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Oktober 2003
Der letzte Zug
von Ines Haberkorn


Der Hinterhof des Figurentheaters war ein dĂŒsterer Ort, verwinkelt und schmutzig, auf makabre Weise die passende BĂŒhne fĂŒr einen Mord.
Kommissar Resch richtete sich aus der Hocke auf und trat ein paar Schritte von der Leiche zurĂŒck. Bei dem Toten handelte es sich um einen Mann Ende Dreißig, bekleidet mit Jeans, Sweatshirt, und Turnschuhen, keine teuren Marken. Da weder Armbanduhr noch Brieftasche fehlten, schloss sich ein Raubmord aus. DafĂŒr passte er haargenau in die Serie, die in zwei Monaten bereits drei Leben gefordert hatte. Jedesmal wĂŒrgte der TĂ€ter sein Opfer, schlitzte ihm anschließend die Halsschlagadern mit einem Rasiermesser auf und legte das dann dem Opfer in die Hand. Bis auf die WĂŒrgemale stimmte auch in diesem Fall alles. Sogar der obligatorische Brief klemmte unter dem Pullover des Ermordeten.

“Fast gerĂ€uschlos gleitet der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig ist leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er zĂŒndet sich eine Zigarette an und starrt dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter kleiner und kleiner werden. - Was, in drei Teufels Namen, meint er nur damit? Was will er uns sagen? Will er ĂŒberhaupt etwas damit sagen oder verarscht uns dieses Monster nur?” Mit einer Geste, die sich zwischen Wut und Verzweiflung bewegte, knĂŒllte Resch den Zettel zusammen und schleudert ihn auf den Schreibtisch seiner Kollegin, Martina Wetzel.
Die Wetzel zuckte ein wenig erschrocken zusammen, fing das PapierknÀuel jedoch auf, entfaltete und glÀttete es wieder. Sie kam frisch von der Schule, war Resch erst mit Beginn der Mordserie zugeteilt worden und dementsprechend verkrampft im Umgang mit dem Àlteren Kollegen.
“Er spricht von einer Bahnhofshalle, einem Bahnsteig, dem Nachtzug. Ich denke, er gibt uns damit einen Hinweis auf den nĂ€chsten Tatort. So eindeutig wie in diesem Fall waren seine Worte bisher noch nie.”
“Eben weil sie in diesem Fall so eindeutig sind, viel zu eindeutig. Das passt nicht”, blaffte Resch und streifte die Wetzel mit einem kĂŒhlen Blick. Sie passte ebenso wenig, vor allem nicht an seine Seite. Er hatte um einen Partner gebeten, nicht um einen neunmalklugen, weiblichen Frischling.
Resch stopfte die HĂ€nde in die Hosentaschen und begann auf und ab zu tigern. “Fast gerĂ€uschlos gleitet der Zug. Der Bahnsteig ist leer. Er starrt dem Zug nach, dem letzten Zug, dem Nachtzug. Es ist also dunkel, dazu leer und still.”
Ein verlassener Bahnhof zuckte es ihm durch den Sinn, doch seine Intuition schĂŒttelte energisch den Kopf. In keinem der drei anderen Briefe hatte er etwas so deutlich benannt. Wenn ĂŒberhaupt, dann hatten sie erst im Nachhinein versteckte Hinweise auf die jeweiligen Tatorte in seinen Worten erkannt oder auch nur hinein interpretiert.
“Im Grunde fĂŒr einen Bahnhof zu dunkel, zu leer und zu still”, platzte die Wetzel in seine Überlegungen. Mit schief gehaltenem Kopf betrachtete sie die Prosazeilen. “Jedenfalls empfinde ich Bahnhöfe lebendiger, heller und lauter. Obwohl abends ...” Sie atmete plötzlich tief und gerĂ€uschvoll ein. “Ist Ihnen ĂŒberhaupt schon aufgefallen, dass er diesmal eine Person direkt in Erscheinung treten lĂ€sst? Den Mann mit der Zigarette?”
