Müller und der Tote im Morgenmantel von Stefan Schweikert
“Hatte er irgendwelche Feinde?”
Müller stellte die Frage ganz automatisch. Vielleicht, weil sie die Leute von ihm erwarteten; mit Sicherheit jedoch nicht, weil er sich eine “zweckdienliche” Antwort erhoffte.
Er ging vor dem Toten in die Knie. Wer in seiner Bibliothek aufgefunden wurde, das halbe Gesicht in kleinen Stücken auf dem karierten Morgenmantel verteilt, der hatte Feinde. Aber wer eine Bibliothek und einen karierten Morgenmantel besaß, dessen Freunde, Angehörige oder Bedienstete konnten es sich natürlich niemals ...
“Nein. Er war doch so beliebt. Jeder mochte ihn ... ich verstehe einfach nicht.” Schluchzen.
Na also! Müller ordnete die Antwort in seinem geistigen Notizbuch unter “Das Übliche/Vergiss es” ein. Er erhob sich wieder, ohne die Leiche aus den Augen zu lassen, und trat ein paar Schritte zurück. Der Tote saß friedlich in seinem Sessel, den Kopf - oder was davon übrig war - zur Seite geneigt, als sei er nur kurz über einem Buch eingeschlafen.
Was hatte er da gedacht?
Friedlich?
Vor ihm eine Leiche, auf deren Brust und Bauch etwas verschmiert war, das aussah wie halb verdaute Supermarktsalami - und er dachte “friedlich”? Er wandte sich ab und schluckte. Zwei Tassen lauwarmer Kaffee rumorten bedenklich in seinem Magen. Etwas pochte hartnäckig in seinem Hinterkopf, und das waren nicht die Nachwirkungen des Biers vom Vorabend:
Das Ganze hatte etwas gelassenes an sich, etwas friedliches, etwas beruhigendes.
Und das beunruhigte Müller zutiefst.
“Heinrich von Grewitz, zweiundsechzig, Ex-Unternehmer, Professor der Philosophie ...”, leierte Kleiber den Computerausdruck herunter.
“Deshalb die vielen Bücher”, murmelte Inspektor Müller.
“... was?” fragte Kleiber, aus seinem Monolog gerissen.
“Bücher, ich sagte nur Bücher. Weiter Kleiber, was noch?”
“... also: Professor der Philosophie, Autor. Grewitz war der Gründer der Kaufhauskette GreBro. Hat sie dann, vor gut zwanzig Jahren, für viel Geld an die Konkurrenz verkauft. Hat noch einmal studiert, schrieb Bücher und war in verschiedenen sozialen Organisationen stark engagiert."
"Ein Gutmensch", murmelte Müller.
"Was?" fragte Kleiber wieder nach.
Müller antwortete nicht. Wie er diese Typen hasste: Erst zockten sie einen ab, bis sie fett waren, dann entdeckten sie plötzlich ihre soziale Ader, streuten Brotkrumen unters Volk und fühlten sich dabei wie Jesus persönlich. Wer immer diesem Grewitz die Fresse weggeschossen hat ...
“Inspektor Müller? Chef? Soll ich fortfahren?”
Müller fuhr zusammen. “Ja - ja, entschuldige, war nur etwas abwesend, war ‘ne kurze Nacht ... und ein unappetitlicher Morgen.”
“Ja - stimmt - also, der Professor ist - war - verwitwet. Ein Sohn, Herbert von Grewitz, Aufsichtsrat bei der BluBank, wir versuchten gerade, ihn aufzutreiben. Ansonsten: Der Professor lebte allein, in geradezu bescheidenen Verhältnissen, wenn man von der riesigen Hütte mal absieht. Eine Frau aus der Nachbarschaft kam zwei mal am Tag zum putzen und kochen - sie hat die Leiche gefunden und uns verständigt. Dann gab es noch eine Ego... Eto... Ergotherapeutin, die kam drei Mal die Woche. Er hatte vor drei Jahren einen Schlaganfall. Die Mordwaffe: Eine Achtunddreißiger, russisches Model, nicht registriert. Hilft uns wahrscheinlich nicht viel weiter. Seit dem ... häm ... Ende der Sowjetunion ist der Markt praktisch überschwemmt mit solchen Knarren. Wurde aus kurzer Entfernung abgefeuert, etwa zwanzig Zentimeter, von schräg unten, zerfetzte ihm das halbe Kinn und die Zähne, ehe das Projektil über den Gaumen ins Hirn eindrang. War sofort tot. Der Mörder hat sie einfach in die Ecke geschmissen - Natürlich ohne Fingerabdrücke.”
"Carla Bloom, Hausfrau, Achtundvierzig. Ist das richtig?"
Die stämmige Frau wirkte klein auf ihrem Stuhl. "Ja", sagte sie fast unhörbar.
