Liebesgeschichten ohne Kitsch? Geht das? Ja - und wie. Lesen Sie unsere Geschichten- Sammlung "Honigfalter", das meistverkaufte Buch im Schreiblust-Verlag.
„Hola!“ Die Kutsche hielt. „Bürgerin, wir sind in der Rue Saint-Augustin!“
„Sind wir am Hotel de la Providence?“ Eine zaghafte Stimme klang aus dem Wageninneren.
„Oui.“ Der Kutscher klang ungehalten, da sie die ganze Nacht unterwegs waren. Der Wagenschlag öffnete sich und ein zierliches, junges Mädchen stieg aus. Sie trug die Tracht der Bäuerinnen aus der Normandie. Auf ihrem kastanienbraunen, bis zur Taille reichenden Haar befand sich sittsam ein weißes Häubchen. Eine leichte, gobelinbestickte Reisetasche war ihr einziges Gepäck.
„Merci et au revoir …“. Bescheiden reichte sie einen „Louis d´or“ hinauf. Der Kutscher blickte sie erstaunt an und biss auf die Goldmünze.
„Allez, hue!“ Eilig trieb er seine Pferde an. Klappernd entfernte sich das Gefährt die enge, mit Kopfstein gepflasterte Straße hinunter. Charlotte blieb am Straßenrand stehen und sah dem Kutscher nach. Sie sog die schwülheiße Juli-Luft dieser für sie fremden Stadt ein. Es roch nach Tod und geronnenem Blut. Angewidert betrat sie das „Providence“ – Hotel „Zum Schutzengel“. Eigentlich hieß sie Marie, aber Charlotte passte besser zu einer Mörderin, fand sie, und so meldete sie sich unter diesen Namen an.
Am nächsten Morgen, dem 24. Messidor des Jahres I*, stand sie schon früh auf und nahm in aller Ruhe ihr Frühstück ein, begab sich daraufhin aber sofort wieder auf ihr Zimmer. Dann öffnete sie das kleine Fenster, das zum Hof hinausführte, und blickte nachdenklich hinaus. Später setzte sich an den kleinen Schreibtisch und begann ihren Brief:
„… Landsleute! Ihr kennt eure Feinde, erhebt euch! Vorwärts marsch! Die Räuber, die jetzt auf dem blutigen Throne sitzen, werden erbleichen. Sie haben unseren König getötet und viele unserer Freunde. Da sitzen sie, schon vom Blitz umzüngelt, dessen Einschlagen die Rachegötter der Menschheit gewiss nur darum noch aufschieben, weil ihr Sturz gewaltiger sein wird, als alles vorher gewesene! O mein Vaterland! Dein Unglück zerreißt mir das Herz, ich kann Dir nichts bieten als mein Leben und ich danke dem Himmel, dass ich die Freiheit habe, darüber zu verfügen. Niemand wird durch meinen Tod verlieren! …“
Und endlich kam eine Nachricht aus Paris.
„Papa“, hatte Marie gerufen. „Papa. Sie haben die Bürgerrechte verkündet. Wie in Amerika. Freiheit! Gleichheit und Brüderlichkeit! Und das Recht zu besitzen!“ Er hatte nur müde mit dem Kopf geschüttelt. Zu schwer waren die letzten Jahre für sie gewesen, er war alt und krank geworden.
Aber nichts wurde besser. Der Hunger war überall. Die ersten Zeitungen kamen aus Paris und berichteten. Und zum ersten Mal las sie seinen Namen: Jean Paul Marat.
„Ich bin das Auge des Volkes“, schrieb er. „O Bürger, sputet euch, sonst werdet ihr die privilegierten Stände wieder auferstehen sehen. Die Flucht der königlichen Familie ist von langer Hand von Verrätern der Nationalversammlung vorbereitet worden. Man täuscht das Volk mit Paraden, großen Worten und Festlichkeiten. Merkt ihr nicht, dass ihr getäuscht werdet?“
Woher weiß er das, hatte sich Marie gefragt, war er denn immer dabei? Woher kennt er die Wahrheit oder weiß, dass es die Wahrheit ist? Und welche Lösung schlug er vor? „Fünfhundert oder sechshundert abgeschlagene Köpfe hätten euch Ruhe, Freiheit und Glück gesichert. Eine falsch verstandene Menschlichkeit hat eure Arme gelähmt.“
‚Mord für Freiheit? Mord gegen Hunger? Wie verträgt sich das mit den neuen Rechten?’, überlegte Charlotte. ‚Monsieur Sanson, der Scharfrichter von Paris, wie sollte er fünfhundert, sechshundert Köpfe abschlagen?’
