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Oktober 2003
Stumme Schreie
von Thorsten Pache


Richard setzte sich vor das Lenkrad seines Audis und lehnte sich nach hinten in den Sitz aus feinstem Nappaleder, wĂ€hrend seine Hand zum ZĂŒndschloss wanderte. Ein zufriedenes LĂ€cheln schlich ĂŒber sein Gesicht, als er das Schnurren des Motors hörte. Er warf sein schwarzes Sakko auf den leeren Beifahrersitz und trat auf das Gaspedal. Bis eben war er auf einer dieser Schickimicki Partys gewesen. Bis spĂ€t in den Abend hat ihn seine Agentin festgehalten. Die Leute wollen dem KĂŒnstler in die Augen sehen, predigte sie immer, wenn er sich vor solchen AnlĂ€ssen drĂŒcken wollte.

Unaufhörlich wechselten sich Regen und Hagel ab und prasselten in einem monotonen Rhythmus auf die Windschutzscheibe. Es war schon spĂ€te Nacht und Richard hatte die lange Heimreise ĂŒber die zahlreichen Landstassen und Dörfer unterschĂ€tzt.

Irgendwann zwischen seinem dritten und vierten Lebensjahr hatte der jetzt weltbekannte Maler einen Filzstift in die HĂ€nde bekommen und die Tapeten des Wohnzimmers mit seinen Kunstwerken bekritzelt. Seinerzeit schon war ihm klar, dass er sein Leben der Kunst widmen wĂŒrde, einer brotlosen Arbeit, wie er schnell herausfinden sollte, als er auf eigenen FĂŒĂŸen stand und kaum das Geld fĂŒr die Miete aufbringen konnte. Zumindest bis er eines Tages das richtige Bild in der richtigen Ausstellung hĂ€ngen hatte. Eine berĂŒhmte KĂŒnstleragentin war auf ihn aufmerksam geworden und hatte sich kurzerhand dazu entschieden, ihn groß raus zubringen. Damals ging alles Schlag auf Schlag. Aus seiner kleinen Zweizimmerwohnung wurde ein Penthaus – aus seinem alten Golf ein Audi TT. Eigentlich war ihm das Geld nie wirklich wichtig gewesen, aber etwas Luxus war auch nicht verkehrt.

Das andauernde Hin und Her des Scheibenwischers und der fehlende Schlaf ließen seine Augenlieder schwerer werden. Er war im Begriff einzunicken, als er den Schrei hörte, den er niemals wieder vergessen wĂŒrde. Augenblicklich schreckte er aus seinem Sekundenschlaf, griff verwirrt in das Lenkrad und versuchte den Wagen auf der Straße zu halten. Als er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, blickte er nach beiden Seiten aus dem Wagen, um den Ursprung des Hilferufes zu ermitteln. Es war nichts Außergewöhnliches zu sehen. Nur die karge Landschaft, zur Rechten ein kleines WĂ€ldchen. Im RĂŒckspiegel erkannte er ein altes Anwesen, das langsam in der Dunkelheit verschwand.

Er fuhr mit einer Hand durch sein schulterlanges Haar und drehte das Radio leiser, in dem gerade eine alte Schnulze gespielt wurde. Er fragte sich, ob er den Schrei wirklich gehört hatte oder, ob es nur ein Streich gewesen war, dem ihm sein Unterbewusstsein gespielt hatte, um ihn am Einschlafen zu hindern. Er ließ das Fenster zur HĂ€lfte runter und genoss den kĂŒhlen Fahrtwind, als er unweit der Straße einen Wagen ausmachte. Jemand hatte einen dunkelroten Jeep vor einen Baumstumpf gesetzt. Richard ging vom Gas und lenkte den Audi an den Straßenrand – ein oder zwei Meter von dem Unfallwagen entfernt. Er zog sich sein schwarzes Sakko ĂŒber und stieg aus dem Wagen.

Es schien keine große Sache zu sein. Lediglich der Frontspoiler war etwas eingedrĂŒckt und ein Scheinwerfer zu Bruch gegangen. Er wischte mit dem Ärmel den Regen von der Scheibe des GelĂ€ndewagens und lugte ins Innere. Es war nicht viel zu erkennen. Nur die ungefĂ€hren Umrisse einer Person. Jemand saß auf dem Fahrersitz, den Kopf auf das Lenkrad gelegt. Richard klopfte gegen das Glas und wartete einen Augenblick. Nichts. Erst, als er die TĂŒr öffnete gab der Mann etwas von sich. Eine Kopfwunde hatte sein weißes Haar rot gefĂ€rbt. Richard sah geschockt auf den schwer Verletzten. “Sie mĂŒssen zurĂŒckgebracht werden”, röchelte der Sterbende und griff nach seinem Arm.

