Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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November 2003
Die letzte Nacht
von Katja Nathalie Obring


Sie war in sich. Und ihr Gestorbensein
erfüllte sie wie Fülle.
Wie eine Frucht von Süßigkeit und Dunkel,
so war sie voll von ihrem großen Tode,
der also neu war, daß sie nichts begriff.
R. M. Rilke

Die wummernden Beats schüttelten die echten ebenso wie die Berufsjugendlichen, Sozialarbeiter und Undercovercops. Auf der Bühne performte ER, MC Oh., der Star der örtlichen Rapper-Szene. Und Ela stand an die Wand gelehnt nahe des Backstage-Eingangs und konnte ihr Glück nicht fassen.
Denn eben bereitete er sich vor, das zu tun, was er vor drei Wochen zum ersten Mal getan hatte. Ela war ohnehin heiß, die Ausdünstungen der Jugendlichen hatten den Saal aufgeheizt, und nun brach ihr der Schweiß aus; in Strömen lief er zwischen ihren Brüsten hindurch zum Bauch, stach in den Augen und juckte am Hinterkopf. Aber sie war fixiert auf die Bühne, wo Oh. gerade ins Mikrofon hauchte, dann zählte, dann grinste er suchend von der Bühne herunter. Sie winkte, aber sie wusste, dass er sie gegen die Scheinwerfer nicht sehen konnte. Dennoch starrte er in ihre Richtung, und sie beschloss, dass er für sie sang, mit Sicht oder ohne.
Und er sang. Eine andächtige Stille ergriff den Saal, und all die Teenies, die sonst durch keine Macht der Welt zur Stille zu bewegen waren, hielten unisono den Atem an, so schien es. Seine Stimme ergriff sie, umscheichelte sie, beherrschte sie. Als er aufhörte, dauerte es einige Sekunden, bis sie wieder in der Realität angekommen waren, dann brach tosender Jubel los. Oh. hatte die Bühne schon verlassen, und auch Ela war bereits auf dem Weg in den Backstagebereich.
Denn sie war Oh.’s Freundin, seit drei Wochen, seit jener Nacht im Proberaum, wo sie nach dem Konzert gelandet waren. Und jetzt, als sie sich unter dem schwarzen Samtvorhang durchduckte und beinahe gegen ihn gerannt wäre, da konnte sie nicht anders, sie musste lachen, lachen aus purem Glück. Oh., der eigentlich Oliver hieß, drehte sich um, breitete die Arme aus und umfasste sie fest.
„Schön, dich zu sehen,“ murmelte er in ihr Haar.
„Ja, wir waren immerhin satte fünfundfünzig Minuten getrennt. Kaum auszuhalten.“
Oliver grinste. „Stimmt, kaum auszuhalten.“ Dann, ernster: „Im Ernst, Ela, ohne Dich könnte ich nicht leben. Nicht mehr.“
Peter, der Leiter des Jugendheimes, rief etwas. Oliver küsste Ela auf die Stirne.
„Ich bin gleich wieder da. Muss eben noch abbauen; setz dich doch solange zu Wiggel und den Anderen.“
Das tat Ela. Obwohl sie seit drei Wochen bei jeder Probe und bei jedem Auftritt dabei gewesen war, fühlte sie sich immer noch ein bisschen fremd mit der Band. Alle waren nett und irgendwie okay zu ihr, aber auch ein bisschen distanziert. Jetzt bot ihr Wiggel einen Joint an. Ela nahm ihn an, zog daran und fing an zu husten. Alle lachten, auch Ela. Dann spürte sie ein Stechen im Hintern und sprang auf. Da lag ein Insekt, eine Biene. Noch bevor Ela irgend etwas sagen konnte, begann der Raum sich vor ihren Augen zu drehen, ihr Hals wurde eng, kein atembares Lüftchen erreichte ihre Lungen, so sehr sie sich auch bemühte. Schließlich wurde alles schwarz, und sie fiel um.