Man hätte viele Sansons gebraucht, denn nach jeder Hinrichtung war das Schwert stumpf und musste geschärft werden.
Aber auch hierfür hatte Marat eine Lösung und verschrieb sich ihrer Verbreitung: Das Töten als Mittel politischer Arbeit, nicht neu, nicht originell, aber wirksam. Und er schloss sich mit Dr. Guillotin und Dr. Louis zusammen. Alle drei waren sie Ärzte und entwickelten eine Tötungsmaschine. Die Maschine nannten sie aber nicht Marattine, sondern Guillotine.
Täglich wurde es teurer, satt zu werden. Die Preise stiegen überall, in den Städten und auf dem Land. Es geschah nicht selten, dass die Händler auf den Märkten wieder ihre Waren abtransportierten, weil niemand sie bezahlen konnte. Wo brachte man sie hin? Wer durfte sich davon satt essen, während die Kinder der Bevölkerung schrieen? Zu den Höflingen, Spekulanten und Feinden der Revolution? O, man hätte den Frauen nicht sagen dürfen, wohin sie die Lebensmittel brachten. Sie wären mit ihren Küchenmessern auf die Händler losgegangen. Fest presste Marie die teuer bezahlten Karotten an sich.
Und Marat? Was empfahl er? „Wachsam zu sein“ und baute währenddessen eine Guillotine. Und das Volk war wachsam, sehr wachsam gegen jeden.
Als sie vom Markt zurückkam, sah sie in der Ferne eine Prozession. Sie bewegte sich nur sehr langsam vorwärts. Aber es ging nicht schneller. Soldaten brachten Kanonen, vor die statt Pferde Gefangene gebunden hatten, ein paar Männer und Frauen, deren Köpfe kahl geschoren waren, deren Stirn vor Pein und Anstrengung glänzten. Nun kam sie von Paris auf Land – die Revolution.
Und Jean Paul Marat? Was sagte er? Er saß währenddessen an seinem Schreibtisch mit gespitzter Feder und schrieb die Wirklichkeit auf, machte Schuldige dingfest, Ehrgeizlinge, Verräter, Feinde des Vaterlandes, Betrüger und Intriganten – Tausende. Auch das Volk Frankreichs?
* * *
Am Vormittag des 25. Messidor** verließ Charlotte zum ersten Mal das „Providence“ und begab sich zu den Läden des Palais Royal. Sie bestaunte die Auslagen, in denen die pompösen Kleider für die Damen der Pariser Gesellschaft ausgestellt waren. Entzückt betrachtete sie die mit Rüschen besetzten Röcke und die mit Federn verzierten Hüte. Doch dann besann sie sich ihrer Aufgabe und betrat einen kleinen Laden.
„Sie wünschen?“, fragte der Inhaber und sah sie erstaunt an. Eine Dame ohne Begleitung betrat selten sein Geschäft.
Charlotte schaute sich um. Zierliche Dolche in den Vitrinen, Federmesser aus Gold, elegante Stilette an den Wänden, Schnitzmesser, Brotmesser, Bestecke aus Silber. Sie zeigte auf ein großes Küchenmesser mit einem dunklen Holzgriff.
„Wie viel kostet es?“
„Vierzig Sous.“
„Das nehme ich.“ Sie öffnete ihren Geldbeutel, den sie sich um die Taille gebunden hatte, und zählte die Münzen auf den Tresen.
„Oui.“ Der Verkäufer holte das Messer eilfertig aus der Vitrine. „Soll ich es einpacken?“
„Nicht nötig. Verkaufen Sie mir nur noch ein Lederfutteral.“ Unbeholfen nahm Charlotte das Messer in die Hand.
„Eine edles, ein scharfes Messer.“ Der Verkäufer sammelte die Münzen ein und betrachtete neugierig das schöne Mädchen.
„Ja, ein gutes Stück.“ Vorsichtig, fast liebevoll steckte Charlotte es in das Leder und verbarg alles in ihrem Brusttuch. Dann verließ sie den Laden.
„Au revoir …“, rief ihr der Ladeninhaber nach, doch Charlotte hörte ihn nicht mehr.
Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, die Hitze war unerträglich, doch das Einzige was Charlotte wahrnahm, war der Geruch nach Verwesung und geronnenem Blut vieler Opfer, der ihr den Atem raubte.
Sie bestieg eine Kutsche. „In die Rue des Cordeliers Nr. 30, bitte“, gab sie Anweisung. Als der Wagen hielt, stieg sie aus. „Warten Sie.“ Charlotte verweilte einen Augenblick vor dem Haus, dann klopfte sie entschlossen an. Eine Dame in einfacher Kleidung öffnete ihr die Tür.