“Was?”, fragte Richard und wusste im selben Augenblick, dass er keine Antwort mehr bekommen wĂŒrde, als der Mann seine Augen nicht mehr zu schließen vermochte. Der junge KĂŒnstler spĂŒrte seinen Magen rebellieren, löste hektisch den starren Griff des Toten um sein Handgelenk und lief ins GestrĂŒpp, um sich zu ĂŒbergeben.

An seinem Wagen angekommen, griff Richard nach dem Handy und lehnte sich gegen die offene FahrertĂŒr. “Netzsuche” blinkte es auf dem Display. Er atmete tief die frische Luft in seine Lunge und kĂ€mpfte gegen die andauernde Übelkeit an, als ihm das alte GemĂ€uer in den Sinn kam. “Vielleicht ist dort jemand zuhause”, dachte er und machte sich auf den Weg. Wie bizarr geformte Kunstwerke sĂ€umten kahle, knorrige BĂ€ume den Weg bis hin zu dem drei Stockwerk hohen GebĂ€ude. Mit einem quietschenden GerĂ€usch öffnete Richard das filigran gearbeitete Tor zum Vorgarten. Eine kleine HolzhĂŒtte, neben die ein Holzschild in den Boden geschlagen worden war stand am sauber gepflasterten Weg. “Vorsicht! Wachhund!”, stand darauf geschrieben. Um der Warnung folge zu leisten versuchte er, kein GerĂ€usch von sich zu geben, als er auf den glatten Steinen ins Schlittern kam und auf seinen Unterarm stĂŒrzte. Leises Knurren kĂŒndigte den Dobermann an, der aus der HundehĂŒtte geprescht kam, seinen Blick auf den KĂŒnstler fixiert. Richard rollte sich zur Seite, stĂŒtzte sich auf seinen unversehrten Arm und sprang auf. Erst als Richard das leise Wimmern des Tieres hörte, fiel ihm auf, dass er sich nicht in Gefahr befunden hatte.

“Du armes Ding”, flĂŒsterte er und beugte sich nach unten – immer noch mit sicherem Abstand zu dem Hund, der ein lahmes Bein hinter sich herzog und eine Wunde an der Seite aufwies. Es war offensichtlich, dass das arme Tier erst vor kurzem misshandelt worden war. Er begutachtete die SchĂŒrfwunde an seinem Ellbogen, als die EingangstĂŒr aufgestoßen wurde. Ein beleibter Mann hielt eine Zigarre und ein Feuerzeug in den HĂ€nden.

“Wer sind sie?”, rief er völlig ĂŒberrascht, als er den Eindringling erblickte. “Und was wollen sie auf meinem GrundstĂŒck?” Er griff nach einem Rechen, der an die Wand gelehnt stand und hob ihn drohend in die Luft.

“Beruhigen sie sich”, rief Richard. “Es hat einen Unfall gegeben. Jemand ist ums Leben gekommen”, versuchte Richard zu erklĂ€ren.

Der Dicke sah ihn misstrauisch, aus zusammengekniffenen Augen an.

“Ein Unfall?”

“Nur ein paar hundert Meter die Straße runter. Wenn sie ein Telefon besitzen, wĂŒrde ich gerne die Polizei informieren.”

“Also gut. Kommen sie rein”, grummelte der alte Mann, dessen kahler Kopf nur an den Seiten von kurzem, grauen Haar bedeckt war. Auf seiner argwöhnisch gerunzelten Stirn klebte ein breites Pflaster und ein viel zu enges, schmutziges Unterhemd vermochte die Massen seines Bauches nicht zu verbergen.

Richard nickte und stellte sich unter die Überdachung des Eingangs.

“Ich wollte nicht unfreundlich sein”, entschuldigte sich der Alte, wĂ€hrend er Richard durch die große Eingangshalle in das Wohnzimmer des Hauses fĂŒhrte. “Das hier sind meine Frau Hilda und unsere Tochter”, stellte er seine Familie vor.

