Ganz schön bissig ...
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Oktober 2003
Eierlikör und Cocktailkirschen
von Katja Nathalie Obring


„Hol mir noch ein Bier.“
Eva-Maria sah von ihrem Buch auf. Das strähnige Haar fiel links und rechts an der dicken Brille vorbei, und mit dürrem Finger strich sie es hinter die Ohren. Dann legte sie das „Das Leben der heiligen Katharina von Siena“ bäuchlings auf das Sofakissen und stand auf, um in die Küche zu gehen. Beim Rausgehen hörte sie das Jingle, mit dem der Fernsehsender die Werbeunterbrechung ankündigte, dann, wie ihr Vater sich aus dem Sessel hievte und wie die leeren Flaschen, die daneben aufgereiht standen, klirrten. Zeit für eine Pinkelpause.
In der Küche saß die Mutter bei plärrendem Radio; irgendein Hörspiel unterhielt sie während sie leeren Gesichts aus dem Fenster starrte. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Glas Eierlikör mit Cocktailkirsche. Als das Gepolter und Gefluche aus dem Wohnzimmer den Pegel des Radios überschritt, sahen sich Mutter und Tochter an. Eva zuckte die Schultern.
„Schon wieder besoffen,“ sagte sie. Dann nahm sie das Bier aus dem Kühlschrank und ging zurück ins Wohnzimmer.

Nachdem die Sanitäter weg waren, begann Eva, das Wohnzimmer aufzuräumen. Ihre Mutter stand im Türrahmen und sah ihr dabei zu.
„Was hast du getan?“
„Nichts, Mama. Ich habe es dir doch gesagt; als ich ins Wohnzimmer zurückgekommen bin, lag der Papa hier auf dem Boden und war tot. Ich hab den Puls gefühlt, und da war nix. Dann hab ich am Herz gehorcht, aber da war auch nix. Also hab ich den Notarzt angerufen. Es war ein Unfall.“ Mit großen Augen sah sie die Mutter an, dieses bleiche Wrack. Sie hielt seit zwanzig Jahren den Mund, warum nicht auch jetzt? Als es an der Tür klingelte, zuckte die Mutter zusammen und blickte ängstlich auf den Schatten, der sich durch das Riffelglas abzeichnete. Eva schielte an ihr vorbei.
„Das ist der Pfarrer, Mutter, du brauchst keine Angst haben, jetzt wird alles gut.“

Nachdem der Pfarrer mit der Mutter in der Küche einen Tee getrunken hatte, kam er noch einmal zu Eva ins Wohnzimmer.
„Nun, Kind, wie geht es dir? Kann ich noch etwas für dich tun?“
„Ja, Herr Pfarrer. Ich möchte beichten.“
„Hat das nicht Zeit bis morgen nach der Messe? Du weißt doch, dass heute Abend Seniorenbingo ist. Ich habe übrigens Sabine gebeten für dich einzuspringen.“
Eva schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig, ich werde selbst kommen. Und ja, morgen beichten ist früh genug.“
„Aber du solltest heute wirklich nicht …“
Mit ungewohnter Autorität stand Eva plötzlich sehr dicht vor dem Pfarrer, dem daraufhin ein einzelner Schweißtropfen langsam die Wange herunter rollte. Sie sah ihm starr in die Augen, dann hob sie die Hand, wie um ihn aus dem Weg zu schieben. Aber das war gar nicht nötig, der Pfarrer war schon zwei Schritte zurück gewichen und sagte, den Türknauf in der Hand: „Wir sehen uns dann später.“