Resch brummte ein kaum verstĂ€ndliches: “Hmm.”
“Wenn nicht den Tatort, vielleicht will er uns das nĂ€chste Opfer andeuten? Jemanden, der etwas mit Bahnhöfen oder ZĂŒgen zu tun hat: LokfĂŒhrer, Schaffner, FahrkartenverkĂ€ufer oder eine Person aus dem Umfeld, dem Bahnhofsmilieu, vielleicht ...”
Mit einer schroffen Geste unterbrach Resch den Redefluss seiner Kollegin. Dann beugte er sich ĂŒber ihren Schreibtisch, wobei er sich mit beiden HĂ€nden darauf abstemmte. “Ich glaube nicht, dass er von Bahnhöfen oder Leuten auf Bahnhöfen spricht. Es passt nicht. Es passt einfach nicht. Begreifen Sie das?”
Still senkte Martina Wetzel den Blick auf den vor ihr liegenden Zettel, wĂ€hrend Resch sich aufrichtete. Na, bitte, dachte er, es ging doch. Man musste eben nur hin und wieder das Revier abstecken. Und das Morddezernat war sein Revier, ebenso wie dieses BĂŒro mit seinen fleckigen Möbeln, den staubigen Jalousien und dem Rauchen-macht-schlank-Poster an der Wand, das noch von seinem letzten Partner stammte.
Sein Blick blieb an dem Poster haften. Der Anblick des TotenschĂ€dels mit der Zigarette zwischen den ZĂ€hnen setzte ganz unerwartet etwas in ihm in Bewegung. Rauchen war zweifellos ungesund, das Skelett ein Sinnbild dafĂŒr. Ein Bild! Der Mann mit der Zigarette auf dem Bahnsteig, konnte das nicht auch ein Bild sein? Ein Sinnbild? Wenn ja, dann wofĂŒr?
Hatte die Wetzel nicht eben davon gesprochen, dass Bahnhöfe fĂŒr sie Orte voller Leben waren, hell erleuchtet und laut? Der Bahnsteig des Mannes hĂŒllte sich in Finsternis. Dazu war es still und leer um ihn herum.
“Einsamkeit”, stieß Resch hervor und klatschte sich mit der Hand auf den Schenkel. “Genau, Bahnhöfe sind Knotenpunkte, voller Menschen, voller Leben, aber sein Bahnhof ist finster, still und leer. Obwohl der Mann mitten darin ist, gehört er nicht dazu. Dieser Bahnhof ist ein Sinnbild fĂŒr seine Einsamkeit.”
Sein Blick traf auf den der Wetzel, die seinen Ausbruch schweigend verfolgte.
“Und warum ist er an einem Ort voller Leben abgekapselt, isoliert und einsam?”
Martina Wetzel hob die Schultern und sog die Luft gerĂ€uschvoll ein. “Weil er ausgestoßen ist? Weil er von der Gesellschaft nicht akzeptiert wird?” Als Resch nichts dazu sagte, ließ sie die Schultern sinken. “Wenn Sie den Bahnhof als eine Art Synonym betrachten, dann könnte die Zigarette ebenfalls symbolhaft sein, deutet eventuell auf ein Suchtproblem hin. Möglicherweise will der Mörder uns sagen, dass sein nĂ€chstes Opfer ein SĂŒchtiger, jemand aus der Drogenszene ist.”
Resch erwiderte nichts. So wie seine Augen das Poster fixierten, als harrte er auf eine Antwort des frivol grinsenden TotenschÀdels, kreisten seine Gedanken lÀngst wieder um den Mann, dem das Bild eines verlassenen Bahnhofes möglicherweise als Umschreibung seiner Einsamkeit diente. Sofern das stimmte, was symbolisierte dann die Zigarette? Sucht? Mit diesem Gedanken konnte er sich anfreunden. Mit dem, das nÀchste Opfer stammte aus der Drogenszene, weniger. Die Wetzel fixierte ihre Deutungen viel zu hartnÀckig auf Tatort und Opfer.
Seine Blicke lösten sich von dem Poster und wanderten zum Fenster. Konnte es möglich sein, dass der einsame Mann mit der Zigarette der TĂ€ter selbst war? Einsam und sĂŒchtig, aber nicht nach Drogen, sondern abhĂ€ngig davon einen krankhaften Trieb zu befriedigen, zu töten, um den Rausch, den besonderen Kick zu erleben? Nur was stellte in diesem Zusammenhang der Zug dar? WofĂŒr stand er?