"Wir bringen die Sache möglichst schnell hinter uns ", beruhigte sie Kleiber. "Aber wir müssen ihre Aussage zu Protokoll nehmen. Keine Angst, das tut nicht weh. Also. Wann haben sie den Professor das letzte Mal lebend gesehen?"
"Am ... am Abend zuvor. Es war so gegen acht. Ich machte ihm sein Abendessen - er aß immer recht spät ..."
"War noch jemand da, hat er etwas gesagt, war er aufgeregt?"
"Äh ... ja ... nein ... er war ausgesprochen gut gelaunt ... und Maite war noch da ..."
"Maite?"
"Sie hilft ihm. Seit seinem Schlaganfall konnte er seine rechte Hand nicht mehr richtig bewegen. Dabei liebte er es, von Hand zu schreiben. Aber die Maite wirkte wahre Wunder. Sie ist ja auch Agro... Ero..."
"Ergotherapeutin", meldete sich Müller aus seiner Ecke. Die Vernehmung verlief bisher ausgesprochen langweilig. Nun, vielleicht hatten der Alte und diese Maite wenigstens was miteinander. "Wie alt ist diese Maite?" fragte er.
"Oh ... so Ende zwanzig denke ich."
Müllers schmutzige Fantasie begann zu arbeiten. "Wissen sie ob ... war die Beziehung rein ..." Machte sie mit ihm noch andere Bewegungsübungen, im Bett oder so? "... geschäftlich ... oder ..."
Carla Bloom errötete. "Nein! Nicht was sie denken. Der Herr Professor mochte die Maite, aber mehr so wie eine Tochter. Wissen sie. Mit seinem Sohn, da stand er nicht so gut. Haben sich andauernd gestritten. Da tat ihm das Mädchen einfach gut."
"Diese Maite war gestern Abend noch da, nach dem sie gegangen waren?" fragte Müller.
"Ja. Aber sie glauben doch nicht ..."
"Wir glauben gar nichts. Dann war die Therapeutin die Letzte, die den Professor lebend sah", sagte Kleiber.
"Der Mörder", flocht Müller ein.
"Nein! Die Maite doch nicht!" Die Frau rutschte auf dem Stuhl hin und her. "Außerdem hatte er noch Besuch, der Herr Professor. So gegen zehn hab ich das Auto von seinem Sohn gesehen. Aber dann bin ich zu Bett. Sie glauben doch nicht ..."
"Wir glauben gar nichts."
"Herbert von Grewitz?" Müller ließ es sich nicht entgehen, das Verhör selber zu führen. Wahrscheinlich würde er wieder mal einen Anschiss vom Chef kassieren, weil er den Geldsack zu hart anfasste, aber das war es ihm wert. Und die Ermittlungen der letzten Stunden hatten ihm ein paar Trümpfe in die Hand gespielt.
"Sie waren gestern Abend bei ihrem Vater. Und heute morgen ist er Tod. Ist das nicht merkwürdig?"
Die Kinnlade seines Gegenübers ging nach unten. Müller grinste zufrieden.
"Wissen sie, mit wem sie reden?" empörte sich Von Grewitz.
Müllers Grinsen wurde breiter: Grewitz Junior reagierte genau nach Wunsch. "Ich rede mit einem potentiellen Vatermörder", erwiderte er.
"Ich habe meinen Vater nicht umgebracht!"
"Sie standen nicht gerade gut mit ihm. Haben sich regelmäßig gestritten. Worum ging es? Um Geld?"
"Nein!"
"Natürlich ging es um Geld. Ich habe mit dem Anwalt ihres Vaters gesprochen. Ihr Vater war drauf und dran, sein Testament zu ändern. Er wollte einen Großteil seines Vermögens an soziale Organisationen vererben. Ihnen bliebe gerade noch ein kleiner Pflichtteil."
"Mein Vater kann mit seinem Geld machen was er will!"
"Kann es das? Konnte er das? Sie könnten die Millionen gut gebrauchen. Seit dem Aktiencrash steht es nicht besonders gut um ihre Konten. Und was ist mit den Insidergeschäften. Sie sind Pleite."
"Woher?"
Müller setzte das selbstzufriedenste Grinsen auf, das ihm zur Verfügung stand. Keine zehn Stunden waren vergangen, und der Fall war fast geklärt.
"Ja ... ja ... ich versuchte meinen Vater zu überzeugen, dass er mir hilft. Statt dessen verschenkt er sein Geld. Aber ich habe ihn nicht umgebracht."
"Haben sie eine Waffe?"
"Nein."
"Doch!"
"Nein!"
"Ich habe einen Zeugen. Sie haben die Waffe illegal erworben. Russische Achtunddreißiger. Geben sie es zu!" Müller ballte die Hände unter dem Tisch zu Fäusten. Drückte die Daumen. Das hatte er sich soeben ausgedacht.