An diesem Abend war das Bingo schnell vorüber, und Eva ging nach Hause, wo sie sich ins Bett legte. Noch lange lag sie wach und starrte die Decke an, manchmal schielte sie zur Tür, die sich heute nacht nicht öffnen würde. Und morgen nicht, und danach auch nie wieder. Jedenfalls nicht von ihres Vaters Hand.
Als das Morgengrauen begann durch die Gardinen zu sickern, stand sie auf um sich zu duschen. In der Küche fand sie die Mutter, die bleich und übernächtigt aussah. Schweigend nahm sie eine Tasse Kaffe und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Die Mutter sah sie nicht an.
„Ich gehe gleich zur Polizei. Du brauchst heute mittag für mich nichts zu machen.“
Wortlos sah die Mutter auf die Uhr an der Wand, die sechs Uhr fünfzehn zeigte. „Abendessen?“
„Mach ich mir selbst.“
„Was ist mit deiner Arbeit?“
„Ich habe frei, wegen des Unglücksfalls.“
Nun sah die Mutter sie doch an, lange, zweifelnd. Schließlich zuckte sie die Schultern. „Wir sehen uns dann heute Abend.“

Auf der Polizeiwache wurde Eva sehr zuvorkommend behandelt. In dem kleinen Ort am Stadtrand kannte man einander, und das seit Jahren und Jahrzehnten. Alle hatten gewusst, dass Eva-Maria Kluge und ihre Mutter es alles andere als leicht gehabt hatten mit diesem immer besoffenen Choleriker, dessen Tod niemand bedauerte. So reichte der Kommissar denn Eva auch eine Tasse Kaffee, den schlechtesten, den Eva jemals getrunken hatte, und lächelte sie ununterbrochen wohlwollend an. Eva wurde schlecht, und sie erbrach sich in seinen Papierkorb. Ihre nicht enden wollende Entschuldigung konnte der Kommissar nur beenden, indem er sie nach Hause schickte und anbot, den Totenschein mittels Boten überbringen zu lassen. Über den genauen Unfallhergang gab es ja nicht viel zu protokollieren: Der Mann war augenscheinlich auf einer leeren Bierflasche ausgerutscht, mit dem Nacken auf die Tischkante geschlagen, wobei er sich einen Wirbel gebrochen hatte. Dieser Bruch lähmte den Rückenmarksnerv, so dass er an erbrochenem Eierlikör erstickt war. Wahrscheinlich hatte der Schock zu dieser Reaktion des Magens geführt. Eva war ohnehin nicht dabei gewesen und konnte deshalb nichts Genaueres aussagen. Lediglich eine kleine Wunde an der Unterlippe hatte dem Pathologen Rätsel aufgegeben, aber es konnte durchaus sein, dass der Mann sich beim Sturz selbst auf die Lippe gebissen hatte. Kommissar Kallinowsky sah dem klapperdürren Mädchen nach, wie sie langsam und auf unsicheren Beinen den Korridor entlang stakte und hoffte für sie, dass sich ihr Leben nun zum Besseren wenden würde. Vielleicht könnte sie endlich gleichaltrige Freunde finden, nicht immer nur auf den Kirchenveranstaltungen rumhängen, sondern mal in die Disko gehen oder in die Kneipe oder ins Kino. Er wünschte es ihr wirklich.