Noch bevor der junge KĂŒnstler ein Wort sagen konnte, rief die Mutter besorgt: “Guter Mann, sie sind ja völlig durchnĂ€sst.” WĂ€hrend sie damit beschĂ€ftigt war, ihm das Sakko abzunehmen, wanderte Richards Blick zu der hĂŒbschen, jungen Dame, die schĂŒchtern da stand und kein Wort von sich gab. Verlegen blinzelte sie TrĂ€nen aus ihren Augen.

“Das ist unsere Tochter, Jessica”, erklĂ€rte die ebenfalls reichlich opulente Dame des Hauses und fĂŒgte dann hinzu: “Seien sie nicht böse, wenn sie nicht viel spricht. Sie ist stumm”, erklĂ€rte sie und griff nach der Hand ihrer Tochter. “Mach dich mal nĂŒtzlich, MĂ€dchen. Unser Gast hĂ€tte bestimmt gern eine Tasse Tee.”

Richard lehnte dankend ab. “Ich möchte wirklich keine UmstĂ€nde bereiten.”

“Das sind keine UmstĂ€nde. Wir haben nicht oft Besuch hier draußen und freuen uns ĂŒber etwas Gesellschaft”, gab sie zurĂŒck und schloss die Wohnzimmer hinter sich. Eine wirklich seltsame Familie, dachte der junge KĂŒnstler und vertrat sich in dem großen Zimmer die Beine. Die ungewöhnlich hohe Flamme in dem Kamin verbreitete eine wohlige WĂ€rme. Auf dem Sims stand eine Reihe von Bildern. Photos, die scheinbar Jessica als junges Kind zeigten und ein PĂ€rchen. Einen Mann mit Vollbart und eine schwarzhaarige Frau. Vermutlich ihre Eltern, dachte Richard. Die Aufregung der letzten Ereignisse ließen ihn diesen Augenblick der Stille genießen. Nur das leise Knistern des Kaminfeuers und der Regen, der gegen das Fenster prasselte waren zu hören. Er nahm eines der aktuelleren Bilder vom Sims. Wo Jessica als Kind fröhlich lachend zu sehen war, schien sie auf diesem sehr unglĂŒcklich, fast verzweifelt zu sein. Sie musste zu jener Zeit schon fast erwachsen gewesen sein und stand an der Seite ihrer Großmutter. Er drehte das Bild auf die Seite und sah einen Zeitungsausschnitt, der zusammengefaltet in den Rahmen gesteckt worden war. Alles, was er lesen konnte waren die Worte: “Ein schrecklicher Autounfall.” Erschrocken fuhr er herum, als er eine Hand auf der Schulter spĂŒrte und sah in die geheimnisvollen, braunen Augen der jungen Frau, dessen Bild er immer noch in der Hand hielt.

Jessicas langes, pechschwarzes Haar umrahmten ihre hohen Wangen und ihre Stupsnase ließen den jungen KĂŒnstler unweigerlich an eine Porzellanpuppe denken, die der fĂ€higste KĂŒnstler nicht schöner hĂ€tte formen können. Die junge Frau hielt ein silbernes Tablett in der Hand, auf dem ein wertvolles Service und ein kleines SchĂ€lchen mit Kandiszucker gestellt worden waren. Sie stellte das Tablett auf den marmornen Tisch und sah Richard tief in die Augen. Ihr Blick so traurig und doch voller Leben. Wie ein schĂŒchternes Reh stand sie da und wartete auf das, was ihr Unbekannt war. TrĂ€nen kullerten ihr ĂŒber die Wange, als sie das Bild in der Hand des KĂŒnstlers erblickte. Sie schluchzte leise und ihr Kinn bebte, als sie mit den Finger ĂŒber das Glas fuhr.

Richard strich ihr die TrĂ€nen aus dem Gesicht. “Ich weiß nicht, was dich bedrĂŒckt. Aber bin mir sicher, es wird alles wieder gut”, versuchte er sie zu trösten, auch wenn er nicht den Grund fĂŒr ihren Kummer kannte. Sie stellte das Bild zurĂŒck und zeichnete mit ihren HĂ€nden schnell aufeinander folgende Figuren in die Luft.

“Ich verstehe keine GebĂ€rdensprache”, sagte Richard entschuldigend und hielt ihre zitternden, zierlichen HĂ€nde fest, die soviel auf einmal zu sagen hatten.

“Bitte etwas langsamer. Vielleicht verstehe ich dann.”

Sie nickte und nahm ihre HĂ€nde aus den seinen. Sie ahmte die Bewegung einer Person nach, die an einem Lenkrad sitzt.

“Ein Auto?”

