.
„Was darauf folgte, bezeichnete meine Mutter als die schwarzen Jahre. Es begann mit Berufsverbot, Verwüstungen von Ateliers und Ausstellungen, Bilderverbrennungen und endete mit den Begriffen Rassenschande und Entartete Kunst.“
Isaac kramte nach einem Taschentuch, um seine Augen zu trocknen und gab es an mich weiter. Er atmete flach-rhythmisch, dann fuhr er fort: „Von offizieller Seite bot man ihr an, die Ehe annullieren zu lassen und Bilder im Sinne des Deutschen Volksgedankens zu malen. An diesem Abend packte sie unsere Koffer und floh mit uns ins besetzte Frankreich. Kurz zuvor hatte sie ihren letzten Pinselstrich an die Wand des Schlafzimmers gesetzt. Es war ein grausiges Gemälde und es machte mir Angst. Schau, sagte sie zu mir, fürchte dich nicht - das ist die Realität – und die lassen wir nun hinter uns. Es war ein Berg von Gebeinen und über allem thronte ein gestutzter, zweifingerbreiter Oberlippenbart.“
Isaac goss bernsteinfarbenen Cognac in meinen Schwenker. „Für besondere Gäste.“
„Wie ging es weiter?“, fragte ich interessiert und nippte an dem Glas, dessen Inhalt nicht jünger als mein Gastgeber war.
„Es war nicht einfach, die Kontrollen zu umgehen. Meine Mutter trug unser Gepäck ganz allein, meinem Vater hatte man die Finger gebrochen und er konnte seitdem nicht mal mehr den Bogen seiner Geige halten – Mutter war eine starke Frau. Fast übermenschlich und sie war wunderschön. Aber vielleicht kam es mir auch nur so vor ... in der kindlichen Phantasie sind alle Mütter Übermenschen.“
Nein, sie war wirklich wunderschön und stark, dachte ich, weil ich es wusste.
„Was passierte wirklich in den Gassen jenes Ortes an der Seine?“
„Wir versteckten uns bei Verwandten meines Vaters und Mutter versuchte, uns neue Papiere zu beschaffen, die unsere Ausreise ermöglichten. Schauen Sie, Enrice, ich habe sie aufbewahrt.“
Isaac übergab mir drei Pässe. Die Stempel- und Namensänderungen trugen unverkennbar meine Handschrift. Ich stürzte den Cognac in einem Zug.
„Wissen Sie, wer diese Ausweise bearbeitet hatte?“
„Durchaus. Es ist die selbe Person, der meine Mutter fünfzigtausend und unser Leben schuldete – Sie, Enrice Montoya. Ich hatte mich oft gefragt, wie man jemandem etwas schuldig sein kann, der noch gar nicht geboren war als das Pogrom in Europa wütete. Und meine Mutter konnte ich nicht mehr fragen - sie hatte die Freiheit nicht genießen dürfen und starb bei der Überfahrt inmitten des Atlantiks. Zumindest nehme ich es an – sie hatte das Schiff zwar betreten, aber nie verlassen.“
Vielleicht hatte sie es doch verlassen und sitzt nun am Tisch eines Straßencafés an der Seine – einsam und verwirrt, um ihre Realität beraubt, dachte ich, wollte Isaac aber nicht mit vagen Vorstellungen belasten.
Ich konnte seine Fragen nicht beantworten; und ich wollte auch nichts geschenkt. Also malte ich für ihn die Kornblumen in leuchtenden Farben mit der Präzision eines Meisters, der einem Van Gogh zur Ehre gereichte und seiner Kunst in nichts nachstand, und schenke sie ihm zusammen mit meiner persönlichen Interpretation des Nachtcafé ... mein erstes Bild, das keine Fälschung war und meinen echten Namen trug. Zum Abschied übergab er mir einen Umschlag und sagte: „Ich habe ihn nie geöffnet – er ist nur für Sie bestimmt.“
Pour Enrice Montoya stand in eckigem Sütterlin auf der Falzseite.

„Haben sie diesen Mann schon mal gesehen?“, fragte der Europol-Ermittler streng.
Der Ober des Cafés an der Seine warf einen flüchtigen Blick auf das Foto. „Wissen Sie, hier kommen jeden Tag so viele Gäste, da kann ich mir wirklich nicht jeden einzelnen merken. Und jetzt entschuldigen Sie mich – meine Arbeit erledigt sich nicht von allein.“
Damit verlor sich meine Spur im Desinteresse einer anteilnahmslosen Bedienung.

