Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Reise zum Mittelpunkt der Metafiktion von R. Funke
(Subtitel: Terzianas Krimi)
(Anmerkung des Autors: Eine Kriminalgeschichte zu schreiben, ist eine schier unmögliche Aufgabe für jemanden, der sich in diesem Genre absolut nicht auskennt. Der innere Schweinehund spielt gleich einen kompletten Katalog von eingebildeten Hindernissen aus – die sich als Erotik, SF und Satire in den Weg stellen. Doch am Ende zählt doch nur der Versuch und die Phantasie, oder? ;-)
Dem gegenüber stand die Barfraktion der Kritiker und Berufsnörgler. Sie lehnten lässig am Tresen und kämmten sich die schmierig-schöngeistigen Haarstränen aus der Stirn - unrasiert, wie U-Bootkommandanten der Kriegsmarine – bereit für ihren ersten Schuss vor meinen Bug.
Ich lockerte meine Finger und zog ein hämisches Grinsen über mein zweites Gesicht. Meine Hände erhoben sich über das Schwarz-Weiß und stießen herab. Der Schlussakkord von Wagners Götterdämmerung ertönte gewaltig in seiner ganzen, pathetischen Grabesschwere. Ich ließ es mit durchgedrücktem Pedal bis ins Pianissimo schweben und jenseits der menschlichen Hörschwelle entfliehen. Dann schloss ich den Deckel, strich liebevoll über den wolkenlosen, schwarzen Schellack und drehte mich in Richtung Publikum. Die Fans strahlten verzückt – den Kritikern stand das übliche Fragezeichen auf der Stirn. Das war meine Welt – differenziert in den Farben der Klaviatur, passend zwischen zwei Buchseiten.
So einfach kann es sein, wenn man sich auf das Wesentliche beschränkt, den Gläubigen ihre Phantasien belässt und den Gegnern wenig Angriffsfläche bietet.
Es war meine Art, mich von Vorgaben und Terminen abzulenken. Mein Verlag verlangte seit Wochen einen Krimi von mir – ich hatte jedoch nie einen Krimi geschrieben, und ehrlich gesagt hatte ich auch weder Lust noch Ideen, was dieses Genre betraf. Ich war urlaubsreif und wollte frei sein, meine eigenen Vorstellungen befriedigen, auch wenn sie zum Teil ins Absurde führten und Gebilde in Form und Darstellung erschufen, die nicht jeder im Stande war, nachzuvollziehen.
Auf Rechtschreibung und Zeichensetzung legte ich auch schon lange keinen Wert mehr – zum einen, weil die Regeln ständig reformierten und zum anderen, weil Orthografie und Interpunktion mir kreative Lebenszeit raubten. Schließlich machte es auch keinen Sinn, mit der Lektorin in Konkurrenz zu stehen, da ich auf sie angewiesen war und der Qualität ihrer Arbeit vollends vertraute ... doch das war eine andere Geschichte.
Ich schaute gespannt in die Runde. Wer würde sich trauen, aktiv an meinem Experiment teilzunehmen?
Eine Frau nahm direkten Augenkontakt zu mir auf. Sie lehnte am Rahmen der Zwischentür und hielt ein halbvolles Sektglas in der Hand. Eine asiatische Dame mit dunklem Teint und von zierlicher Gestalt. Sie kam auf mich zu, blieb an meinem Tisch stehen und griff ohne Scheu nach meinem Arm.
„Komm, wir schreiben eine Geschichte. Über dich, dein Umfeld und Terziana, die man auch Zina nennt.“
Ich wand mich von den leeren Blättern ab – brauchte sie nicht, um meine Gedanken zu fixieren und ließ mich von Terziana entführen.
Die Fans klatschten, die Kritiker rollten mit den Augen – Zina und ich eroberten die Nacht mit all ihren Gefühlen und Geheimnissen.
„Vor 25 Jahren in Paraguay als Tochter japanischer Einwanderer geboren, falls es dich interessiert“, sagte sie beim Durchschreiten des Lichtkegels einer Straßenlaterne. Ich wollte der Exotik und ihrem ungewöhnlichen Akzent meine Stadt zeigen - das romantische Nachtleben eines vor Jahrhunderten im Dornröschenschlaf erstarrten Ortes. Die Fixierung auf ihre Figürlichkeit stand im krassen Gegensatz zu meiner sonst eher abgeklärten Haltung.