Resch hockte sich auf die Kante seines eigenen Schreibtischs, der dem von Martina Wetzel gegenĂŒber stand, und massierte sich die Stirn. Dabei konnte er es nicht vermeiden, dass seine Blicke wiederum von dem Poster eingefangen wurden. Sein frĂŒherer Partner hĂ€tte den Text sicher lĂ€ngst gedeutet. Er besaß fĂŒr solche Dinge eine besondere AffinitĂ€t. Einer seiner LieblingssĂ€tze klang ihm unvermittelt im Ohr. FĂŒr dich ist der Zug abgefahren, mein Freund, pflegte er bei einer Verhaftung immer zu sagen. Bis dann eines Tages sein Zug abgefahren war, leider viel zu frĂŒh und ohne, dass jemand etwas von seiner tödlichen Krankheit geahnt hĂ€tte. Auch fĂŒr die Mordopfer waren die ZĂŒge abgefahren. Sie konnten nicht einmal mehr den roten Lichtern hinterher starren, so wie der Mann auf dem Bahnsteig.
In dem Moment schnappte vor Reschs geistigem Auge eine Jalousie nach oben.
“Stopp!”, brĂŒllte er und sprang wie elektrisiert auf. “Die roten Lichter des Zuges, sie bedeuten Stopp wie eine rote Ampel. Er will aufgehalten, gestoppt werden.” Er grapschte nach dem Zettel. “Er schreibt: ‘...und starrt dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter kleiner und kleiner werden.’
Sein Zug ist abgefahren. Das heißt, es gibt kein zurĂŒck, keinen Ausweg mehr fĂŒr ihn. Wahrscheinlich fĂŒhlt er sich dem Trieb gnadenlos ausgeliefert. Doch er starrt auf die roten Lichter; er begreift, dass er gestoppt werden muss, ehe es noch schlimmer wird.”
“Und warum sagt er es dann nicht einfach, sondern traktiert uns mit seinen RĂ€tseln?”
“Keine RĂ€tsel. Bilder!” Resch kĂ€mmte sich mit den Fingern durchs Haar. “Womöglich denkt er nur in Bildern, kann diese jedoch nicht in Worte fassen. Deshalb ist es ihm unmöglich mit anderen normal zu kommunizieren. Von daher auch das GefĂŒhl einsam zu sein, abgeschnitten, ausgestoßen, wie auch immer.”
“Schön und gut, aber dieses Bild hilft uns nicht ihn zu stoppen. Es sei denn ...” Die Wetzel rĂ€usperte sich. “Es sei denn, es ist doch ein Hinweis auf den nĂ€chsten Tatort darin versteckt, der uns einen Vorsprung verschafft.”
”Wir brauchen keinen Vorsprung mehr”, entgegnete Resch, wĂ€hrend sein Blick mal wieder zu dem Poster wanderte. Der letzte Zug war abgefahren, fĂŒr immer. “Es ist vorĂŒber. Der TĂ€ter hat sich lĂ€ngst gestellt. Wir haben ihn nur mal wieder nicht verstanden.”

Er hatte alle drei Opfer erst gewĂŒrgt und ihnen danach die Kehle durchgeschnitten. Das hatte er auch bei sich getan, nur wĂŒrgen konnte er sich nicht, deshalb fehlten die Male, logischerweise. DafĂŒr stimmten die an den drei ersten Opfern sichergestellten DNA-Spuren des TĂ€ters mit seiner DNA ĂŒberein. Es gab keinen Zweifel mehr. Opfer Nummer vier war der TĂ€ter gewesen.
Vorsichtig löste Resch den letzten Klebestreifen von der Wand und rollte das Rauchen-macht-schlank-Poster zu einer Rolle zusammen, die er anschließend in der untersten Schreibtischlade versenkte. Dann setzte er sich und klappte die nĂ€chste Akte auf.
“Übrigens,”, sagte er dabei und bedachte die Wetzel mit einem flĂŒchtigen Blick. “ich heiße Udo.”

 Ines Haberkorn, Oktober 2003

Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 08.53 Uhr
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