Als sie die Augen wieder öffnete, war sie seltsamerweise nicht im Krankenhaus, so, wie nach dem letzten Bienenstich. Damals hatten die Eltern schnell genug reagiert und sie sofort ins Hospital gebracht, wo man ihr ein Mittel gegen die Allergie verabreicht hatte. Aber das hier sah nicht im entferntesten wie eine Krankenstation aus.
Um sie herum war alles grau, grau und grau. Vor ihr stand eine seltsam gekleidete Gestalt vor einem Fluss, auf dem man ein Boot sehen konnte. Die Gestalt drehte sich zu ihr hin und winkte sie ins Boot. Ela folgte der Aufforderung; womöglich halluzinierte sie ja?
Nachdem der Fährmann sie schweigend über den Fluss gerudert hatte, schritt sie munter aus. Vor ihr ersteckten sich blumenübersäte Wiesen, soweit das Auge reichte, und gleichwohl zarter Nebel alles bedeckte und der Himmel hinter einem Wolkenschleier verborgen war, gefiel es Ela doch gut. Es war ruhig, seltsam friedlich. Sicherlich war es nicht in der Umgebung ihrer Stadt, dachte Ela. Dann stand plötzlich ein Mann vor ihr, und kaum hatte sie sich wieder gefasst, als sich an seinem Arm eine Frau aus den Nebelschwaden schälte. Diese streckte ihr nun freundlich die Hand entgegen.
„Willkommen im Hades. Dies ist mein Mann Pluto, der Herrscher der elysischen Gefilde, und mein Name ist Proserpina. Wir hoffen, du wirst dich bei uns wohl fühlen. Dort hinten sind, wenn ich mich nicht täusche, einige Mitglieder deiner Familie, die schon ganz ungeduldig sind, Neuigkeiten von Oben zu erfahren.“
Und als Ela in die angezeigte Richtung blickte, sah sie die Großmutter, den Großvater, und eine ganze Gruppe von Leuten, die sie noch nie im Leben gesehen hatte. Sie war verwirrt. Hades? Da klingelte was, das verdächtig nach verpennter Schulstunde roch. Hatte das nicht mit den Griechen zu tun gehabt? Proserpina lachte.
„Nun, die Unterwelt gibt es immer noch, Engelchen. Aber du hast Glück gehabt, du bist hier gut aufgehoben. Wir haben erheblich unerfreulichere Gebiete, das kannst du mir glauben. Und nun geh und begrüße deine Verwandten.“
Das tat Ela, und als sie erst mal begriffen hatte, dass sie gestorben war, und sich vom damit einhergehenden Schock erholt hatte, fand sie heraus, dass es tatsächlich ganz okay war, hier, in der Unterwelt. Nur um Oh. tat es ihr leid – aber sie konnte sich ja schlecht wünschen, er stürbe auch, oder? Das wäre wohl kaum fair gewesen.

Eines Tages jedoch verdunktelten sich die Wolken am Himmel, und Blitze fegten hindurch. Die Familie war beunruhigt, so etwas war noch nie vorgekommen. Dann kam ein Bote, der Ela zu Pluto beorderte. Sie erschrak. Hatte sie etwas falsch gemacht und musste nun in die unerfreulichen Gebiete, von denen sie in der Zwischenzeit einiges Schreckliche gehört hatte? Mit einem mulmigen Gefühl im Magen machte sie sich auf den Weg.
Bei Pluto angekommen erwartete sie eine Überraschung. Dort stand Oliver, und er war tränenüberströmt. Pluto blickte ernst, Proserpina lächelte.
„Ihr kennt euch? Oliver hat einen langen Weg auf sich genommen,um hierher zu gelangen, und er wünscht sich, dich wieder mit in die Welt der Lebenden zu nehmen. Diesen Wunsch kann ich nicht erfüllen. Wer tot ist, ist tot. So sind nun einmal die Regeln.“
Oliver, der erschöpft und verzweifelt aussah, öffnete den Mund, aber Pluto schüttelt den Kopf. Doch Proserpina legte ihm eine Hand auf den Arm.
„So lass ihn doch sprechen.“ Und Pluto nickte, etwas ungnädig; es war ein offenes Geheimnis im Hades, dass er sich immer den Wünschen seiner Gattin fügte.
Aber Oliver sprach nicht, er sang. Er sang ein Liebeslied, dasjenige, das er in den drei Wochen ihrer Beziehung für sie komponiert hatte. Er sang so süß wie nie zuvor, von dem Glück und der Angst, sie wieder zu verlieren. Von seiner Verzweiflung und seiner Hoffnung, sie wiederzufinden. Je länger er sang, desto weicher wurde das Gesicht Proserpinas, und Pluto, der seine Gattin aufmerksam beobachtete, verdrehte die Augen. Er ahnte, was kommen würde. Und, in der Tat, als der Junge geendet hatte, drehte sie sich zu Pluto hin und sagte: „Ach, Schatz, mach doch mal eine Ausnahme. Wir haben Milliarden von Toten hier unten, was macht die Eine?“
Pluto, der seine Gattin glücklich sehen wollte, gab nach.
„In Ordnung,“ sagte er. „Du kannst Ela mitnehmen. Aber eine Bedingung gibt es zu erfüllen: Ihr folgt diesem Weg,“ er deutete auf einen lehmigen Pfad, der in der Wiese erschienen war, „und du, Oliver gehst voran. Bis ihr zum Ausgang der Unterwelt kommt, wirst du dich kein einziges Mal umdrehen oder mit Ela sprechen. Dann gehört sie wieder dir und deiner Welt.“
Oliver strahlte und nickte, ja. Und dann ging er los. Ela stand da und wusste nicht ein noch aus, entschied aber sofort, ihm zu folgen. Die Verwandten hatte sie zwar liebgewonnen, aber Oliver gehörte ihre wahre Liebe.
So liefen sie durch die Nebel, und je länger sie liefen, desto unruhiger schien Oliver zu werden. Mehrmals zögerte er, um dann doch weiter zu gehen. Als aber die drei Furien auftauchten und begannen, auf Ela einzureden, ihr vom Leid der zurückgelassenen Familie zu erzählen und von der Schlechtigkeit der Welt da oben, da wurden seine Schritte immer unsicherer. Schließlich blieb er stehen. Ela wollte schreien, nein, tu’s nicht, sie stellen dich nur auf die Probe, aber es war zu spät. Sie sah eben noch, wie er sich umwandte, dann fühlte sie einen Sog und die Umgebung löste sich auf in Nebel.
Die Verwandten begrüßten sie, als sei nichts gewesen, aber Ela wusste, sie würde hier die Ewigkeit verbringen. Und sie begann zu weinen.


Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 10.47 Uhr
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