Protagonist und Autor verschmolzen zu einer Einheit, in der die personelle Hingabe die prosaische Grundregel der fiktionalen Distanz aufs Gröbste verletzte.
Die Stadt erwachte und erwuchs mit jedem unserer Schritte. Wir tingelten durch Bars und Szenekneipen, amüsierten uns zwischen Köstlichkeiten und geistigem Austausch.
Zina erzählte mir Dinge über mich, die nur ich wissen konnte; und ich berichtete über ihre Kindheit, als hätte ich sie selbst erlebt. Nun vereinigten sich Pro- und Antagonist und ihr gemeinsamer Autor schwang den Taktstock des Duetts und notierte im Geiste: ... und schwang den Taktstock des Duetts ...
Im La Bouche bestellte ich Hummer am Stück, war grade im Begriff, den Panzer zu öffnen, als Zina fragte: „Und was ist dein Problem?“
Ich legte die Gabel bei Seite und versuchte die Motivation ihrer Frage zu ergründen, weil ich sie ihr nicht in den Mund gelegt hatte. Zina stahl sich aus der Kontrolle meiner auktorialen Ebene.
„Diese Frage entzieht sich der Perspektive. Wer erzählt hier über wen?“
Meine Antagonistin schien unbeeindruckt meines Einwands und wiederholte ihren Dialog: „Und was ist dein Problem?“
Ich ahnte die Einmischung einer dritten Figur, die sich als Selbstreflexion meines Autoren-Ichs erweisen könnte und antwortete: „Ich kann keine Krimis schreiben. Ich finde keinen Bezug zu diesem Genre.“
„Fehlt es dir an Phantasie und Vorstellungskraft?“
Der durchgegarte Hummer auf meinem Teller öffnete seine Scheren, fuhr seine Stilaugen in Richtung Terziana aus und antwortete für mich: „Ich glaube nicht, dass es etwas mit Phantasielosigkeit zu tun hat.“ Daraufhin krabbelte das Tier vom Tisch, schlängelte sich zwischen den Beinen der Bedienungen hindurch und rief: „Nein, ich glaube auch nicht, dass es ihm an Vorstellungskraft mangelt!“
Zina schien amüsiert von meiner kleinen Darbietung phantastischer Dialogik. Sie lächelte und ihre Mandelaugen verengten sich zur letzten Phase des abnehmenden Mondes. In dieser Mimik hätte ich sie gerne eingefroren und aus dem Korsett meiner Phantasien befreit ... sie zu einem realen Wesen als Materialisation meiner Vorstellung erhoben.
„Was ist es dann, was dich zurückhält? Ein Krimi ist, wenn ein Verbrechen geschieht.“, dozierte mein Gegenüber.
„Schon klar. Doch Verbrechen geschehen überall und andauernd. Und nicht wenige davon mit Duldung ihrer Umwelt. Der Moralkodex unserer Gesellschaft sieht jedoch vor, dass es kein perfektes Verbrechen gibt, und dass die Aufklärung der Tat und die Überführung der Schuldigen im Mittelpunkt dieses Genres stehen. Zugegeben, die Herangehensweise und die spezielle Logik kriminalistischer Autorenhirne ist bewundernswert – aber es ist nicht meine Welt, Zina.“
Sie öffnete ihren Hummer und schälte das rosa-weiße Fleisch heraus, ohne Reaktion des Schalentiers. Ich hätte mit ihr über das Thema Umweltschutz, Artenerhaltung oder das Vorhandensein von Tierseelen und deren Empfindungen diskutieren können, wollte ihr aber nicht den Genuss verderben. Es war die Inkonsequenz von Überzeugung und Handlung, die den Protagonisten mit seinem Autor verband, mit gleichzeitigem Wissen, dass Zina eine Antagonistin war, die begann, sich meinem Einfluss zu entziehen.
Ich bestellte einen Salat.
„Vielleicht sind es die notwendigen Handlungen der Figuren, die dich abschrecken, einen Krimi zu schreiben“, sprach sie mit vollem Mund, sprang auf, lief zum Nachbarstisch und stieß ihre Gabel in den Hals eines Gastes.
„Gestatten, Reinhardt Maier“, sagte jener unbeeindruckt des Blutschwalls, der seiner Halsschlagader entsprang, „Krimis bedürfen Opfer und gewalttätiger Handlungen.“
„Ja, vielleicht liegt es wirklich darin begründet, warum ich dieses Genre nicht bediene“ erwiderte ich, während Zina sich wieder ihrem Hummer zuwand und ich gelangweilt im Eisbergsalat nach Vitaminen stocherte.