Mein Flieger ging nonstop von Amsterdam nach Rio. Der neue Pass wies mich als Paolo de la Mar aus – Handelsreisender und zukünftiger Besitzer eines Bistros in Ipanema am Fuße des Zuckerhuts. Ich schaute ein letztes Mal aus dem Kabinenfenster auf das neue, alte geheimnisvolle Europa, in dem es noch viele alte Menschen gab, die Gefangene ihrer Vergangenheit waren, und flüsterte: „Es war mir eine Freude, Sie kennen zu lernen. Heute bin ich achtundzwanzig geworden und habe mein Leben, mit Ihrer Hilfe, in der Freiheit der neuen Welt noch vor mir. Nun sind wir quitt, Madam Kornblum.“
Die wahre Tragweite meines Treffens im Nachtcafé sollte ich jedoch erst zu spüren bekommen, nachdem die Maschine abgehoben hatte. Ich öffnete den alten Brief und versuchte die verlaufene Schrift zu entziffern:
.
Lieber Enrice, Paolo oder wie auch immer du dich nun nennen magst.
Ich habe immer an die Vorsehung und das Schicksal geglaubt, doch heute weiß ich, dass noch etwas anderes existiert. Als die Faschisten begannen, Frankreich zu säubern, saß ich allabendlich am Tisch des Nachtcafés und wartete auf einen Unbekannten, der in der Lage war, meiner Familie eine Zukunft zu schenken. Während das Viertel unserer Verwandten zum Ghetto erklärt wurde, musste ich mit ansehen, wie man meine Lieben verschleppte. Der große Unbekannte war jedoch nicht erschienen. Hans und Isaac verloren Ende 44 ihr Leben – mit einer Nummer auf dem Unterarm, skelettiert in mitten einem Berg anonymer Leichen. Und ich wartete immer noch auf den Mann mit den Pässen.
Wenn du vor einer Woche das Lexikon der Kunst des 20. Jahrhunderts auf Seite 110 aufgeschlagen hättest, dann wäre dir diese Geschichte bekannt.
Doch wenn du jetzt einen Blick in dieses Buch wirfst, dann wirst du dort eine ganz andere Geschichte lesen, und du wirst mittlerweile auch meinem lebenden Sohn begegnet sein.
Expressionismus und Surrealismus, lieber Enrice, sind nicht nur reine Formen des stilistischen Ausdrucks – es sind Sinngebung und Lebenseinstellung, die den Grenzen des Realen und Überkommenen nicht mehr unterliegen. Frei von Zeit und Raum entfaltet sich das Bild, von der Kraft des eigenen Seins getragen und zieht seinen Künstler mit sich ... weit über die Einbildung des Tods hinaus.
Zeitlebens war ich bemüht, meiner Vorstellung und individuellen Erlebniskraft durch Umformung der Natur gerecht zu werden – nach mir folgte der psychische Automatismus unterbewusster Elemente des menschlichen Geistes. Beides zusammen bildet den Beginn einer neuen Epoche, die in ferner Zukunft deinen Namen tragen wird.
Maler, Musiker und Literaten besitzen ein kollektives Bewusstsein, bestimmt durch Auge, Ohr und Mund und vereint durch Hand und Verstand; Deines hat das Meine gefunden und gemeinsam haben wir die Ketten der Naturgesetze gesprengt. Seit unserem ersten Treffen befindet sich alles in ständiger Veränderung und Neugestaltung – ein Nebeneffekt von Zeitreisen, um das Paradoxe in Schach zu halten, welches einmal befreit, unser gesamtes Universum verschluckten würde. Doch das würden wir nicht wollen – Künstler zerstören nicht, im Gegenteil, sie leben, um zu erschaffen.
Male, Enrice, male dich frei, dann wird niemand je in der Lage sein, dich und alles was dir lieb erscheint, einzufangen und zu vergiften.
Und solltest du noch Zweifel hegen, dann werfe einen Blick auf Dalis „verlaufene Zeit“ und versuche, die wahre Motivation des Malers zu ergründen.
Van Gogh war nicht verrückt, als er sich das Ohr abschnitt; er konnte nur die Stimmen einer düsteren Zukunft nicht mehr ertragen und begriff nicht, dass es sich nur um eine mögliche Alternative aber nicht um etwas Festgeschriebenes handelte; er vergaß, die lineare Dynamik in seine individuelle Betrachtung mitein zu beziehen. Eine Fehleinschätzung, der auch schon zuvor Nostradamus und andere unterlagen.
Sei stark und trotze zumindest du dem Irrtum, der uns von Zeit zu Zeit befällt.
Es bedarf nur der Neugier, des Mutes und ein wenig Menschlichkeit.


Mein Steckbrief vergilbte mit der Zeit und mein letztes Verbrechen verjährte. Brasilien war gewiss nicht für jeden ein Paradies – doch zumindest für jene, die kein anderes mehr besaßen.
Wenn sich eine alte Dame an einen Tisch meines Bistros setzt, dann geselle ich mich zu ihr, höre mir ihre Geschichte an und bestelle uns Cappuccino und Mineral auf Kosten des Hauses , ohne mit dem Zeigefinger vor der äußeren oder inneren Stirn zu kreisen.
Man weiß nie, welche Schicksale mit dem Interesse für den Mitmenschen verbunden sind.
Und am frühen Morgen, wenn sich die Tische lichten, drücke ich auf metallene Tuben, mische, male, male und male ... mich der letzten Antwort und unsterblichen Freiheit einer bezwungenen, kontrollierbaren Zeit des Irrealen entgegen. Einer Epoche, in der das Chaos die Linearität des dogmatischen Gleichschritts endgültig ersetzt und seine neuen mutigen Meister liebevoll umarmt.

©2003 R. „ritch“ Funke

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 13.41 Uhr
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