Nach der Messe blickte der Pfarrer Schlangmann sich suchend in der Kirche um, aber Eva-Maria war nirgendwo zu sehen. Da auch sonst niemand beichten wollte, schlug er erleichtert den Weg zum Büro ein. Dort erwartete ihn allerdings eine Überraschung. Auf dem Schreibtisch lag eine Frau, lasziv hingeräkelt. Den Rock beinahe bis zum Schambein hochgeschoben, lächelte sie ihn verheißungsvoll an.
„Hallo, Pfarrer.“
Der wollte seinen Augen nicht trauen. „Eva-Maria! Was soll denn das? Komm sofort da runter!“
Betont langsam spreizte Eva die Beine, und gegen seinen Willen stellte der Pfarrer fest, dass sie keine Unterhose trug. Ebenso gegen seinen Willen wurde ihm die seine zu eng. Und wenn er Evas Blick richtig interpretierte, entging ihr das nicht. Ihr Lächeln war das eines satten Tigers, der nur aus Genusssucht noch ein bisschen an seiner Beute herumbeißt. Dem Pfarrer wurde heiß, und sein Herz raste. Was, wenn nun jemand das Büro betrat? Wenn jemand durchs Fenster herein sah? Eva lachte, dann setzte sie sich plötzlich auf und schlug sittsam die Beine übereinander.
„Vergib mir, Herr, denn ich habe gesündigt.“
Aus reiner Gewohnheit antwortete der Pfarrer: „Der Herr vergibt dir hier und immerdar. Sprich und befreie deine Seele.“ Dann, nachdem sein Hirn wieder eingesetzt hatte: „Eva, so geht das nicht. Warum hast du nicht im Beichtstuhl gewartet?“
„Weil das hier zu privat ist für den Beichtstuhl, Pfarrer. Oder sollte ich sagen: Vater?“
„Ganz wie du willst, mein Kind. Welche Sünden hast du dir zuschulden kommen lassen?“
„Vater, ich habe gelogen.“
„Zu wem hast du die Unwahrheit gesprochen?“
„Ich ließ meine Eltern im Glauben, ich wüßte nicht, wer mein Erzeuger ist.“
Pfarrer Schlangmann erbleichte. „Was meinst du damit?“
„Letzten Sonntag habe ich einen Brief gefunden, in einem der Bücher unserer Bibliothek. ‚Das Leben der heiligen Katharina von Siena’, sie selbst haben mich darauf aufmerksam gemacht. Sie meinten, es könnte erhellend sein für meine Glaubenstudien. Das war es in der Tat. Nun weiß ich endlich, warum mein Vater nie in die Kirche gegangen ist. Warum er meiner Mutter verboten hat zu gehen, und warum er mich immer hergeprügelt hat. Und warum er unsere Beziehung,“ sie spuckte das Wort geradezu aus, „niemals als Unrecht empfand.“
Der Kirchenmann sagte kein Wort. Wiederolt wischte er sich einen imaginären Schweißtropfen von der Stirn, die eine ungesunde, rote Farbe angenommen hatte.
„Und gestern bekam ich von Gott das Zeichen. Als ich ins Wohnzimmer zurück kam, lag er da. Bewegungsunfähig, auf dem Rücken, wie ein dicker Käfer. Aber nicht mal mit den Beinen strampeln konnte er noch. Nur sprechen. ‚Eva, heb mich auf.’, sagte er zu mir. ‚Sofort!’, sagte er zu mir. Ich aber sah ihn an, wie er da lag, hilflos. Dann nahm ich den Trichter, mit dem er seine Taschenflasche immer füllt. Ich rammte ihm den Trichter weit in den Mund, so dass er nicht mehr sprechen konnte. Dann flößte ich ihm Eierlikör ein. Er hasste Eierlikör, das sei Weiberzeug, sagte er. Der Trichter passte genau, seine Lippen umspannten ihn ganz eng. Wenn ich Vater die Nase zuhielt, bekam er keine Luft mehr und musste schlucken. Als die Flasche leer war, nahm ich eine Cocktailkirsche aus dem Glas und legte sie in den Trichter. Dann presste ich meine Finger auf seine Nasenflügel und sagte: ‚Saug! Das tust du doch so gern. Saugen an meiner Cocktailkirsche’ – so nannte er das immer. Aber da konnte er saugen wie er wollte, die Kirsche passte nicht durch. Und schließlich hörte er auf zu saugen.“
Mit diesen Worten spreizte sie die Beine wieder weit, und ihre Finger vollführten einen schnellen Tanz.
„Komm schon, Priester, Vater, zier dich nicht. Ich bin’s gewohnt.“
Der Pfarrer empfand den stechenden Schmerz, der seine linke Seite durchzuckte, wie ein reinigendes Feuer. Dann brach er zusammen.
„Leb woh, Vater,“ sagte Eva, bevor sie die Tür hinter sich ins Schloss zog.

Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 09.09 Uhr
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