Mainhattan Moments
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September 2003
Nachtbilder
von Friederike Stein


So langsam konnte ich einen Kaffee gebrauchen. Museumsbesuche - anstrengender als eine Wanderung!
Aber ich war schon fast durch, die Tour zu unterbrechen, lohnte sich nicht mehr. Schuhgestöckel klackte näher, Ledersohlen schlichen ihm nach - bitte nicht! - »Nachtcafé«, hub da die distuingierte Stimme bereits an,
und ich versuchte wegzuhören, »Place Lamartine«, das r gehaucht wie ein ch, »... in stark kontrastierenden
Farben ... Rottöne überwiegen ... Grün als übermächtiger Streifen ...«. Auf meinem Bild, viel mehr "Nachtcafé" als das nebenan, laut Titel eine "Caféterrasse am Abend", herrschten Gelb und Blau, Grün wedelte allenfalls
ein Baum von rechts herein.
Eine Frau schlurft müde übers Pflaster, knickt um, ihre Stiefelette fängt sie auf. Unschlüssig bleibt sie stehen, steckt eine Haarlocke hoch. Ihr Blick schweift ins Café, Oase des Lichts in der kühlblauen Nacht, und über seine Gäste. Tisch an Tisch sitzen sie da, als suchten sie aneinander Wärme, die Schachspieler vom Mittag sind fort. Ein Windhauch promeniert durch die Bäume auf dem Platz, streift lässig die Zweige, schiebt gelangweilt
einen Fetzen Papier vor sich her. Schon kühl, die Abende im September, auch wenn die Tage noch heiß sind.
»... ein Muster für van Goghs einander suchende Formen.« Die Distuingierte und ihr Männchen hatten mich
eingeholt. Galeristin, tippte ich, und ein "lieber Freund" von irgendwo weit her. »Siehst du diese drei Linien?« Soso, man duzte sich sogar. »Die eine, ädikulaabschließende ...« - Ädikula? - »Ädikula?« echote der liebe Freund meinen Gedanken, »Ein kleines Haus?« Aha, Lateiner, gebildet, jaha. »... Säulenumrahmung«, erklärte uns die liebe Freundin, und ich verpaßte die zweite Linie, weil eine kleine Hütte meinen Blick an sich zog,
ein Vorbau vielleicht, hoch über allem thronend, blau wie die Nacht und ebenso leer. »... schrägrechte Dachlinie, in die Unendlichkeit des Firmaments greifend.« Hier prallten Welten aufeinander. »... welche in ihrer Gesamtheit die erwartete Zentralperspektive negieren, nach deren Regeln sie im Fluchtpunkt konvergieren, zusammenlaufen müßten.« Ah danke, das Wort hatte ich gerade noch gekannt, der liebe Freund sicher nicht minder.
Der fehlende Fluchtpunkt, fand ich, stand dem Bild gut.
Die Frau nimmt an einem leeren Tisch Platz und gibt dem Kellner ein Zeichen. Sie ordnet ihr Haar mit zuckenden Fingern, schon zum vierten Mal jetzt. Eine Pelerine hält ihr die Nachtkälte ab, trotzdem bringt der Kellner eine dampfende Tasse. Kein Absinth. Das Plappern und Murmeln hinter ihr schwillt wieder auf, die Frau zuckt zusammen, als sich oben laut ein Fensterladen schließt. Ein Botenjunge kommt gerannt, die Frau richtet sich auf, sie wartet nicht, nein, sie wartet nicht, ihre Augen fixieren den leeren Stuhl des Schachspielers, der so einladend da steht, nur eben zurückgeschoben, bis gleich. Der Junge rennt vorbei und ums Eck. Der Blick
der Frau läuft zwei Schritt hinterher, erklimmt die Häuserfassade, die schon schläft im Schatten der Nacht,
hinauf zum First, und verliert sich im sternbetupften Firmament.
»... sucht hier die bekannte Ordnung zu stören, um eine bildimmanente neu zu erschaffen.« Endlich! Das große Wort der Kunst - Immanenz! - war gefallen, unsere liebe Freundin setzte zum Finale furioso an.
»Van Gogh wollte nicht beschreiben, sondern vielmehr die innewohnenden Linien in und mit sich selbst
sprechen lassen.« Gehorsam nickte der liebe Freund, oder wahrscheinlich stimmte er herzlich zu.
»Oder wie Maurice Denis« - ob "Mochiss Dennie" sich wiedererkannt hätte? - »es in seinem berühmten Ausspruch faßte: ein Bild ist kein Schlachtroß, ein Akt oder eine Anekdote, sondern eine Oberfläche, mit Farben
bedeckt, die nach einer bestimmten Ordnung gruppiert sind.« Für derlei Erkenntnis wird man also berühmt.
Ehrerbietig verbeugt sich der Kellner vor der Frau, als er einen zweiten Kaffee bringt. Geistesabwesend nickt sie in seine Richtung, schnappt ihr seidenes Portefeuille auf und zu. Jettperlen glitzern daran und erinnern sie an die Sterne, die am Himmel erblühen wie Margueriten auf einer samtblauen Wiese. Am hinteren Tisch lacht
jemand rauh, stößt laute Worte in die Nacht und versinkt wieder im Plätschern der übrigen Stimmen.
Ein Betrunkener nähert sich einer Magd, haucht ihr heiser sein Grinsen ins Gesicht und taumelt zurück
vor ihrem Keifen. Die Frau vor dem Café lächelt sacht. Im Haus gegenüber verlöschen die letzten Lichter.
Galeristin und Lieber Freund ließen mich erwartungsgemäß mit der Immanenz zurück und begaben sich
zur nächsten Oberfläche, die einer vor 115 Jahren nach einer bestimmten Ordnung mit Farben bedeckt hatte.
Ich starrte noch immer in das gelbe Licht eines Cafés einer Septembernacht in Arles.
Ratternd und knirschend kommt eine Droschke heran, ihre Laternen flimmern mit den Sternen im Takt.
Die Frau hebt ihren Blick und läßt ihn gleich wieder auf die Jettperlen sinken. Das Gefährt klappert vorbei,
verschwindet um die nächste Kehre. Münzen klappern auf den Tisch, "Merci, Madame. - Bonsoir, Madame." Stiefeletten klappern übers Pflaster, ums nächste Eck.
Der Tisch dort im gelben Licht war wieder leer.

(C) Friederike Stein, 09/2003
(zu: V. van Gogh, "Terrasse des Cafés an der Place du Forum in Arles am Abend", September 1888)

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 11.26 Uhr
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