"Nein ... ja! Ich wurde bedroht. Aber die Waffe ist im Handschuhfach von meinem Wagen."
Natürlich war sie nicht dort. Die Indizien reichten für den Haftbefehl locker aus.
Müllers Chef war zufrieden: Der Fall innerhalb von Stunden geklärt, eine Verurteilung wegen Mord, oder - wenn Kleiber junior einen sehr guten Anwalt hatte - wegen Totschlags, so gut wie sicher.
Müller war zwar auch zufrieden, aber nicht glücklich. Es war zu einfach gewesen.
Die restlichen Vernehmungen waren nur noch Formsache; die der Ergotherapeutin übernahm er selbst. Vielleicht gab es noch ein paar geile Details zu hören.
"Maite Felting?"
"Ja." Das Mädchen war ausgesprochen appetitlich. Und ebenso nervös.
"Es geht nur noch um ein paar Kleinigkeiten", versuchte Müller sie zu beruhigen. "Wie war ihr Verhältnis zu Professor von Grewitz? Ging es über ihre Anstellung hinaus."
"Nein! Er behandelte mich äußerst freundlich. Aber nicht mehr ... glauben sie mir."
Ich würde dir gerne glauben, aber warum bist du so nervös? Meine Nase sagt mir, dass ich noch nicht alles weiß, dachte Müller. Nun, wenn nicht der alte Grewitz, vielleicht dann der Junge.
"Wie gut kannten sie seinen Sohn? Hatten sie eine Beziehung zu ihm?"
"Nein!"
"Wirklich nicht? Er ist jung, er ist reich ... er hätte alles geerbt."
"Er hätte nichts geerbt!" platze es aus dem Mädchen heraus. Dann begann sie zu schluchzen.
Müller lehnte sich genüsslich zurück und lauschte dem Heulen. Hatte er es doch gewusst! Wenn es um Geld ging, sammelten sich die Geier. Auch wenn es so appetitliche Geier waren, wie die junge Frau vor ihm.
"Raus mit der Sprache! Sie haben mit den jungen Grewitz gemeinsame Sache gemacht. Wie viel von dem Erbe hat er ihnen versprochen?"
"Garnichts!"
"Was? Sie haben es aus Liebe getan?" Müller spuckte "Liebe" geradezu aus.
"Nein! Heinrichs Sohn hat nichts damit zu tun."
Müller war sprachlos. Er presste beide Hände auf die Tischplatte und beugte sich der jungen Frau entgegen.
"Ich habe die Waffe aus dem Wagen genommen", flüsterte sie. "Heinrich, ich meine, der Herr Professor wusste, dass sie dort ist. Die beiden haben sich wieder einmal gestritten ... um Geld ... es war so schrecklich ... da habe ich die Autoschlüssel aus der Jacke genommen und habe die Waffe aus dem Auto geholt. Gleich nach sein Sohn gegangen war, bin ich dann zu dem Herr Professor ..."
"... und haben ihn erschossen. Aber warum? Sie waren im Testament berücksichtigt und hätten noch mehr bekommen, wenn er es noch hätte ändern können."
"Ich hab ihn nicht erschossen."
"Aber wer dann ... verdammt!"
Die Frau starrte einige Zeit stumm vor sich hin. Dann begann sie mit leiser, aber fester Stimme zu sprechen: "Er hat es lange geplant. Er hat seinen Sohn bedrohen lassen, ihn dazu gebracht, sich eine Waffe zu besorgen. Gestern Abend hat er ihn dann zu sich gerufen. So dass Frau Bloom sieht, dass er da ist. Damit er kein Alibi hat. Dann habe ich die Waffe aus dem Auto gestohlen. Ich habe sie ihm gegeben. Dann ... dann hat er sich erschossen." Tränen liefen über ihre Wangen. "Als es vorbei war, habe ich die Pistole aus seiner Hand genommen, sie in die Ecke geschmissen und mich aus dem Haus geschlichen."
"Aber warum ... verdammt!"
"Heinrich war ein guter Mensch. Er meine es ehrlich, wenn er anderen helfen wollte. Und als er erfuhr, dass er Krebs im Endstadium hat, war sein Entschluss schnell gefasst. Er wollte sicher gehen, dass jeder sein Sohn sah, so wie er wirklich war: Ein korruptes, geldgieriges Monster, das für seine Ziele über Leichen ging. Sein Sohn war die Niederlage seines Lebens und er wollte sicher gehen, dass er keinen Pfennig bekommt. Aber jetzt ..." Sie begann wieder zu weinen.
Müller schaute die junge Frau wortlos an. Er stoppte den Recorder und nahm die Kassette heraus. Dann nahm er eine Schere, zog das Band heraus.
Kleine Bandschnipsel flatterten in den Papierkorb.
Müller lächelte dabei - glücklich.
(Stefan Schweikert 10/03)
Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 09.10 Uhr Dieser Text enthlt 11599 Zeichen.