„Bürgerin, Sie wünschen?“
„Ich wünsche Marat zu sprechen.“ Entschlossen trat Charlotte einen Schritt vor.
„Bürger Marat ist krank und empfängt nicht“, bekam sie kühl zur Antwort.
„Ich muss zu ihm, ich habe eine wichtige Mittelung aus Caen für ihn“
“Warten Sie einen Augenblick.“ Sie verschloss aber sofort die Tür, um sie kurze Zeit später wieder zu öffnen.
„Er empfängt heute nicht“, sagte sie entschieden.
„Darf ich wissen, wer Sie sind?“, fragte Charlotte höflich.
“Es geht sie zwar nichts an, aber ... mein Name ist Simonne Evrard, ich bin seine Lebensgefährtin.“
Charlotte blickte Simonne kurz an, knickste und bestieg die wartende Kutsche.
In ihrem Hotel angekommen, setzte sie sich entschlossen an ihren kleinen Schreibtisch und schrieb: „ Marat. Ich komme von Caen. Ihre Liebe zum Vaterland muss es Ihnen erwünscht erscheinen lassen, die Komplotte, die man dort gegen Sie schmiedet, kennen zu lernen. Ich habe Sie heute Morgen besucht, aber man hat mich nicht vorgelassen. Kann ich auf einen Augenblick Gehör hoffen, wenn ich Sie nochmals besuche? Und Sie werden mich nicht abweisen, bei dem großen Interesse, das unsere Sache hat?“
Charlotte sandte einen Boten mit dieser Nachricht zur Rue des Cordeliers. Am späten Nachmittag kleidete sie sich abermals sorgfältig an, versteckte das Messer unter ihrem Brusttuch, bestellte eine Droschke und fuhr zur Rue des Cordeliers. Die Sommersonne stand bereits tief über den Häusern von Paris und warf lange Schatten, doch der Geruch stand nach wie vor über der Stadt.
Wieder stand sie vor dem Haus, betätigte den Türklopfer.
„Bürgerin?“
„Ich möchte zu Marat. Ich habe mich bereits angekündigt.“
„Er empfängt nicht“, kam die knappe Antwort und die Türe wurde erneut zugeschlagen.
Charlotte klopfte energischer. „Sagen Sie, dass Marie Corday hier ist. Ich habe Jean Paul Marat eine wichtige Nachricht aus Caen zu überbringen.“
Charlotte hörte ein lautes Wortgefecht im Flur.
„Kommen Sie“, kam die knappe Antwort. Sie wurde durch einen Flur in die obere Etage geführt. „Bitte.“ Simonne, die Frau, die sie am Morgen abgewiesen hatte, öffnete die Tür zu einem kleinen Raum. Feuchter Dunst schlug Charlotte entgegen.
„Kommen Sie näher, Bürgerin“, vernahm sie eine männliche Stimme. War das Jean Paul Marat? War sie am Ziel?
Sie setzte sich auf einen Stuhl, den er ihr anbot. Er lag in der Badewanne, nackt, nur von einem Tuch verhüllt.
„Sie haben mir eine wichtige Mitteilung aus Caen zu machen?“ Charlotte nickte.
„Die Namen“, sagte er.
Und sie begann: „Larivière, Gorsas, Barbaroux …“, und er schrieb. Er schrieb auf einem Brett, das quer über die Wanne gelegt war.
„Weiter“, sagte er und sie fuhr fort, weitere Namen der Girondisten zu nennen, die sich in Caen versteckt hielten.
„Diese Leute werden in wenigen Tagen hingerichtet“, sagte er knapp. Da griff sie langsam in ihr Brusttuch, zog das Messer heraus und stach es bis zum Heft in den nackten Mann vor ihr.
Ihre Hand, die das Messer hielt, wurde warm und nass von Marats Blut, das ihr entgegensprudelte. Das war es, wovor sie sich gefürchtet hatte, dass Nasse und Klebrige, wie bei einem Fasan, den Papa mitbrachte, wenn er von der Jagd kam. Und es war viel schwerer, das Messer wieder herauszuziehen, als zuzustoßen. Sein Körper hielt es fest.
"Amie, ma chère amie, à moi!", schrie Marat.
Charlotte schaute ihn stumm und ungläubig an. Es waren seine letzten Worte. Simonne stürzte ins Zimmer und warf sich weinend auf Jean Paul. Bald darauf füllte sich der Raum mit Menschen, bildeten einen Kreis um sie, bis jemand den Stuhl ergriff und Charlotte, als sei sie eine wilde Bestie, damit zu Boden schlug.
