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November 2003
Niemand weiß
von Renate Hupfeld


Vera schreckt auf und ist froh, dass sie atmen kann.
Das schwarze Monster war unerbittlich. Sie wollte weglaufen, kam aber nicht von der Stelle, wurde tief in den Rachen hineingezogen, rot schimmerndes Licht umgab sie im Inneren des Ungeheuers.
Der Alptraum ist nicht zu Ende.
Sie fühlt sich elend und hat einen schlechten Geschmack im Mund, den sie nicht zuordnen kann. Mühsam öffnet sie die verklebten Augenlider.
Nackte Frauen auf weißen Laken, wohin sie schaut, an den Wänden und an der Zimmerdecke. Sie presst eine Hand gegen die Stirn, als könne sie das schmerzende Rasen in ihrem Kopf stoppen. Die Frau an der Wand tut das Gleiche. Alle Frauen machen die gleichen Bewegungen wie sie. Beim zaghaften Versuch den Kopf anzuheben, wird ihr schwindlig. Würgen im Hals.
In diesem Spiegelkabinett war sie noch nie.
Ihr Körper fühlt sich fremd an. Ein scharfer Schmerz zwischen den Beinen. Wie um sich zu bestätigen, dass das ihr Schambein ist, auf dem ihre Hand liegt, hebt sie die Hüften ein wenig an. Sie streicht über ihren Bauch. Es fehlt etwas. Ihr Bauchkettchen. Seit ihrem Urlaub am Strand hat sie es nicht abgelegt. Das alles ist weit weg.

Sie ist so schwach auf den Beinen, dass sie sich am Knauf eines Bettpfostens festhalten muss. Was ist nur mit ihr passiert? Sie hatte Sex und weiß nicht mit wem.
Sie lässt sich in den Sessel neben dem Bett fallen. Da ist etwas Wulstiges unter ihrem Po. Nach und nach zieht sie Jeans, Oberteil, BH und Slip hervor. Auch ihr goldenes Bauchkettchen kommt zum Vorschein, an einer Stelle gerissen. Wie tief ist sie gesunken? Sie drückt sich von den Armlehnen hoch. Das Anziehen bereitet ihr große Mühe, ebenso die kurze Strecke zu der Glastür, die auf eine Terrasse führt.

Von den Steinplatten kriecht Kühle an ihr hoch. Gleißendes Sonnenlicht wärmt sie nicht. Als ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt haben, schaut sie auf ein weites Hügelland mit Wiesen und Weinfeldern.
Das Haus liegt an einem steilen Hang. Von der Terrasse führt eine Treppe in den Garten. Beim Hinuntergehen hält sie sich am Geländer fest.
Betörende Düfte von bläulich rosa Rosen in einem Labyrinth von Wegen und dunklen Nischen. Auch der Garten weckt keine Erinnerungen.

Das Rollen der Schiebetür durchbricht die Stille. Vera betritt einen hellen Raum und hört Musik, eine schwebende Melodie. Diese Gitarrentöne kennt sie gut, kann sich aber nicht an den Namen der Gruppe erinnern. Ein Kamin aus Natursteinen wie ein Hochaltar. Ornamente in schwarz und rot. Die gezackten Linien auf dem Wandteppich sind Schlangen mit sechseckigen Augen, kleine wachsen aus den Köpfen von großen, ein richtiges Schlangengewirr.
Sie ist nicht allein. Hellgrüne Augen beobachten sie von der Sofaecke aus. Erschöpft sinkt sie in die Polster. Das kleine Raubtier scheint unbeeindruckt. Sie mag schon gar nicht mehr darüber nachdenken, warum ihre rote Jacke in diesem braunen Ledersofa liegt.
Ihr Handy ist wie erwartet in der Innentasche, der Akku fast leer. Sie scrollt durch die Telefonnummern. Da, die Handynummer ihrer Freundin. Mit ihr war sie zusammen. Bummel durch die Altstadt. Rotwein an der Bar. Ihre Finger zittern beim Drücken der Tasten. Jetzt wird sich hoffentlich alles aufklären.

Katja, du musst ... Gestern? ... Cocktail? Weiß ich nicht, nichts weiß ich ... Ich kenne keinen Krawattenmann ...
Warum glaubt Katja ihr nicht?
Mit einem Mann Cocktail getrunken und danach weggegangen? Sie, Vera Sommerfeld? Hat der sie hierher gebracht, ausgezogen und ...? Sie hat zwar schon öfter zuviel getrunken, aber einen Blackout hatte sie noch nie. Die sanften Gitarrentöne der Musikgruppe, deren Namen sie vergessen hat, schweben immer noch durch den Raum, werden lauter und münden in einem Chor von Männerstimmen: Nobody knows where you are ... Ich weiß es ja selbst nicht, denkt Vera. Eigentlich müsste sie vor Angst verrückt werden, aber die lähmende Müdigkeit ist stärker.

Zischzisch – zischzisch - zischzisch, ein Tier schnuppert an ihr, atmet stoßweise. Als sie um Hilfe rufen will, verschließt es ihren Mund mit seiner weichen Schnauze. Ein Kitzeln, als würden die Schnurrbarthaare des kleinen schwarzen Monsters über ihr Dekolletee wandern. Ein Gewicht auf ihrer Brust. Ihr wird eng und heiß. Was ist das? Sie öffnet die Augen und schaut in ein schwitzendes Gesicht. Ein fremder Mann mit einem Lächeln, das ihr Blut zum Stocken bringt.
„Mein Goldschatz ist aufgewacht.“
Sie will ihn wegdrücken, die Arme gehorchen nicht.
„Keine Angst, Carl ist bei dir.“
„Ich ersticke ...“ Er umklammert sie fester.
„Es war doch auch für dich schön.“
„Nein, ich ...“
„Pssssst ...“ Seine Lippen auf ihrem Mund. Übelkeit steigt in ihr hoch.
„Mein Goldschatz zittert. Gleich wird er wieder gut schlafen.“

Der Mann beugt sich über sie, mit der einen Hand stützt er ihren Kopf, mit der anderen hält er ein Glas an ihren Mund. Das kühle Getränk tut ihrer trockenen Kehle gut.

Töne tanzen in einer Welle von Farben, verwandeln sich in eine wunderbare Melodie, werden langsam lauter und kommen ganz nah. Ein goldenes Glitzerband umkreist ihren Körper. Sie löst sich vom Boden und schwebt durch eine Wand aus Glas in ein schillerndes Lichtmeer.

(Inspiriert durch „Shine on you crazy diamond“ von Pink Floyd)

©Renate Hupfeld 11/2003





Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 10.46 Uhr
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