Sie nickte und versuchte dann einen Unfall anzudeuten.

“Du meinst ihr hattet einen Autounfall?”

Ein KopfschĂŒtteln.

“Waren Leute hier, die einen Unfall hatten?”

Sie nickte und ein LĂ€cheln huschte ĂŒber ihr Gesicht. Dann ahmte sie den gebĂŒckten Gang ihres Vaters nach, was schon etwas amĂŒsant aussah.

“Dein Vater?”, lachte er.

Sie schĂŒttelte erst empört den Kopf, zögerte kurz und nickte dann.

“Er kĂŒmmert sich um alles, hat er mir versichert. Aber wenn du möchtest, frage ich ihn, ob ich ihm helfen kann.”

Bevor sie auf irgendeine Art antworten konnte schwang die TĂŒr zum Wohnzimmer auf.

“Verdammt du solltest doch auf uns warten”, donnerte die tiefe Stimme ihres Vaters, als er Jessica sah. Die junge Frau stand mit dem RĂŒcken zu ihm und zuckte vor Schreck zusammen. Sie wich unwillkĂŒrlich ein, zwei Schritte vor ihrem Vater zurĂŒck, der in der TĂŒr stand und sie mit einem Blick ansah, der Richard einen Schauer ĂŒber den RĂŒcken jagte. Die junge Frau stolperte ĂŒber die Kante des Tisches und wĂ€re wohl hart auf die marmorne Platte gestoßen, wenn Richard nicht zur Stellte gewesen wĂ€re, um sie aufzufangen.

“Es ist ja nichts passiert”, versuchte Richard den Dicken zu beruhigen, der mit großen Schritten auf die junge Frau zustampfte. Der junge KĂŒnstler half Jessica wieder auf die Beine und schob sich zwischen den wĂŒtenden Mann und seine Tochter. Er sah, wie die Augenlieder des Mannes vor Aufregung zuckten. “Bitte, es lag wirklich nicht in meinem Sinn einen Familienstreit zu entfachen”, sagte er und wunderte sich ĂŒber den unangemessen heftigen GemĂŒtsausbruch des Familienoberhauptes, dessen Augen den jungen KĂŒnstler mit durchdringenden, fast irrsinnigen Blicken musterten.

“Ja, sie haben wohl Recht”, gab er zurĂŒck. Von einer Sekunde auf die nĂ€chste, hatte sich sein Gesichtsausdruck wieder normalisiert und nur noch ein gezwungenes LĂ€cheln lag auf seinem Gesicht. ”Aber diese verdammten Kinder können einen auch wirklich zur Weißglut treiben.”

Jessica begann zu weinen und rannte an ihrem Vater vorbei aus dem Wohnzimmer.

“Hilda bringt ihnen gleich etwas AnstĂ€ndiges zum Abendbrot”, sagte er mit einem breiten Grinsen auf seinem runden Gesicht. Bevor Richard etwas erwidern konnte, stand seine Gattin auch schon in der TĂŒr, einen reich gefĂŒllten Teller in den HĂ€nden.

”Ah, das riecht ja wunderbar. Wenn ich nicht schon den Bauch voll hĂ€tte, wĂŒrde ich ihnen Gesellschaft leisten.” Er winkte seiner Frau zu und schob den Sessel zur Seite, um ihr Platz zu schaffen.

“Ich will ihnen wirklich keine UmstĂ€nde bereiten.”

“Wir haben heute Nachmittag frisch geschlachtet. Es ist noch mehr als genug davon da, schlagen sie nur zu. Wir können sehr beleidigt sein, wenn man unsere Gastfreundlichkeit nicht zu schĂ€tzen weiß.”

Ihr Mann nickte zustimmend und stemmte die geballten FĂ€uste in seine HĂŒften. “Genießen sie in aller Ruhe das Essen meiner Frau”, sagte er und schloss die WohnzimmertĂŒr hinter sich.

Eigentlich hatte Richard in der Tat großen Appetit und bei dem Anblick des saftigen Steaks, das vor ihm auf dem Teller dampfte, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er griff nach Messer und Gabel und schnitt sich ein großes StĂŒck mundgerecht zurecht, als er leise Schritte hörte. Jessica stand an seiner Seite und hatte ihr sonst so bezauberndes Gesicht zu einer Grimasse verzerrt und sah angewidert auf den Teller. Sie griff nach Richards Essen und warf es samt Teller in den Kamin.

Der junge Mann sah fassungslos in das Feuer, wo sein Mahl verbrannte.