Gelassen und ohne Furcht ließ sich Charlotte vom Postmeister Drouet, den man herbeigerufen hatte, fesseln und abführen. Sie wurde ins Gefängnis l’Abbaye gebracht. Dort wurden ihr die Scheide des Dolches - denn den Dolch hatte man ihr sofort entrissen - einiges Geld, ihr Taufschein und Pass abgenommen. Bei ihrem Eintritt in die Abtei rannte angesichts ihrer Schönheit ein Jüngling hinter ihr her. Er bat, statt ihrer Gefängnis und Tod zu bekommen. Er erhielt anschließend beides.
Am dritten Tag ihrer Gefangenschaft wurde sie vor das Revolutionstribunal geführt. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Noch während ihres Gefängnisaufenthaltes hatte sie gebeten, sich malen lassen zu dürfen, „als Abschreckung, um mein Verbrechen für ewige Zeiten festzuhalten“. Er hatte man es ihr nicht gewährt, doch als sie sich umblickte sah sie einen Mann mit einem Skizzenblock. Dankbar lächelte sie ihm zu.
„Wo sind wir, wenn etwas geschieht? Wir sind abwesend.“ Charlotte saß steif auf einem alten Stuhl. „Und erst unsere Abwesenheit macht es möglich, dass etwas passiert. Geschichte erfolgt immer nur, wenn niemand dabei ist. Und wenn man um Einhalt schreit, ist es schon zu spät. Auch ich werde ein Teil dieser Geschichte werden.“
Das Licht kam von der Seite, schräg von oben durch die Gitterstäbe der kleinen Öffnung. Die Gefängniszelle war dunkel, nur von diesem kleinen Loch erhellt. Sie saßen sich gegenüber, eine Tischbreite trennte sie. Charlotte lächelte ihn an, stolz, ohne jede Todesangst in ihren großen Augen. In der Hand hielt Jakob Hauer einen Skizzenblock, maß manchmal mit einem Stift ihr Profil.
„Sprich“, sagte er ruhig, „damit ich dich sehen kann.“ Jakob Hauer hatte schon im Gerichtssaal angefangen, ihr Bild zu skizzieren, aber jetzt malte er sie in Öl. Es ging alles viel zu schnell, schon sehr bald hatte man sie verurteilt. Doch er durfte bei ihr bleiben. Er war nicht nur Maler, er war auch Polizist. Und er war mit dieser schönen Frau allein, die gleichzeitig seine Gefangene und sein Modell war und deren Gesicht ihn faszinierte, von Anfang an fasziniert hatte.
„Ich möchte, dass Sie eine Kopie des Bildes an meinem Vater nach Caen senden, wenn ich nicht mehr da bin“, bat sie. Hauer schaute sie still an und hielt in seiner Arbeit inne. Sie überreichte ihm einen Brief. „Verzeihen Sie, mein lieber Papa“, las er, „dass ich ohne Ihre Erlaubnis über mein Leben verfügt habe …“.
„Aber so zeichnen Sie doch, wir haben nicht mehr viel Zeit. Sie wissen so gut wie jeder hier, dass man mich noch vor Abend hinrichten wird“, sagte sie. „Oder ist es Ihnen zu dunkel? Sehen sie überhaupt etwas? Soll ich die Concierge rufen, dass sie uns eine Kerze bringt?“
Nein, kein Licht. Es war gut so, der Sonnenstrahl, der durch das vergitterte Fenster auf ihr Haar fiel, die weit offenen Pupillen, die noch einmal alles Sichtbare aufnahmen.
„Sprich“, sagte er wieder.
„Wäre ich ein Mann, hätte ich gelernt, wie man richtig tötet ...“ Sie sah auf ihre im Schoß gefalteten Hände.
Hauer sah fragend von seiner Zeichnung auf.
„Ich meine, wie die Soldaten. Mit Säbeln, Schusswaffen oder dem Bajonett. Sie lernen für den Krieg. Sie beherrschen die Handhabung der Waffen wie ein Spiel. Sie spüren nicht, wie die Klinge in das Fleisch ihres Opfers eindringt. Sie töten für ihr Vaterland und werden als Helden gefeiert.“
„Sprich weiter“, bat er erneut.