Als wir das Lokal verließen, war bereits ein Rettungswagen eingetroffen, um das Opfer Zinas Demonstration einzuladen. Seine Überlebenschancen schienen nach Meinung der zivildienstleistenden Sanitäter nicht sehr realistisch. Uniformierte Hiwis der Schutzorgane spannten weiträumig Dressierband und hoben die Absperrung dienstbeflissen, sobald ein ziviler Beamter den Tatort betreten wollte. Sie malten weiße Kreidestriche und kämmten die Umgebung nach Blut-, Haar- und Speichelproben ab, befragten Gäste, Ober und sonstige Verdächtige. Es war ein hektisches Gewusel und Gepinsel unterlegt vom Klicken der Kameras und dem Geräusch von Graphit auf holzfreiem Papier.
Ich teilte mir mit Zina einen Platz in der ersten Reihe hinter der Absperrung – zusammen mit anderen Schaulustigen und jenen Figuren, denen die Gier zur Befriedigung des Morbiden ins Gesicht geschrieben war.
„Vielleicht ist es auch die übliche Routine der Handlung, die Location und das Vorgehen ihrer Helden, die mein Interesse am Crime unterminieren.“
Meine Begleiterin hatte derweil zwei Vanille-Milchshakes aus einem angrenzenden Fastfood-Imbiss organisiert – niemand in dieser Szene konnte wissen, dass der Autor auf Vanille stand.
Dann rief jemand der Gäste: „Das sind die beiden! Sie hat auf ihn eingestochen - er hat zugesehen!“, und zeigte auf uns, woraufhin die Uniformierten sogleich losstürmten und meine Gefährtin und mich überwältigten. Die Polizisten drückten ihre Hände auf unsere Scheitel, um uns beim Verfrachten in den Steifenwagen nicht zu verletzen – Rücksichtnahme, auf Grund korrekter Verhaftungsrichtlinien. Nichts könnte peinlicher sein, als dass der Prozess wegen brutaler Vorgehensweise seitens der Staatsorgane geplatzt wäre.
Zina pfiff eine Melodie von Chopin, mit der ich für gewöhnlich meine samstäglichen Lesungen einleitete. Zwischen meinen Zähnen klemmte noch ein Salatblatt, der Milchshake war mir beim Zugriff aus der Hand gerissen worden und langsam bekam ich Hunger.
Wir schauten durch die Gitter in den Vorderraum des Polizeiautos und ich sagte zu Zina: „Ist es das, was du normalerweise durchlebst?“
„Yepp“, antwortete sie knapp, grinste und nahm mich nymphomanisch auf dem Rücksitz unter Beschlag. Die Fahrt verlief mit kreisenden, blauen Lichtern ohne Rücksichtnahme jedweder Verkehrsregeln. Bei der Ankunft vor dem Präsidium musste man uns mit Gewalt und Wasserstrahl, wie zwei ineinander verbissene, notgeile Kampfhunde trennen und ich stolperte die Treppen des Portals hinauf, während ich versuchte, Hosenschlitz und Gürtel zu schließen. Zina war einfach nur heiß, und ich fragte mich, warum mir solche Figuren nicht in meinen SF-Stories einfielen.
Fingerabdrücke – rechte Hand, linke Hand - Fotos mit Nummer – von links, von rechts und frontal. Bitte lächeln. Ich war mir bewusst, dass ich hier als Autor der Szene stand, also lächelte ich. Im Verhörraum trafen wir uns wieder. Guter Bulle, böser Bulle auf einer Seite des Tisches – böse Antagonistin und guter Autor auf der anderen Seite.
Das Starsky&Hutch-Gespann stellte die üblich dämlichen Fragen, versuchte uns mit Einschüchterung, Überzeugung, Nettigkeiten und Drohungen weich zu kochen. Ich wünschte mir, mit Zina fünf Minuten allein zu sein, um zu beenden, was im Streifenwagen begonnen hatte. Und Zina sah so aus, als würde sie es auch wollen.
