Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Susanne Schubarsky IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
November 2003
How do you know you can’t swim until you have drowned?
von Susanne Schubarsky


The Beautiful South “Window Shopping for Blinds”

Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben verschlafen und lief zur U-Bahn-Station. In der Eingangshalle hörte ich bereits das vertraute, wie entferntes Donnergrollen klingende Geräusch eines einfahrenden Zuges. Ich beschleunigte noch ein wenig und bog in den langen Glaskorridor vor dem Abgang zur Plattform ein. Ich hatte es eilig, doch ich dachte trotzdem daran, mich weit rechts zu halten. So wie es sich für eine ordnungsbewusste Bürgerin mit starkem Drang zur Unauffälligkeit gehört.
Schon auf fünfzig Meter sah ich sie kommen: groß, schlank, graues Kostüm, perfekte Frisur, elegante Aktenmappe unter dem linken Arm, Handy ans rechte Ohr gepresst. Und sie kam genau auf mich zu.
Oh ja, sie hatte mich auch gesehen. Obwohl sie weiter heftig auf ihr Telefon einredete, wurden ihre Schritte noch bestimmter und ihre gesamte Haltung schrie mir zu: Hier komme ich! Ich bin wichtig! Und dabei fixierte sie mich unablässig.
Sie wusste genau, was sie tat. Ich konnte es ihren Augen ablesen, sah es deutlich in ihrem Gesichtsausdruck, in den wenigen Sekunden, bevor ich meinen Blick senkte. Sie wusste, dass sie auf der falschen Seite ging. Sie hatte vor, mich zum Ausweichen, zum Nachgeben zu zwingen. Es war einfach eines der vielen Machtspielchen, die sie als tägliche Selbstbestätigung brauchte, nichts Besonderes für eine Frau wie sie.
Für sie war völlig klar, dass ich tatsächlich ausweichen würde. Sie hatte es gesehen: am Senken meines Kopfes, am nervösen Blick zur Seite. Sie hätte sich die Mühe mit den beschleunigten Schritten und dem fixierenden Blick sparen können – ich würde ohnehin immer ausweichen. Genauso wie ich immer diejenige sein würde, die für alle anderen im Büro Kaffee kocht, und serviert. Genauso wie ich immer die letzte in der Schlange an der Supermarktkasse sein würde, die alle anderen vorbeilässt. Das Wort „Rechtsvorrang“ hatte ich sofort nach der Führerscheinprüfung aus meinem Vokabular gestrichen. Ich brauchte es nicht. Bei mir hatten immer alle anderen Vorrang. Ich versuchte einfach, Konflikte zu vermeiden. Das war mir wichtig. Das, und nicht aufzufallen. Das Leben war um so vieles einfacher, wenn man nicht auffiel. Dieses Motto hatte mich weit gebracht. Ich hatte mein nettes Zimmer bei Frau Kniesebach und meine drei geliebten Katzen. Was konnte man sich mehr wünschen?
Außerdem hätte alles andere Mut von mir gefordert. Nein, nichts für mich. Also hielt ich meinen Blick gesenkt und blieb so weit rechts wie möglich.
Wir waren nur mehr zehn Meter voneinander entfernt. Ich blickte auf und sah ihr triumphierendes Lächeln. Sie würde gewinnen, wie immer.
Fünf Meter.
Ich setzte zum Ausweichen an. Doch statt des vertrauten Gedankens war da plötzlich ein anderer: Nein.
Interessante Idee.
Drei Meter.
Wirklich interessant. Was würde geschehen, wenn ich –
Zwei Meter.

Ihr Lächeln war etwas unsicher geworden. Das Handy, das die ganz Zeit nicht von ihrem Ohr gewichen war, senkte sich etwas, und in ihre Augen trat ein leicht verwirrter Ausdruck.
Peng.
Ich lief mit voller Wucht in sie hinein. Sie hatte nicht die geringste Chance. Sie tat mir ja fast Leid, wie sie da so am Boden saß, inmitten ihrer verstreuten Utensilien. Die Aktenmappe hatte sich geöffnet und ihren Inhalt ringsum verstreut: Lippenstift, Nagellack, Maskara, Tampons, Taschentücher und eine Packung Kondome. Keine Akten.
Sie schüttelte verwundert ihren Kopf und war vermutlich nur wenig mehr überrascht als ich selbst.
Ich war nur kurz aus dem Tritt gekommen; schließlich hatte ich mich ja Sekundenbruchteile vorher auf den Zusammenstoß vorbereiten können. Und außerdem meine eigene Tasche im letzten Moment kurz angehoben und als Rammbock verwendet. Unterstützt von einem im richtigen Moment nach links weggestreckten Bein war das die perfekte Kombination für einen effektvollen Überraschungsangriff.
Ich hatte es einfach getan, ohne nachzudenken. In meinem Bauch breitete sich Wärme aus, aber nicht jenes Gefühl von Angst, das ich zur Genüge kannte, sondern ein ganz neues. Freude? Genugtuung? Egal. Es war ein tolles Gefühl und ich musste laut lachen.
Nach einem letzten Blick auf mein „Opfer“ drehte ich mich um und lief rasch zur Plattform, wo ich gerade noch meine U-Bahn erreichte, bevor sich die Türen hinter mir schlossen.

Susanne Schubarsky, November 2003

Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 11.26 Uhr
Dieser Text enthlt 4382 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.