“Was hat das denn jetzt zu bedeuten?”, fragte er. “War das Steak vielleicht schlecht gewĂŒrzt?”

Die junge Frau zog einen Schmollmund und schĂŒttelte den Kopf.

“Also nicht? Warum darf ich dann nichts essen?”

Sie zuckte mit den Schultern.

“Komm setz dich zu mir.”

Zögernd nahm sie neben ihm auf dem Kanapee platz. Richard fĂŒhlte, wie sie am ganzen Leib zitterte.

“Ich weiß wirklich nicht, was hier vor geht”, begann der junge Mann, als Jessica mit ihrem Zeigefinger einen Stift nachahmte und auf einem unsichtbaren Zettel zu schreiben begann.

“Du möchtest etwas zum Schreiben?”, fragte Richard und zog sein Handy vom GĂŒrtel. ”Kannst du damit umgehen?”

Sie zog eine Augenbraue hoch und sah ihn vorwurfsvoll an.

“Oh, tut mir leid. Aber mit den Dingern kann man auch Schreiben. Hier probier es einfach.”

Jessica nahm das Handy, sah erst etwas skeptisch auf die Tastatur, kam dann aber schnell damit zurecht. Buchstabe fĂŒr Buchstabe kam Richard der Wahrheit nĂ€her, als ein entfernter TĂŒrschlag die junge Frau aufschrecken ließ. Sie ließ das Handy fallen, sprang auf und versteckte sich hinter der WohnzimmertĂŒr, die im gleichen Augenblick aufgestoßen wurde.

“Und? Hat es Ihnen geschmeckt?”, fragte die Dame des Hauses.

“VorzĂŒglich.”

“Gut. Die Polizei hat den Unfallwagen schon fortgeschafft. Sie können jetzt beruhigt nach Hause fahren.”

Richard nickte und steckte sein Handy wieder weg. Als er das Wohnzimmer verließ, sah er in die verĂ€ngstigen Augen des MĂ€dchens, das nur die wenigen Zentimeter Holz von ihrer Mutter trennten.

Minuten spĂ€ter saß Richard wieder an dem Lenkrad seines Wagens und schaltete das Radio ein. Er zog das Handy aus seiner Brusttasche und klappte es auf. WĂ€hrend er den Ton lauter drehte, las er Jessicas Nachricht. Es war nur ein einziges Wort, das auf dem Display stand: “Hilfe!”

“Am gestrigen Abend haben sich zwei HĂ€ftlinge aus der Strafanstalt fĂŒr psychisch kranke Schwerverbrecher befreit. Ein Mann und eine Frau, beide mittleren Alters. Sie waren wegen Kannibalismus inhaftiert worden und sind extrem gefĂ€hrlich. WĂ€hrend ihrer Flucht haben sie einen WĂ€rter als Geisel genommen, der immer noch als vermisst gilt. Falls sie Hinweise auf den Aufenthalt einer der HĂ€ftlinge haben...”, ertönten die Nachrichten aus dem Radio. Die Reifen des Wagens quietschten, als Richard auf das Gas trat und wendete. “Verdammt”, schimpfte er laut und wĂ€re beinahe von der Straße abgekommen. Plötzlich wurde ihm alles klar. Der GelĂ€ndewagen mit dem toten WĂ€rter. Die stummen Hilfeschreie des MĂ€dchens und der verletzte Hund. Wenn Jessica wegen seiner Stumpfsinnigkeit den Tod finden wĂŒrde, könnte er sich das niemals verzeihen. Ohne zu ĂŒberlegen trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch.




Richard drĂŒckte die TĂŒrklinke nach unten und stemmte sich gegen die schwere EingangstĂŒr. Erleichtert stellte er fest, dass sie nicht verriegelt war. Das Licht im Flur brannte noch, aber niemand war zu sehen. Plötzlich hielt er inne. Er hatte etwas gehört. Ein leises Wimmern. Es schien aus der KĂŒche zu kommen.

Jessica saß regungslos auf einem Holzstuhl und war mit einem Seil an die Lehne gefesselt. Richards Herz schlug ihm bis in den Hals, als er nach dem Handgelenk des MĂ€dchens fasste. Mit zitternden Fingern tastete er nach ihrem Puls.

“Es war keine gute Idee, zurĂŒckzukommen!”, hörte er die tiefe Stimme des vermeintlichen Familienvaters. Noch bevor er reagieren konnte, spĂŒrte er einen heftigen Schlag in der Seite und wurde zu Boden geschleudert. Ein stechender Schmerz pochte in seiner Schulter, wĂ€hrend sein Blick zu verschwimmen begann.

