Honigfalter
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November 2003
Wohin du gingst, mein Herz
von Josef Th. Thanner


Auf der Straße geht ein Mann in leicht vorgebeugter Haltung, als wenn er eine Last auf seinem Rücken trüge, eine unsichtbare Last, denn nichts ist auf seinem Rücken zu sehen, als nur der dunkle, glatte Mantelstoff. Der Mantel, den er trägt, ist etwas abgenutzt, und im Laufe der Jahre hat er den Geruch des Mannes angenommen. Irgendwann in seinem Leben ist der Mann in einen Kleiderladen gegangen und hat sich unter all den Mänteln diesen dunklen mit dem festen Kragen ausgesucht. Braune hatte es zur Auswahl gehabt, hellbraune, dunkelbraune, einen marineblauen, einen beigefarbenen. Der Mann hat sich für den anthrazitfarbenen entschieden, vielleicht weil dieser seine Frau an Schrammeck, ihren früheren Ehemann, erinnerte, und der Mann gern sein wollte wie Schrammeck.
Dieser Mann, der langsam auf der Straße geht, trägt einen Hut. Es ist ein dunkler Hut mit abgegriffener Krempe. Mit seiner Frau ging er damals in den Hutladen — es war ein Samstag gewesen — und hatte ihn sich ausgesucht. Er wollte nicht den karierten, nicht den gemusterten, nicht den grauen mit dem Gamsbart, nicht den mit der Kordel — er wollte den einfachen, geprägten Hut mit dem Seidenband. Diesen Hut besitzt der Mann nun schon seit vielen Jahren; er hat den Geruch des Mannes angenommen, den Geruch seiner Haare, den feinen Schweißgeruch, der sich auf der Kopfhaut bildet, wenn man im Winter mit rotem Kopf und schnellen Bewegungen über zugeschneite Wege geht.
Heute aber geht dieser Mann nicht schnell, und nicht mit rotem Gesicht. Vielmehr geht er langsam und leicht gebückt, und sein Gesicht ist bleich und ausdruckslos, eine bloße Fassade, als brüte er tief im Innern über einer gewichtigen Sache.
Seine Schuhe sind ausgetreten, alles an ihm ist schon mehrere Jahre alt. Aber wozu hätte er sich neue Sachen anziehen sollen? Er geht ja nur die Straße entlang.
Den einen Fuß zieht er leicht nach, jedes Mal, wenn er darauf tritt, schmerzt es ihn leicht. Irgendwann in der letzten Stunde hatte er sich am Schenkel verletzt, und jetzt schmerzt es ihn. Niemals würde er sich das anmerken lassen. Überhaupt hat er gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Er hat anderweitig zu tun. Er muss gehen und nachdenken.
Im seinem Kopf spult eine Mischung von Beethovens neunter Symphonie und der Brandung von Ozeanwellen ab. Immer lauter und lauter wird das Meeresrauschen und droht, das Orchester zu übertönen. Immer mehr verengen sich seine Augen zu schmalen Sehschlitzen — wegen der Kopfschmerzen —, und die niedrig stehende Sonne blendet warm in sein Gesicht.
So setzt er einen Fuß vor den anderen, über die am Boden liegenden goldgelben Blätter hinweg. Ein paar Blutstropfen bleiben dort zurück, wo er gegangen ist, aber was macht das schon, nur ein paar Blutstropfen im Staub der Straße. Irgend ein Hund wird schon kommen und sie auflecken.
Schrammeck hatte Beethoven geliebt, und deswegen hatte der Mann, der die Straße entlang geht, auch Beethoven gehört. Alle neun Symphonien in einer großen Schallplatten-Sammelbox hatte er gekauft, irgendwann hatte er den Musikladen betreten und danach gefragt, obwohl er keine Ahnung von Beethoven gehabt hatte. Aber seine Frau sollte nicht unter dem Verlust leiden.
Ob Schrammeck tot war? O nein, sie waren nur nicht mehr zusammen. Die Frau hatte wieder geheiratet, den Mann, der jetzt die Straße entlang geht. Sie waren gemeinsam älter geworden, und der Mann hatte versucht, ihr über den Verlust von Schrammeck hinweg zu helfen, sie zu trösten, ihn zu ersetzen.
Das Rauschen in seinem Kopf wird lauter, von Beethoven sind nur noch die Pauken und Blechbläser zu hören, der Rest ist bereits übertüncht.
Die Frau ist nie richtig glücklich gewesen, obwohl er alles unternommen hatte. Sie wirft ihm vor, Schrammeck zu imitieren Du Nulpe! Ich verlasse dich! Ich gehe zurück zu ihm!
In diesem Moment liegt das Messer da. Einfach so, auf der Ablage in der Küche. Er greift danach. Er sticht zu. Aber selbst in der ganzen Kraft seiner Wut kann er nicht verhindern, dass sie, tödlich verwundet, nach seiner Hand greift. Er rutscht mit dem Messer ab, der Stahl schneidet in seinen Schenkel. Er schreit auf, sticht erneut zu, sticht zu, sticht ... Schnell lassen jetzt ihre Kräfte nach. Er lässt das Messer fallen, erhebt sich, wendet sich ab, geht. Die Straße entlang.
Ein Mann geht auf der Straße. Aus dem Schnitt an seinem Schenkel rinnt Blut. Seine Schuhe hinterlassen kleine, dunkelrote Abdrücke. Er wirkt sehr nachdenklich, wie er da so geht. Es dauert eine kleine Ewigkeit, aber dann kommen sie. Jemand hat angerufen. Sie halten mit hupenden und blinkenden Signalen direkt neben ihm, springen aus dem Wagen. Überwältigen ihn. Zerren ihn in ein Fahrzeug. Bringen ihn fort.
Aber er hört nichts, hört nur Meeresrauschen.


© J. Th. Thanner

Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 11.47 Uhr
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