„Zwei Tage vor meiner Abreise haben die Girondisten in Caen zum Kampf aufgerufen. Siebzehn Freiwillige gab es. Nur siebzehn. Was wollten sie denn ausrichten? Ich sagte zu Barbaroux, wenn ich ein Mann wäre, dann … . Aber er lachte mich nur aus und sagte: Davon verstehen Sie nichts, Bürgerin. Und dann stand mein Entschluss fest. Ich musste nach Paris, um ihnen zu helfen. Wissen Sie vielleicht, was aus den Siebzehn geworden ist? Sind sie in Paris angekommen?“
Unbeweglich hörte Hauer ihr zu. Jetzt verstand er, was sie nicht recht verstand. Er dachte an den Augenblick der Verhandlung, als Charlotte wankte und schwach wurde, als man sie „Mörderin“ nannte. Alles hatte sie zugegeben, auch keinen Zweifel an ihrer Absicht zu töten gelassen und nichts bereut. Sie war davon überzeugt, richtig gehandelt und so ihrem Vaterland gedient, mit ihrer Tat viele unschuldige Köpfe gerettet zu haben. Aber sie nannten Charlotte eine Mörderin. „Ich bin keine Mörderin“, hatte sie leise gesagt. „Ich bin eine Soldatin meines Landes und habe auch so gehandelt. „Sie“ haben unseren König und viele meiner Landsleute geköpft. Ich will, dass das Töten ein Ende hat.“
Sie saß vor ihm und erzählte mit der Stimme eines Kindes von ihrer Jugend in Caen, der Zeit im Kloster und über ihre Schwester. Sie lachte und freute sich, wenn sie über ihre Streiche berichtete. Wie besessen malte er. Doch nur eines blieb ihm im Ohr: „Wäre ich ein Mann, hätte ich gelernt, wie man richtig tötet ...“.
Hauer war noch nicht fertig, als er feste eilige Schritte hörte. O nein, bitte noch nicht. Aber da ging bereits die Tür auf.
„Schon?“, fragte sie und senkte ihre Lider. Monsieur Sanson war kein Schlächter. Er war ein Herr. Zu den Hinrichtungen ging er immer gut gekleidet. Er hatte die würdige Art eines Arztes. In seiner Begleitung befand sich der junge Sanson, der unter seiner Anleitung den Beruf seines Vaters erlernte. Seit Generationen waren die Sansons Scharfrichter.
„Ich bin es nur“, sagte Monsieur Sanson förmlich und schritt, als wenn er bei einer Patientin eine Visite machte, auf Charlotte zu. „Mademoiselle, wir müssen Ihre Frisur etwas ändern. Sie verstehen?“ Er griff zur Schere, während sie selbst die Haube abnahm und ihr Haar löste. Doch dann passierte etwas, was Monsieur Sanson noch nie passiert war. Charlotte entriss ihm die Schere, seine einzige Waffe, die er bei diesem ersten Treffen trug. In Anbetracht seiner mangelnden Wachsamkeit war er starr vor Schreck. Doch dann geschah nichts weiter, als dass sie sich eine Locke abschnitt, die Schere in Sansons zitternden Händen legte und die Locke an Hauer überreichte: „Vergessen Sie mich nicht.“
Nein, wie sollte er sie vergessen. Diese junge Frau, von der er mehr in den letzten Stunden erfahren hatte, als je von einem anderen Menschen, deren Bild noch feucht sein würde, wenn sie schon nicht mehr war.
Das kurze Haar stand im Nacken weit von ihrem Kopf ab. Sanson hatte es mit ein paar schnellen Schnitten abgetrennt. „Damit der Schnitt sauber wird und Sie nicht leiden müssen“, hatte er gesagt. Sie griff nach ihrer Haube, setzte sie ohne jeden Umstand auf den entblößten Kopf, als mache sie sich zum Ausgehen fertig.
Hauer hatte sich durch die Menschenmassen gewühlt, unter seinem Arm noch das feuchte Bild von Charlotte. Er sah nur ihr Lächeln erinnerte sich ihrer Worte: „Wäre ich ein Mann, hätte ich gelernt, wie man richtig tötet ... – dann wäre ich jetzt ein Held“.
Er hatte vergessen sie zu fragen: „Warum haben Sie gerade Marat getötet? Warum gerade ihn? Hatten Sie es geplant oder sich erst in dem Augenblick entschlossen, ihn zu töten, als sie ihn vor sich sahen?“
Sie hätte es ihm bestimmt gesagt, so wie sie alle seine Fragen beantwortet hatte, doch nun war es zu spät und er würde es nie erfahren.
(Mord der Charlotte Corday an Jean Paul Marat am 13. Juli 1793 und der Mord der Franzosen an Charlotte Corday am 17. Juli 1793)
*12. Juli 1793
**13. Juli 1793
Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 09.04 Uhr Dieser Text enthält 26062 Zeichen.