“Er wollte dich wohl befreien Kleines”, schrie Franz das ohnmĂ€chtige MĂ€dchen an und lachte böse, wĂ€hrend er ihre Fesseln zu lösen begann. “Ich dachte wirklich, wir hĂ€tten ihn davon ĂŒberzeugt, dass wir eine glĂŒckliche, kleine Familie sind.”

Richard schwankte und hatte sichtbar gegen die drohende Ohnmacht anzukÀmpfen.

“Jetzt werden wir drei spielen gehen, meine Kleine. Hilda ist schon ganz ungeduldig”, hörte er den entflohenen Irren sagen, wĂ€hrend er versuchte aufzustehen. Er stĂŒtzte sich auf seinen unverletzten Arm und rief: “Lass sie in Ruhe, du irrer Schwachkopf!”

Franz wand sich zu ihm und grinste unheimlich ĂŒber seine speckigen Wangen. “Sonst was? Willst du dich vielleicht mit mir anlegen?”

“Du wirst schon sehen Fettbacke.”

Vor Wut prustend ließ er von Jessica ab und kam auf Richard zugestampft. Er zog ein Schlachtermesser aus dem Holzblock, der auf dem KĂŒchentisch stand, holte weit aus und schlug zu. Nur um Haaresbreite entging Richard der tödlichen Waffe, rollte sich zur Seite und trat dem Dicken vor die Kniescheibe. Franz begann zu torkeln und ein weiterer Tritt in die Beine brachte ihn zu Fall.

Richard wand seinen Blick ab, als er das Blut sah, das sich unter dem Leib des Geisteskranken ausbreitete. Er war in sein eigenes Messer gefallen und seinen leblosen Augen nach zu urteilen war ihm sicher nicht mehr zu Helfen. Richard verzog sein Gesicht vor Schmerzen, wĂ€hrend er sich an dem KĂŒchenschrank nach oben zog. Als er sich vor Jessica kniete und sich daran machte, ihre Fesseln zu lösen, sah er ihren ĂŒberraschten Blick und nichts hĂ€tte ihn in diesem Augenblick glĂŒcklicher machen können, als der Glanz in ihren Augen und ihr erleichtertes LĂ€cheln.

“Franzi, wo bleibt ihr denn?”, rief Hilda. Ihr heiterer Gesichtsausdruck verfinsterte sich augenblicklich, als sie ihren Mann in der Blutlache liegend sah. Ihr hasserfĂŒllter Blick richtete sich auf Richard, der sich schĂŒtzend vor Jessica aufbaute.

“Es war ein Unfall”, versuchte er zu erklĂ€rten, als Hilda nach zwei, drei großen Schritten vor ihm stand und ihre HĂ€nde um seinen Hals legte. Die enorme, fast ĂŒbermenschliche Kraft der Irren hatte ihn vollkommen ĂŒberrumpelt. Seine Kehle zugedrĂŒckt, versuchte er verzweifelt nach Luft zu schnappen und sich aus seiner misslichen Lage zu befreien. Er hatte schon mit seinem Leben abgeschlossen, als ein KĂŒchenstuhl den Kopf der Frau traf und Splitter des zerbrochenen Holzes die Luft durchschnitten. Jessica hatte sich aus ihren Fesseln befreit und stand mit den Überresten des Stuhls in ihren HĂ€nden vor der VerrĂŒckten, die nach der großen Platzwunde an ihrem Kopf tastete und ins Wanken geriet. Sie blickte starr auf einen Punkt fern dieser Welt und lachte lauthals, kurz bevor sie zu Boden stĂŒrzte – direkt neben den Leichnam ihres mörderischen Ehegatten.

Jessica sagte etwas in der Sprache der Gehörlosen, fiel dem jungen KĂŒnstler um den Hals und schmiegte sich fest an ihn. Er legte seinen gesunden Arm um ihre Schulter. “Ja, Jessica. Ich bin auch froh, dass es vorbei ist. Niemand wird dir mehr etwas antun, das verspreche ich dir.”

Im nĂ€chsten Ort informierte er die Polizei und konnte erst in den frĂŒhen Morgenstunden den Weg nach Hause fortsetzen – mit einer hĂŒbschen Begleiterin auf dem Beifahrersitz.



Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 09.19 Uhr
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