„Das ist langweilig“, sagte ich mitten im Verhör zu ihr, „lass es uns lieber tun. Wie wäre es mit einem Liebesroman im Groschenformat oder vielleicht einem theatralischen Dr. Schiwago? Einer Romanze auf einem fernen Planeten oder als Gestrandete der blauen Lagune? Wir könnten uns natürlich auch auf die neurotisch-komplizierte Art eines Woody Allen oder einer Barbara Streisand nähern. Also sag an, Zina. Sex oder Cime? Deine Zustimmung genügt, und wir könnten sofort das Genre wechseln.“
Anstelle von Zustimmung erntete ich nur einen kritischen Blick und ein gereiztes: “Hör mal, schließlich bist du es doch, der einen Zugang zu diesem Genre sucht!“
Ja, ok, also lass ich es über mich ergehen.
Das Verhör zog sich hin. Ich bestellte Pekingente mit Camembert und Glückskeksen. Zina rollte mit den Augen. Mein Magen füllte sich und ich begann mich zu amüsieren, während die Bullen Zina in die Mangel nahmen, ihr eine Plastiktüte über den Kopf zogen und Weihnachtsmärchen aus ihrer Kindheit vorlasen. Ich öffnete einen Keks und entrollte den Sinnspruch des Tages: Achte, mit wem du dich umgibst.
Ha, zu spät, dachte ich.
In der nächsten Szene befanden wir uns schon vor Gericht. Uns zierten Hand- und Fußfesseln sowie ein orangener Overall mit der Aufschrift Böses Mädchen, beziehungsweise Ich war als Kind schon Scheiße. Der Pflichtverteidiger plärrte sein unverständliches Kauderwelsch in den Saal, und Staatsanwalt, Richter und Zeugen plärrten zurück. Ich schlurfte zur Gerichtsschreiberin und schaute ihr interessiert über die Schulter. „Das sind ja mega-viele Anschläge pro Minute. Schon mal daran gedacht, Literatur zu verfassen?“
Zina pfiff mich zurück: „Konzentriere dich auf die Handlung!“
Ich begriff weder Ver- noch Handlung und dachte an all die Abenteuer, die ich an Bord eines intergalaktischen Raumkreuzers hätte zwischenzeitlich erleben können, wenn ich mich nicht auf diesen kriminalistischen Diskurs eingelassen hätte.
„Gibt es irgendwelche Verfahrensfehler oder Verstöße gegen die Haftbestimmungen anzumelden“, fragte Richter Gleichistmittagspause.
Das verstand ich. „Ja, euer Ehren“, meldete ich mich zu Wort, „mein Milchshake wurde mir bei der Verhaftung entwendet und meine Freundin wurde mit gefühlduseligen Weihnachtsmärchen zu einem Geständnis gezwungen! Eigentlich hatte ich nur vorgehabt, eine metafiktionale Story zu schreiben, aber nun fängt mir der ganze Mist langsam an, auf die Nerven zu gehen. Ich beantrage Freispruch.“
Staatsanwalt Nocheineminutebiszurmittagspause stimmte überraschenderweise meinem Antrag zu, und keine zehn Minuten später atmeten Zina und ich wieder den ungefilterten Duft der Freiheit – die coolen Overalls durften wir als Haftentschädigung behalten.
Wir schlenderten durch die Gassen meiner aus dem Dornröschenschlaf erwachten Stadt. Ein virtuelles Paar, das niemals hätte aufeinandertreffen dürfen – zumindest nicht in dieser metafiktionalen Verbundenheit – und schon gar nicht in diesem Zweig der Literatur.
Tagebucheintrag: Sonntag 10:30.
Bin heute neben einer schönen jungen Frau mit Mandelaugen aufgewacht.
Nächsten Samstag werde ich mich zurückhalten. Auf Dauer übersteigen sonst die Schäden der Lesungen die spärlichen Tantiemen meiner SF-Romane ... Nächster Termin: Abgabe dieser Kurgeschichte – anschließend die Overalls in die Reinigung bringen, zwei Tickets nach Borderless kaufen [ein Humanoid, eine Außerirdische] Aufgebot bestellen und Zina in einer weißen Kutsche zum Raumflughafen fahren ... ich hoffe, sie behält ihre jetzige Form ... ich steh auf Asiatinnen aus Paraguay – lass mich aber auch gerne von ihrer Instabilität überraschen – schließlich gibt es noch viel zu entdecken, wofür ein einfaches Menschenleben zu kurz erscheint.
Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 09.02 Uhr Dieser Text enthält 25150 Zeichen.